Die Deutschen gefallen sich auf der internationalen Bรผhne als โVorreiterโ. Frรผher einmal sollte die Welt โam deutschen Wesenโ genesen. Heute zieht man mit erhobenem Zeigefinger als gefรผhlter moralischer Weltmeister durch die Lande โ vom Klimaschutz bis zu den Menschenrechten.
Wรคren wir nicht so sehr damit beschรคftigt, unseren eigenen Nabel zu beschauen, wรผrden wir sehen, dass die Rolle des Vorreiters schon lange von einer anderen europรคischen Nation besetzt wurde.
Die alten Rรถmer waren mit ihrem Weltreich Vorreiter der Globalisierung. Die Italiener betrieben schon im Mittelalter Banken und doppelte Buchfรผhrung. Benito Mussolini war der Pionier des Faschismus, der Adolf Hitler inspirierte. Silvio Berlusconi lieferte im Stil des rรถmischen Volkstribuns Clodius Pulcher die Vorlage fรผr Donald Trump. Die Italiener stimmten schon 1987 fรผr den Ausstieg aus der Kernenergie, den Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Vierteljahrhundert spรคter in Deutschland nachvollzog.
Zeit des links-grรผnen Moralismus und der Brandmauern โgegen rechtsโ ist vorbei
In Italien kollabierte das Parteiensystem der Nachkriegszeit in den frรผhen 1990er-Jahren. Die Wucherung der Bรผrokratie und die Staatsverschuldung sind schon lange berรผhmt und berรผchtigt. Statt der D-Mark wurde die italienische Lira zur Blaupause des Euro. Und wie frรผher die Banca dโItalia navigiert heute die Europรคische Zentralbank zwischen den Aufgaben, den Staatsbankrott zu verhindern und den Kaufkraftverfall der Wรคhrung abzumildern.
Blicken wir nach Italien, kรถnnen wir unsere Zukunft erahnen. Die Zeit des links-grรผnen Moralismus und der Brandmauern โgegen rechtsโ ist vorbei, und aus den Trรผmmern ist eine konservative Mitte-Rechts-Regierung entstanden. Georgia Meloni wird in Deutschland oft als โpostfaschistische Wรถlfin im Schafspelzโ dargestellt. Aber kein Politiker mit gesundem Menschenverstand โ und den kann man Meloni nicht absprechen โ wรผrde in die Fuรstapfen des auf ganzer Linie gescheiterten Mussolini treten wollen.
Bei den Europawahlen hat sich in Italien die (sozialdemokratische) Partito Democratico klar als stรคrkste Kraft der Opposition etabliert. Die Grรผnen spielen nur noch eine kleine Rolle.
Fรผr Deutschland heiรt das, dass CDU und CSU auch den Protestwรคhlern ein Angebot machen mรผssten, die aus Verรคrgerung รผber den links-grรผnen Moralismus zur AfD gelaufen sind, um kรผnftig eine liberal-konservative Regierung anfรผhren zu kรถnnen. Und die SPD mรผsste sich in der Opposition auf ihre Wurzeln besinnen.
Der Wegweiser Italien zeigt auรerdem, dass das Zeitalter des Wirtschaftswachstums auch fรผr uns vorbei sein kรถnnte. Seit 17 Jahren ist das italienische reale Bruttoinlandsprodukt nicht mehr gewachsen. Die Wirtschaft im Land hat es nicht geschafft, sich erfolgreich an das digitale Zeitalter anzupassen.
Bei uns herrscht seit 2019 Stagnation. Es scheint, dass uns die italienische Krankheit mit Verspรคtung erreicht hat. Verursacht wird sie von einem aufgeblรคhten Staat, der im Zusammenspiel mit den Institutionen der Europรคischen Union ein Bรผrokratiemonster geschaffen hat. Der Staat lรคhmt die Wirtschaft und entzieht ihr mit hohen Steuern und Abgaben die Lebenskrรคfte.
Bisher wirkt es nicht so, als wรผrde die Regierung Meloni den Staat schlanker machen und das Bรผrokratiemonster bezwingen. Der nรคchsten von CDU und CSU gefรผhrten deutschen Regierung kรถnnte es รคhnlich ergehen. Es sei denn, sie raffte sich dazu auf, das Motto aus Tomasi di Lampedusas Roman โIl Gattopardoโ ernst zu nehmen: โWenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich รคndern.โ
Thomas Mayer ist Grรผndungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute.