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Chemnitz Acht Menschen melden Attacken

Es gibt unzählige Indizien für Gewalttaten in Chemnitz.

Chemnitz
Rechte jagen Gegendemonstranten in Chemnitz. Foto: rtr

Die Ermittlungsbehörden sind noch bei der Arbeit, mehr und mehr Gewaltopfer melden sich öffentlich zu Wort sowie bei den Behörden und selbst sächsische Polizisten haben ihre Überforderung während der Demonstrationen eingestanden und von einem Mob gesprochen. Und doch löste an diesem Freitag der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, eine hitzige Debatte darüber aus, was wirklich in Chemnitz geschehen ist – indem er seine Skepsis über Medienberichte und ein Onlinevideo aus der sächsischen Stadt zu Protokoll gab.

Der Verfassungsschutz habe „keine belastbaren Informationen“ über Hetzjagden in Chemnitz, sagte Maaßen der „Bild“-Zeitung. Und vor allem äußerte er mit Blick auf das Video den Verdacht, dass die Öffentlichkeit mit „gezielten Falschinformationen“ vom Mord in Chemnitz abgelenkt werden solle. Keine Belege für die Echtheit des Videos? Gründe für gezielte Falschinformationen? Die Frage steht im Raum, ob Maaßen von technisch manipulierten Videos sprach, von falsch zugeschriebenen oder wovon sonst.

Das Video, auf das er sich mutmaßlich bezieht und von dem die „Bild“-Zeitung ein Standbild zeigt, hatte der Twitter-Nutzer „Antifa Zeckenbiss“ am Abend des 26. August gepostet – es galt als erster Videobeleg für frühere Meldungen von Journalisten vor Ort, die von Angriffen auf Migranten berichtet hatten. Mehrere Augenzeugen hatten solche Attacken gemeldet, auch auf Twitter, darunter Lokaljournalisten. Der Account veröffentlicht regelmäßig Videos von verschiedenen Orten, die geografisch weit gestreut sind, also mutmaßlich aus zweiter Hand. Dort wird die Szene im Video als „Menschenjagd“ beschrieben: Zu sehen ist eine Gruppe, die so aggressiv auf einen jungen Mann in Jeans zugeht, dass dieser wegrennt. Rufe wie „Haut ab“ und „Ihr seid nicht willkommen“ sind zu hören. 

Bereits seit der Veröffentlichung haben mehrere Recherche-Initiativen geprüft, wann und wo der mutmaßliche Handyfilm aufgenommen wurde. Ein Kirchturm, Straßenschilder, eine Werbetafel und die Bebauung, die im Video zu sehen sind, finden sich in Satellitenaufnahmen wieder und zeigen, dass die Aufnahme in der Chemnitzer Bahnhofstraße an der Johanniskirche entstand. Wetter und Kleidung der Menschen passen zum 26. August in Chemnitz, Schatten und Sonnenstand verweisen auf den späten Nachmittag. Etwa zu dieser Zeit hatte bereits der freie Journalist Johannes Grunert, der für Zeit Online vor Ort war, von Übergriffen auf Migranten an diesem Ort geschrieben. 

Recherchen zum Video

Sogar der in dem Video angegriffene Mann ist inzwischen wahrscheinlich gefunden: Ein 22-jähriger Afghane namens Alihassan S. hat mit „Zeit“-Journalisten gesprochen und am 29. August Anzeige bei der Polizei erstattet. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden bestätigte eine Anzeige, wollte sich aber nicht zum möglichen Opfer äußern. Am Montag nach der Tat hatte die Polizei aber konsequente Ermittlungen angekündigt, auch für den Fall, „bei dem ein Mann in der Bahnhofstraße regelrecht verfolgt“ worden sei.

„Zeit“-Journalist Grunert hat inzwischen ein weiteres Video vom 26. August veröffentlicht, das eine gewisse Rola gefilmt habe. Auch sie zeigt Jagdszenen in Chemnitz. Rola selbst sei ebenfalls von Neonazis verprügelt worden.

Warum Verfassungsschutzchef Maaßen diese Indizien nicht für Belege der Echtheit hält und welche gegenteiligen er kennt, wollte seine Pressestelle am Freitag nicht erklären. Maaßen werde sich „aktuell nicht weiter zu dem Sachverhalt äußern“, antwortete sie. „Den von der ‚Bild‘ zitierten Aussagen ist derzeit nichts hinzuzufügen.“

Bei der Opferberatung in Chemnitz verfolgt man die Debatte fassungslos: „Die Diskussion ist absurd“, sagte ihr Mitarbeiter André Löscher der FR. „Sie geht total am eigentlichen Problem vorbei. Menschen wurden verfolgt, gejagt und angegriffen.“ Allein bei der Opferberatung hätten sich bisher acht Geschädigte gemeldet, die in der vergangenen Woche auf offener Straße attackiert worden seien. Insgesamt habe man 39 Fälle von Körperverletzung und Nötigung dokumentiert. Mindestens ein Fall eines Gejagten sei polizeibekannt, die Person habe Anzeige erstattet. „Ich verstehe nicht, warum Betroffenen in der Situation nicht geglaubt wird“, so Löscher. 

Die Generalstaatsanwaltschaft teilte der FR mit, dass sie 120 Ermittlungsverfahren zu den Ereignissen vom 26. und 27. August eingeleitet habe, unter anderem wegen Körperverletzung, Beleidigung, Landfriedensbruch und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. 

Wie viele Gewaltdelikte genau darunter waren, will man noch nicht sagen, weil es Täter gebe, die mehrfach straffällig geworden seien und verschiedene Anzeigen, die sich auf dasselbe Delikt bezögen. Auch das Videomaterial sei noch nicht fertig ausgewertet, ständig komme neues hinzu. 

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