Bei einem israelischen Angriff sind laut palästinensischen Angaben Dutzende von Menschen getötet worden. Israel behauptet, im angegriffenen Gebäudekomplex habe sich ein Hamas-Kommandoposten befunden.
Die israelische Armee hat am frühen Samstagmorgen ein früher als Schule gebrauchtes Gebäude im nördlichen Gazastreifen angegriffen. Dabei sollen laut palästinensischen Angaben mehr als 90 Menschen ums Leben gekommen sein. Der Angriff zielte auf die Taabin-Schule im Viertel Daraj im östlichen Teil der Stadt Gaza. In dem aus Unterrichtsräumen und einer Moschee bestehenden Komplex findet derzeit kein Unterricht statt. Stattdessen waren dort laut lokalen Behörden viele Flüchtlinge untergekommen.
Ein Anwohner berichtete der amerikanischen Zeitung «The Wall Street Journal», er sei zu früher Stunde von einer lauten Explosion geweckt worden. Später habe er dann in dem beschädigten Gebäude überall tote Körper und Leichenteile gesehen, auch solche von Frauen und Kindern. Videoaufnahmen vom Ort des Angriffs zeigen eine zerstörte Halle und Helfer, die Verwundete und Tote wegbringen.
Israels Armee – die in letzter Zeit immer wieder Schulen im Gazastreifen ins Visier nahm – bestreitet, vorsätzlich Zivilisten angegriffen zu haben. Sie gab stattdessen an, in dem Gebäudekomplex habe sich ein Kommandoposten der Hamas befunden. Mehrere Hamas-Kämpfer sowie Angehörige der mit ihnen verbündeten Organisation Islamischer Jihad hätten sich darin aufgehalten. Mindestens 19 von ihnen seien bei dem Angriff getötet worden. Man habe vor der Militäraktion Massnahmen getroffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen.
Israel bestreitet zudem auch die von palästinensischen Stellen angegebene Opferzahl von über 90 Toten und bezeichnet sie als zu hoch. Eigene Zahlen präsentierte es – bis auf die angeblich getöteten Kämpfer – jedoch bisher keine. Wie so oft im seit zehn Monaten andauernden Krieg zwischen Israel und der Hamas, der mit dem Terrorangriff der Islamisten auf Israel am 7. Oktober begonnen hat, lassen sich die Angaben beider Seiten nicht unabhängig überprüfen.
Israels jüngster Schlag löste im Ausland eine Welle der Empörung aus. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell nannte den Angriff ein Massaker. Neben den üblichen Verurteilungen aus arabischen Ländern kamen auch verärgerte Reaktionen aus Washington. «Wir sind zutiefst besorgt über die Berichte über zivile Opfer», schrieb ein Sprecher des Weissen Hauses in einer Mitteilung. Man wisse, dass die Hamas aus Schulen operiere. Israel müsse aber alles unternehmen, um ziviles Leid zu verhindern.
Der Vorfall in Gaza kommt für Washington zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Seit Tagen versuchen die Amerikaner einen drohenden Schlagabtausch zwischen Israel und Iran zu verhindern, der den Nahen Osten in einen regionalen Krieg stürzen könnte. Nachdem Israel einen mutmasslichen Hizbullah-Angriff auf die Golanhöhen mit einem Schlag gegen einen hohen Funktionär der Miliz in Beirut beantwortet und fast zeitgleich den Hamas-Chef Ismail Haniya in Teheran getötet hatte, kündigten Iran und seine Verbündeten umgehend Vergeltung an.
Seither warten Israel und seine amerikanischen Verbündeten auf mögliche Gegenschläge aus Teheran und Beirut. Washington hofft allerdings, diese noch vermeiden zu können – mit einem Durchbruch bei den stockenden Verhandlungen um einen Gefangenenaustausch und einen Waffenstillstand in Gaza. Präsident Biden hatte die Hamas und Israel daher einmal mehr mit Nachdruck an den Verhandlungstisch gebeten. Der jüngste Angriff in Gaza macht diese Bemühungen aber nicht leichter.
Bereits zuvor hatten sowohl die Hamas als auch Israels Regierung den Fortschritt der Gespräche immer wieder mit zusätzlichen Forderungen blockiert. Biden und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu waren sich deshalb offenbar in die Haare geraten. In einem Interview mit dem Magazin «Time» versuchte der unter Druck stehende Netanyahu die Wogen dann zumindest ein bisschen zu glätten.
Gleichzeitig schoss sein rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich weitere Giftpfeile in Richtung Washington und nannte ein mögliches Abkommen eine Kapitulation. Auf der anderen Seite hat die Hamas nach dem Tod Haniyas ausgerechnet Yahya Sinwar zu ihrem neuen Politbürovorsitzenden gemacht – den mutmasslichen Hauptverantwortlichen für das Massaker vom 7. Oktober. Er gilt als Hardliner und als gleichgültig gegenüber zivilen Opfern. Allerdings haben Hamas-Kader im Exil betont, weiterhin für Verhandlungen offen zu sein.
Gemeinsam mit Katar und Ägypten wollen die Amerikaner versuchen, im Verlauf der nächsten Woche doch noch einen Durchbruch bei den Gesprächen zu erzielen. Zuvor hatte Iran durchblicken lassen, im Falle eines Waffenstillstands möglicherweise auf einen Gegenschlag zu verzichten. Auch deshalb haben die Amerikaner ein Interesse daran, dass Angriffe wie derjenige vom Samstag in Zukunft möglichst unterbleiben.