Koordination wird im Training oft vernachlässigt. Das kann mit zunehmendem Alter problematisch werden. Eine ziemlich verrückte Schweizer Erfindung ermöglicht ein kurzes, spassiges Work-out.
Treiben Sie Sport! Diese Empfehlung gilt für uns alle, selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt: mindestens 150 Minuten Bewegung pro Woche. Und die Schweizer halten sich daran. Laut der Studie «Sport Schweiz» gaben 2020 nur gerade 16 Prozent der Schweizer Bevölkerung an, sie würden nie Sport treiben.
Doch was ist Sport? Die häufigsten Aktivitäten legen den Fokus auf Ausdauer (Joggen, Velofahren), Kraft (Fitnesscenter) oder Beweglichkeit (Yoga, Pilates). Oft ist es so, dass nur ein Faktor intensiv gefördert wird: Läufer traben unermüdlich durch die Landschaft, haben aber keine Zeit, auch noch Kraft und Beweglichkeit zu trainieren; im Fitnesscenter geht es vor allem darum, den idealen Körper für die Badi oder die Skinny Jeans zu formen.
Ein wichtiger Fitnessfaktor geht oft ganz vergessen, aber man merkt lange Zeit gar nicht, dass etwas fehlt: die Koordination. Doch mit zunehmendem Alter wird man zum Beispiel unsicher, wenn man im Winter auf dem gefrorenen Trottoir gehen muss, oder man spürt, dass man im Alltag immer wieder ein wenig das Gleichgewicht verliert.
Der Tipp, den wir dann bekommen: «Putzen Sie sich abwechselnd auf einem Bein die Zähne!» Das tönt simpel und wirkt auch, aber schon nach etwa vierzehn Tagen erzielt man keine grossen Fortschritte mehr. Hier setzt eine Schweizer Erfindung an, die immer häufiger in der Physiotherapie und in Fitnesscentern eingesetzt wird: Sensopro.
Die Idee dafür kam an einem fröhlichen Grillnachmittag auf. Kaspar Schmocker, damals Sportstudent, sass mit einer Gruppe im Garten. Dort war eine Slackline aufgespannt – ein schmales Band, auf dem man balancieren kann. Es wird seit Jahren als Trainings- und Sportgerät eingesetzt. Beim Grillieren diskutierte die Gruppe, wie man es schaffen könnte, die Slackline in ein transportables Trainingsgerät zu integrieren.
Heute steht ein solches Gerät in einer Physiotherapiepraxis in Abtwil. Es nennt sich Sensopro Luna und wirkt auf den ersten Blick wie ein Käfig ohne Gitter. In den unteren Rahmen sind zwei Bänder eingespannt, die aus einem ähnlichen Material bestehen, wie es beim Bau eines Trampolins verwendet wird. Stellt man sich darauf, fängt man an zu schwanken und muss das mit sanften Bewegungen ausgleichen.
Lukas Zenger ist Leiter Therapien bei Medbase in Abtwil. Er wählt auf einem vorne am Gerät montierten Touchscreen das Anfängerprogramm aus, dann kann er zuschauen, wie der Journalist sich abmüht. Ein Programm dauert maximal zehn Minuten, auf dem Bildschirm wird alles vorgemacht, der Sensopro ist also selbsterklärend. Für die verschiedenen Übungen greift man Gummizüge, die im Käfig aufgespannt sind, zieht und stösst und vollführt gleichzeitig auf den nachgebenden Bändern Bewegungen mit den Beinen.
Schon nach zehn Minuten spürt man, dass man den Körper vielseitig belastet hat. Der Physiotherapeut Zenger nennt als grossen Vorteil von Sensopro die permanente Instabilität, auf die man beim Training reagieren müsse. Man braucht dazu den ganzen Körper, von den Zehen bis zu den Fingern. Und das Gerät eignet sich für alle, Zenger hatte noch nie eine Patientin oder einen Patienten, der oder dem er die Benutzung nicht zugetraut hätte.
Stefan Glauser hat zusammen mit Kaspar Schmocker Sportwissenschaft studiert und arbeitet heute im Management der Firma Sensopro. Er sagt: «Wir haben ein Gerät gebaut, welches das Koordinationstraining einfach macht.» Man stellt sich in den Käfig, muss maximal drei Knöpfe drücken und kann sich immer wieder mit neuen Programmen herausfordern. Mehr als 2000 Übungen wurden für diese Programme schon gefilmt.
Koordination ist nicht nur eine Frage der Muskeln, sondern auch des Nervensystems und des Gehirns. Wenn man im Sensopro arbeitet, bewegt man Arme und Beine und schaut gleichzeitig, was im Video vorgemacht wird. Das bereitet Kopf und Körper darauf vor, auch im Alltag mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Davon profitieren selbst Spitzensportler.
Joshua Kimmich, Fussballer beim FC Bayern München, hat sich privat einen Sensopro angeschafft. Ihm sei es wichtig, neben dem Mannschaftstraining zusätzlich mit seinem Körper zu arbeiten, sagt er. Die Übungen auf dem Sensopro ermöglichten ihm eine sinnvolle Abwechslung in der Warm-up-Routine und ein zielgerichtetes Stabilitätstraining. «Durch die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade gehen einem die Übungen nie aus, und man hat immer wieder einen neuen Reiz.»
Der Physiotherapeut Zenger, der auch mit Spitzensportlern arbeitet, bestätigt das. Er würde den Sensopro nicht fürs eigentliche Krafttraining einsetzen, dafür gebe es effizientere Methoden. Aber er schickt die Athleten manchmal in den Pausen zwischen Kraftübungen in den Käfig, um das Gleichgewicht zu schulen. Ideal sei dieser zudem fürs Aufwärmen.
Das Training auf den schmalen Bändern hat sich auch in der Reha von Topathletinnen bewährt. Die Beachvolleyballerin Joana Mäder verletzte sich 2022 schwer an der Schulter und nutzte auf dem Weg zurück unter anderem den Sensopro, weil damit viele kleine Muskeln aktiviert wurden, die sie neu aufbauen musste.
Interessant ist, dass das Gerät inzwischen sogar in der Therapie eingesetzt wird. Frank Elstner, der erste Moderator der TV-Sendung «Wetten, dass . . .?», leidet unter Parkinson und hat in einer Klinik in Deutschland mit dem Sensopro messbare Fortschritte erzielt. Er nennt zwei wesentliche Punkte, die dazu beigetragen hätten: Das Training dauere nur zehn Minuten, und es mache Spass.
Das kann entscheidend sein, wenn es darum geht, im Alltag über längere Zeit regelmässig zu trainieren. Einer, der sich für das Gerät begeistert, ist Olivier Bernhard, einer der Mitbegründer der Sportartikelfirma On. Er ist an der Sensopro AG beteiligt, sitzt im Verwaltungsrat des Unternehmens und wirkt dort in der Strategie und der Innovation mit.
Der frühere Triathlet könnte noch einmal Teil einer verrückten Geschichte werden: Der erste On-Schuh wurde aus Gartenschläuchen gebastelt und ist heute global erfolgreich, Sensopro entwickelte sich aus einem Grillplausch und wurde für einen internationalen Innovationspreis nominiert, bevor überhaupt das erste Gerät verkauft war.