Freitag, 12. Juli 2024

Alles oder Nichts: Spaß beiseite, der Krieg kommt

Die Geschichte wiederholt sich auch in den Schlagzeilen.

Das erste Opfer des Krieges ist immer die Friedensbewegung. Sie stirbt noch vor der Wahrheit, weil sie sich nicht mehr trauen darf, zu sagen, was sie zu glauben meint. Vaterlandsverräter! Hundsfott! Fünfte Kolonne!, ruft es dann. Im Juli 1914 organisierte die Friedenspartei SPD noch engagiert Massendemos gegen den drohenden Waffengang, sie rüttelte die Zivilgesellschaft auf und führte breite Bündnisse zusammen. Wenige Tage später stimmte die Partei einem Burgfrieden mit den Kräften der Reaktion und den Kriegskrediten zu. Ein paar Abgeordnete äußerten wohl intern Bedenken. Aber die Parteidisziplin!

Blut ist dicker

Blut ist dicker als Wasser, Wurzeln und Wohnort lassen es richtig erscheinen, der Regierung die finanziellen Mittel in die Hand zu geben, dem mächtigen und raubgierigen Russland dort weit im Osten die Stirn zu bieten. Die Herrschenden sollten ruhig wissen, dass das internationale Proletariat den Krieg aus tiefster Seele verabscheut. In der Stunde der Not aber Gewehr bei Fuß steht und bereit ist, seinen Platz im Schützengräben einzunehmen. Es herrsche Aufbruchstimmung bei der Nato, freute sich die "Tagesschau" schon kurz nach Kriegsbeginn. Eine erneute "letzte Mahnung an Russland". Die Älteren erinnern sich.

Der "Spiegel" ruft zu den Waffen.

Im Sommer 1914 erwarteten die Kriegsparteien einen kurzen Krieg und die Soldaten glauben, bis Weihnachten wieder zu Hause zu sein. Hundert Jahre später soll es ganz ohne Fronteinsatz zum Sieg gehen. Die "härtesten Sanktionen aller Zeiten" (von der Leyen) würden dafür sorgen, dass der Angreifer bald bankrott sein wird. Nur eine "Frage der Zeit" sei das. Die aber zieht sich und sie zieht sich. An der Ostfront herrscht diesmal nie Kriegsbegeisterung, mittlerweile aber ist das blutige Ringen um hier einen Kilometer und dort einen anderen zu einem leisen Hintergrundgeräusch abgeschwollen.

Auflösung des Stellungskrieges

Wie damals ist es ein Stellungskrieg geworden. Die Soldaten liegen sich gegenüber, können aber kaum Geländegewinne erzielen, die angesichts der räumlichen Ausdehnung der Ukraine von Bedeutung sind. Seit Monaten schon verändert sich der Frontverlauf nur noch wenig. Die Meldungen über russische Verluste werden immer akkurater, der Umstand, dass über ukrainische Tote und Verletzte keine gibt, erscheint inzwischen als vollkommen normal. Der Krieg ist immer da. Aber er hat kein Gesicht, abgesehen von dem des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dessen Auftritte wie das ganze Ringen seines Landes ums Überleben nur mehr ohne großes Interesse zur Kenntnis genommen wird.

Die Nato, die mit der EU um das Verdienst ringt, Europa soundsoviele Jahre Frieden beschert zu haben, war bisher entschlossen, die Schlacht mit Hilfe von Geld zu gewinnen. Würden Milliarden Euro und Dollar auf den Ausschlag geben, hätte schon der laufende Nato-Jubiläumsgipfel in Washington eine einzige Siegesfeier werden müssen: 186 Milliarden Dollar Hilfe weist der Ukraine Support Tracker der Universität in Kiel im Moment aus. Und die gesamte Summe hat gerade gereicht, den Ukrainer zu helfen, den Krieg nicht zu verlieren.

Mobilmachung im "Spiegel"

Das ist kein Zustand, nein. "Der Westen muss klären, ob er zum Krieg gegen Putin bereit ist", hat Markus Becker jetzt im "Spiegel" klargemacht, dass Kriegstüchtigkeit das eine ist, die Bereitschaft, selbst an die Front zu gehen, aber noch mal etwas anderes. "Wie weit will die Nato gehen, um die Ukraine zu verteidigen?", fragt der Spiegel-Mann, als hätte er die Programmplanung des Nato-Gipfels injiziert bekommen. Er antwortet nicht, aber das tun die vielen älteren Herren in Washington und die paar wenigen Damen unter ihnen auch nicht. 

Becker führt es darauf zurück, dass "die Suche nach einer Antwort besonders für die Deutschen schmerzhaft" werde. Die Suche. Nicht die Antwort. Die wäre nämlich tödlich: Wenn der Russe kommt, ist alles klar, man wird sich verteidigen müssen. Doch was, wenn er wegbleibt? So dass er jederzeit kommen könnte? Der Nato-Westen steckt in einem unauflösbaren Dilemma: Seit Jahren sagt er Russland mit allerlei Zeichen und klaren Signalen, dass das alles so nicht geht. Und die Nato deshalb bald und wirklich und ganz klar etwas tun wird, von dem sie selbst sichtlich nicht weiß, was es sein könnte. Am Ende sagt sie dann noch mal, dass es so nicht geht, und dass sie bald und diesmal wirklich...

Schwimmer mit gebundenen Händen

Der südalbanische Philosoph Enes Dibra hat einmal geschrieben: "Wenn einem die Hände gebunden sind, sollte man nicht ankündigen, schwimmen zu gehen, denn die Leute im Dorf lachen sonst". Beim Spiegel wie bei der Nato geht also darum, mit leeren Händen zu drohen und eine furchterregende Miene zu Russlands bösem Spiel zu machen. Pentagon-Chef Lloyd Austin schaffte das idealtypisch, indem er  sagte: "Wir werden uns nicht in Putins Krieg hineinziehen lassen, aber jeden Zoll der NATO verteidigen." Weil nämlich, falls dieser eigentliche Zweck der Nato-Gründung irgendwo vergessen worden ist, "ein Angriff auf einen Verbündeten sei einen Angriff auf alle" darstelle. 

"Klare Grenzen zeigen", heißt das im Propagandageschäft, in dem Kriege mit Ankündigungen, Drohungen und der Verschiebung imaginärer Truppen auf den Landkarten in den Generalstäben geführt werden. Roderich Kiesewetter, ein Sofakrieger der CDU, der hofft, im kommenden Jahr Verteidigungsminister werden zu können, will "all in gehen bei der Unterstützung für den Sieg der Ukraine" mit "mehr Geld und schnellerer Hilfe". Stolz zeigt die Nato ihre "Muskeln" (n-tv). Ein Pykniker, der einen Athletiker spielt.

Der Nato-Chef hat angekündigt, jederzeit "binnen 30 bis 100 Tagen" eine halbe Million Männer mobilmachen zu können, um die auf rund 5.000 Kilometer Länge gestreckte Ostflanke des Bündnisses zu verteidigen. Das wären wären 200.000 mehr als vor zwei Jahren dort auf Wacht standen, allerdings immer noch nur 100 Mann pro Kilometer. Obwohl nach Überzeugung von Militärexperten wenigstens 300 allein für die erste Linie nötig wären, weil "Verteidigung sonst nicht möglich" (n-tv) ist.

Neue Stufe der Eskalation

Die USA sorgen vor. Im Zuge einer neuen Stufe der Eskalation, ausgelöst durch die Diskussion um die sogenannten "Altersbeschwerden" des amtierenden US-Präsidenten, kündigte das Weiße Haus die "Verstärkung der Abschreckung" in Europa durch die Stationierung von Marschflugkörper in Deutschland an. Neben "Tomahawk"-Raketen und Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 soll Deutschland auch Basis werden für die Widerlegung des Faktenchecks, in Deutschland würden keine "neuen Überschallwaffen mit deutlich weiterer Reichweite als gegenwärtige landgestützte Systeme in Europa" stationiert. Nun doch: Diese Cruise Missiles sind in der Lage, 15 Minuten nach dem Abschuss Moskau zu treffen. 

Wenn das dem Kreml keine Lehre ist, dann wissen sie auch nicht. Als Zeitpunkt der Stationierung der neuen Erstschlagskapazität auf deutschen Boden ist das Jahr 2026 angekündigt, womöglich, um Putin Zeit zu lassen, sich alles anders zu überlegen. Womöglich aber auch, weil das Nato-Tempo einen ähnlich flotten Marschtakt vorgibt wie die Deutschland-Geschwindigkeit, bei der im Sturmschritt Stiefel besohlt werden können. Die Ungewissheit darüber, was es ist, wird Putin in den kommenden Monaten zweifellos plagen. Es könnte sein, er überlegt es sich deshalb anders und zieht seine Truppen zurück. 

Trommeln und Pfeifen

Das Getrommel, dass die Nato anderenfalls bald und dann wirklich und jetzt aber noch mehr auf jeden Fall und mit klaren Signalen alles und noch weit deutlicher... erschreckt den Kreml so sehr wie ein Hase den Wolf im Hühnerstall. Es sind Botschaften an die eigene Bevölkerung, Gewöhnungsübungen zur inneren Mobilmachung. Wer genau hinhört, erkennt ein Pfeifen im Wald, denn so laut die Nato auch trommelt und pfeift: Es gibt keine Alternative zu diesen beiden: Greift Putin ein Nato-Land an, beginnt der Dritte Weltkrieg. Tut er es aber nicht, bleibt es bei einem regional begrenzten Stellvertreterkrieg zwischen der Ukraine und Russland.

Donnerstag, 11. Juli 2024

Baerbocks Abschied vom Kanzleramt: Niemals geht man so ganz

Mit solchen vom Hoffotografen in Serie produzierten Bildern hat sich Annalena Baerbock bei vielen Deutschen einen Namen gemacht. Gemälde nach einer Fotovolage: Kümram, Ocker auf fliegender Leinwand

Sie wählte die große Bühne, um dem kleinen Land Bescheid zu stoßen. Im US-Fernsehen ließ Außenministerin Annalena Baerbock die Bombe platzen: Nein, sie wird in 15 Monaten nicht noch einmal als grüne Kanzlerkandidatin antreten. Das war's. Es ist entschieden. Partei und Wahlvolk müssen diesmal ohne sie auskommen.

Kein Einknicken vor Habeck

Nein, diese Entscheidung hat nichts mit ihrem ersten, skandalumwitterten Anlauf aufs Kanzleramt zu tun, nichts mit den seitdem dramatisch eingebrochenen Umfragewerten ihrer Partei und nichts mit den Ansprüchen ihres Ministerkollegen Robert Habeck, der 2021 auf den Kandidatentitel verzichtet hatte, nun aber schon seit Monaten gewogene Medienarbeiter für seine #Habeck4kanzler-Kampagne trommeln lässt. Annalena Baerbock gibt selbstverständlich auch nicht klein bei vor Hetze, Hass und Zweifel.

Es ist die "Verantwortung fürs Ganze", wie die grüne Parteivorsitzende Ricarda Lang die von der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt noch kaum erwartete Entscheidung über die Kanzlerkandidatur ihrer 13-Prozent-Partei gelobt hat. "Eine Außenministerin wie sie wird im Moment so sehr gebraucht wie vielleicht noch nie", reimte Lang zum Baerbock-Rücktritt, um Kritikern bei eigentlich fest verbündeten Medien den Wind aus den Segeln zu nehmen. 

Eben noch war die Außenministerin so sehr als Fußballfan gefragt gewesen, dass viele glaubten, sie nähme noch einmal Anlauf auf das Kanzleramt. Aber Irrtum. Die Inszenierung Baerbocks als volksnahe Nationalistin war ein Ablenkungsmanöver. Noch einmal flogen ihr die Herzen zu. Umso größer ist nun die Enttäuschung, dass sie nicht mher Kanzlerin werden möchte, jedenfalls nicht im mkommenden Jahr.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit

Dass sie es nicht doch hätte werden können, stand ja noch gar nicht fest. Und sich gerade dann in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, wenn die westliche Welt gebannt auf den Nato-Gipfel schaut und Mitteilungen über dessen Entscheidungen zum Schicksal Europas bang erwartet, spricht dafür, dass die frühere Trampolin-Springerin immer noch das Gefühl für Timing hat, das man nicht lernen kann.

Einerseits ist es ein Abschied. Auch wenn sie formal nie im Rennen um die grüne Spitzenkandidatur im kommenden Jahr war, hätte Annalena Baerbocks reine Existenz die Schlagzeilenmaschine noch über Monate hinweg füttern können. Nun bräuchte es im Bundesklimawirtschaftministerium die Erkenntnis, dass ein Bundesklimawirtschaftsminister wie Robert Habeck "im Moment so sehr gebraucht wie vielleicht noch nie" (Ricarda Lang), um den Wettbewerb um die Frau oder den Mann neu zu öffnen, der  an einem Sonntagabend im September schmerzlich eingestehen wird, dass "wir es leider nicht geschafft haben", sie oder er aber trotz des bitteren Ergebnisses allen Wählerinnen und Wählern, aber auch den wackeren und unermüdlichen "Wahlkämpfern meiner Partei" danken wolle.

Nato-Gipfel in den Schatten gestellt

Annalena Baerbock wird es nicht sein, erstmal. Doch noch im Gehen hat die 43-Jährige bewiesen, über welch ein Pfund die kriselnden Grünen mit ihr verfügen: Einem Nato-Gipfel, auf dem anlässlich des 75-Geburtstages des Bündnisses über Krieg und Frieden entschieden wird, komplett die Show zu stehlen, indem man auf einen Job verzichtet, der einem weder angeboten wurde noch schon ausgeschrieben war, hätten nur ganz, ganz wenige Menschen vermocht.

"Respekt, dass sie gerade in diesen stürmischen Zeiten all ihre Energie darauf konzentrieren will!", hat die offensichtlich ebenfalls verblüffte Parteichefin Ricarda Lang angesichts von Baerbocks Entscheidung applaudiert, ihre Zeit ihrem Amt zu widmen. Ihr Kollege Omid Nouripur träufelte einige Tropfen geharnischter Kritik in den Abschiedstrunk für die Außenministerin, den er gekonnt mischte mit einem großen, unverschnittenen Schluck Zweifel daran, wo Deutschland ohne Baerbock stände. "Kaum jemand verkörpert aktive europäische Außenpolitik so wie Annalena Baerbock", schrieb er, "dank ihr ist Deutschland ein verlässlicher Partner in der Welt."

Ohne sie sieht es finster aus. Eine Alternative für Deutschland gibt es nicht, ein Fakt, den die Deutschen erst zu spüren bekommen werden, wenn Annalena Baerbock sich nun nur noch auf ihre Aufgabe als Außenministerin konzentriert. Alle Hoffnungen aller ruhen nach dem "Kanzler-Kracher" (Bild) nun auf Robert Habeck. Sollte auch er verzichten, stünde Deutschland vor einer Wahl zwischen Olaf Scholz, Friedrich Merz, Alice Weidel und Sahra Wagenknecht. Die Folgen wären unabsehbar.

Das große Nehmen: Es mache uns der Staat Gurkensalat

Wenn erst alle vom Bürgergeld leben, leben alle gleich und niemand ist mehr reich, weil es alle sind.

Haben ist besser als klagen, nehmen seliger denn geben. Die Linke, die einmal für Eigenverantwortung und ein Leben möglichst ohne Staat stand, hat sich weiterentwickelt. Seit sie selbst an den Schalthebeln sitzt, soll die Obrigkeit alles richten: Die Anweisungen zum Heizungsumbau ergehen zentral, die Dämmung von Häusern, die Frequenz notwendiger Impfungen, die Antriebsart des privaten Autos und der Umfang zulässiger Sparvermögen, sie stehen unter Zustimmungsvorbehalt.  

Das tut keinem weh

Wo eben noch Richtgeschwindigkeit empfohlen wurde, soll streng geregelt werden. Einmal in der Woche kein Fleisch, das tut doch für den Anfang niemandem weh.  Und wenn das Geld nicht reicht, dann fällt den Aktivisten und Engagierten immer schnell eine Möglichkeit ein, wo - aus Gründen der Gerechtigkeit - etwas zu holen sein muss. Bei den Erben lässt sich sicher zugreifen, denn wenn der Besitzer tot ist, freut sich der Hinterbliebene auch über Brosamen. Auch die Reichen vom sparsamen Facharbeiter aufwärts blieben wohlhabend, wenn sie vom Zins auf ihr Erspartes nicht mehr nur 25 Prozent plus Solidaritätszuschlag für den guten Zweck gäben, sondern die Hälfte und Jahr für Jahr ein Prozent vom Bestand. Dann  wird die Erbschaftssteuer am Ende auch nicht mehr so teuer.

Aus den einstigen Spontis, die Selbstverwaltung und Anarchie predigten und aus dem Staat Gurkensalat machen wollten, sind heute die geworden, die darauf warten, dass der Staat ihnen Gurkenaslat macht und serviert. Er ist doch groß. Er ist doch mächtig. Er hat das Primat für Gurkensalat. Immer, wenn es irgendwo nicht weitergeht, und es geht oft nicht weiter, immer, wenn eine Rechnung nicht stimmt oder etwas nicht klappt, wenn etwas fehlt, wenn etwas zu früh kaputtgegangen oder nicht fertiggeworden ist, sind sie sofort zur Stelle und fordern, der Staat müsse nun aber "Geld in die Hand nehmen". 

Staatliche Spontis

Geld, das ihrer Vorstellung nach auf irgendwelchen Weiden wächst und nur gepflückt werden muss. Geld, das in den verschwiegenen Tresoren der "Hochvermögenden" liegt und dort immer mehr und mehr wird, während alle anderen immer weniger haben. Es ist eine Art Geld, von dem es unendlich viel gibt, aber nur, wenn man es will. Und wie sie wollen! Ausgerechnet dort, wo Geld nie etwas gezählt hat, weil der Strand unter dem Pflaster und Solidarität die Zärtlichkeit der Völker, geht es ans Eingemachte derer, die noch etwas im Keller haben.

Umverteilung durch eine gerechte Macht, das ist die Vorstellung der zentralen Aufgabe eines Staates, die die Avantgardisten heute vertreten, die in ihren jungen Jahren darauf warteten, dass der Staat endlich abstirbt. Als das nicht geschah, stellten sie sich der Aufgabe, das Ruder des Schiffes zu übernehmen, weil nur sie das Ziel kannten. Daran hat sich wenig geändert, so dass Geld heute nötig ist, um junge und alte Leute zum Mitreisen zu bewegen: Um alle mitzunehmen, dorthin, wohin sie vielleicht gar nicht wollen, muss jeder bezahlt werden. 

Einsicht ist Freiheit

Kein Unding, denn wer Zugriff hat auf die Ressourcen jenes geheimnisvollen Staatsverwaltungswesens, das seinen Bürgerinnen und Bürgern im Alltag meist als kaputte Straße, verspäteter Zug, geschlossene Behörde oder Engpass in der Bundesdruckerei begegnet, kann mit vollen Händen nehmen. Verbote sind dann Bedingung für Freiheit, die aus der Einsicht in die Notwendigkeit wächst, wie Friedrich Engels bei Hegel gelesen haben wollte. 

An Hitlers Geburtstag forderte die scheidende Führung der Linkspartei, "Milliardär*innen abschaffen, Vermögenssteuer wieder erheben", zwei Monate später schon entdeckte der mittlere Mainstream, dass der nach einem Verfassungsgerichtsurteil zur Gleichbehandlung verschiedener Vermögensarten notwendig gewordene Wegfall der Vermögenssteuer den Staat 360 oder 300 Milliarden gekostet hat - 14 im Jahr, nicht viel mehr also als der Staat mit einem Federstrich in der Pfeife raucht, wenn ihm danach ist. Doch wenn es "Zeit wird, dass wir diese Ungerechtigkeit beenden", muss "jeder seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten", auch die, die bereits die Hälfte ihres Einkommens an Steuern und Abgaben zahlen.

Eine Mehrheit dafür

Eine Mehrheit ist dafür, natürlich, eine Mehrheit ist regelmäßig auch für die Todesstrafe, in kulturinteressierten Kreisen allerdings nur für die für "Kinderschänder" und russische Kriegsverbrecher. In einer von Neid zerfressenen, obrigkeitshörigen und intellektuell phlegmatischen Angstgesellschaft wird der staatliche Durchgriff in die Hosentasche der Bürger als angenehmes Kraulen empfunden. Nimm mir, ich hab schon, feiert die Kulturelite noch den dreistesten Rückbau an Eigenverantwortung und Wohlstand öffentlich als Gnadenakt. 

Dass Olaf Scholz, Robert Habcek, Christian Lindner und Karl Lauterbach ebenso wie ihre Vorgänger Geld weitaus "besser ausgeben" (Jens Stoltenberg) können als es jeder kleine Privatmann und seine Privatfrau vermag, zeigen schon die Zustände im "Land, das einfach funktioniert". Kein Häuselbauer, welcher Kleingärtner oder Modellbahnbauer würde es je schaffen, mit doppelt so viel Einnahmen und doppelt so hohen Krediten wie vor 25 Jahren über ein doppelt so großes Haushaltsdefizit wie vor 25 Jahren zu klagen, für den Fall noch höherer Ausgaben aber ein Wachstum verspricht, das bei einem Sechstel des Wachstums von vor 25 Jahren liegt.

Nur der Staat kann das

Nein, was der Staat kann, kann nur der Staat, dieser Satz des alten sozialdemokratischen Kämpen Franz Müntefering gitl mehr denn je. Das Aufkommen aus einer Vermögenssteuer, die "Milliardär*innen" (Janine Wissler) abschafft, aber in der Breite auch die berühmten Tessiner Villen der Facharbeiter*innen heranzieht, um das Gemeinwohl  noch besser zu finanzieren, wäre heute ausreichend, die Personalausgaben des Bundes komplett abzudecken. Damit das so bleibt, müsste sie nach Einführung umgehend dynamisiert werden: Um etwa dreieinhalb Prozent steigen müsste die neue Vermögenssteuer jährlich, um ihre Aufgabe zu erfüllen. 

Ein Vermögenssteueraktivist wie der Fernsehmoderator Jan Böhmermann, der aus der Demokratieabgabe für den Gemeinsinnfunk ein Jahreseinkommen von geschätzten 680.000 Euro erzielt, hätte dann bei gleichbleibenden Einkünften in zehn Jahren nicht mehr wie heute rund 303.000 Euro Einkommenssteuern plus Solidaritätszuschlag zu zahlen. Sondern 427.000 Euro. 


Mittwoch, 10. Juli 2024

Kampfansage aus Europa: Aufbruch ins All

Die Ariane 6 ist ein neuer Nostalgie-Nachbau des Aggregats 4, das vor 85 Jahren als erstes menschengemachtes Objekt von Peenemünde aus den Weltraum flog.

Glücklich lagen sie sich in den Armen, endlich war es geschafft. Die Rakete Ariadne 6 erlaubt es Europa wieder, ganz allein ins Weltall zu gelangen - der mächtigste Wirtschaftsraum der Erde ist damit wieder auf Augenhöhe mit den USA, mit China, Russland und Indien. Der Jubel war unüberhörbar, die Erleichterung nicht zu übersehen. 

Die Rückkehr ins All ist viel mehr als nur die Wiederholung einer technischen Großtat, die vor 85 Jahren unter der Leitung von Wernher von Braun mit dem Aggregat 4 (A4) zum ersten Mal gelungen war. Sie ist auch ein Zeichen an den Rest der Erde: Europa kann es noch. Europa ist noch da. Europa, vor 14 Jahren mit der unvergessenen "Lissabon-Strategie" auf dem besten Weg, sich selbst bis zum Jahr 2020 in den wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu verwandeln, kann immer noch, was es 1939 konnte.

Neustart des Pannenkontinents

Die EU, im Ausland oft als "Pannenkontinent" verhöhnt und ungeachtet ihrer Selbsteinordnung als moralische Weltmacht neugierig dabei beobachtet, wie sich eine Gruppe von hochindustrialisierten Staaten durch eine Vereinigung in Bürokratie und Behäbigkeit zielstrebig selbst in Entwicklungsländer verwandeln, hatte nach langem Warten einen Punkt gesetzt.  

Nach einem ganzen Jahr ohne Starts fliegt sie wieder, hoch hinaus und stolz. Dabei ist die neue Rakete Ariane 6 ein echtes Europa-Kind: Sie wurde vier Jahre zu spät fertig, die Entwicklung war viel teurer als geplant und das 2014 ausgegebene Ziel, künftig einen Raumflug für nur etwa 70 Millionen Euro abwickeln zu können, wurde um den traditionellen Europa-Multiplikator 2 verpasst: Ein Ariane-Start wird für 160 Millionen zu haben sein. Das ist etwa das, was ein Flug mit dem Vorgängermodell Ariane 5 kostete.

Auf der Höhe der Zeit

Wenigstens ist die Ariadne 6 aber auf der Höhe der Zeit. Der neue Europaflugkörper wird von unzähligen beteiligten Firmen in der ganzen EU zusammengeschraubt, eifersüchtig haben sie die einzelnen Nationen Anteile ausgehandelt: Das eine Teil wird durch gelötet, das andere da geschweißt, alles zusammen wird an schleißend von Kompetenz-Clustern zu Kompetenz-Cluster mehrfach quer über den Kontinent transportiert und schließlich zum sogenannten französischen Überseegebiet Französisch-Guayana verschifft, eine umbenannte französische Kolonie, in der sich das ESA-Raumfahrtzentrums Centre Spatial Guyanais befindet.

Globaler geht es nicht. Die Ariane 6 ist halb so groß wie eine "Falcon Heavy" des US-Unternehmens Space X, sie kann etwa ein Drittel der Nutzlast der fünf Jahre alten Konkurrentin ins All transportieren, und das zu Kosten, die etwa beim Dreifachen liegen. Dass die Krone der Raumfahrttechnik des Kontinents, auf dem die Raumfahrttechnik erfunden wurde, nur einmal verwendbar ist, versteht sich von selbst. Bei nur zehn Jahren Entwicklungszeit blieb kein Spielraum, mehr zu erfinden als die Möglichkeit, die Booster der neuen Ariane nach dem Abschalten noch einmal zünden zu können, um die 500 bis 700 Tonnen Metall kontrolliert abstützen zu lassen. 

Prähistorischer Flugkörper

30 Flüge plant die ESA mit ihrem funkelnagelneuen prähistorischen Raumschiff dennoch bereits, zum Glück gibt es Kunden, bei denen es auf die Kosten nicht ankommt. Den Rest übernimmt ein eigens geschaffener Defizit-Ausgleichsmechanismus namens EGAS (European Guaranteed Access to Space), der für alles aufkommt, was teurer als erwartet wird. 

Anfangs reichten dafür 140 Millionen Euro im Jahr, zuletzt fordert die zuständige Ariane-Group eine Erhöhung des Zuschusses auf 350 Millionen Euro, um weitermachen zu können. Für Europa wichtig ist das auf ähnlich Weise wie das Weltraumkommando der Bundeswehr: Space X allein fliegt in diesem Jahr voraussichtlich 144 Mal ins Weltall. Die ESA sieht künftig neun Starts jährlich vor, wenn es erst so weit ist, aber wann genau, will noch niemand verraten.

Oder ob überhaupt: Wegen eines "Triebwerksproblems" konnte die Ariane 6 ihr Premiumfeature, die Oberstufe noch einmal zu zünden, um dann in der Atmosphäre zu verglühen, die smal noch nicht zeigen. Europas Stolz und große Hoffnung kreist nun um den Planeten, den unten Gebrliebenen zur Mahnung: Wer hoch hinaus will, soll jemanden fragen, der schon mal da war.

Comeback des Bösen: Schweigen im Blätterwald

In den guten alten Zeiten stand Mediendeutschland noch wie ein Mann gegen den Angriff Trumps auf die Demokratie. Mittlerweile aber ist die Brandmauer zusammengebrochen.

Wann genau hat es angefangen, aufzuhören? Was ist geschehen, wie ist es passiert und warum? In großer Sorge ist der am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung zum Themensterben in den deutschen Medien, Sprachregelungsmechanismen und zum Einfluss subkutaner Wünsche auf die berichterstattete Realität forschende Entropie-Experte Hans Achtelbuscher schon vor Wochen aufgeschreckt. Schlagartig, sagt der ausgewiesene Diagnostiker für Ausfallerscheinungen im gesellschaftlichen Gespräch, sei ihm klar geworden, dass etwas "ganz Grundlegendes fehlt". Ihn habe ein "Verlustgefühl" bedrängt, der Eindruck, "dass wir etwas verloren haben, ließ sich nicht mehr leugnen", beschreibt er.  

Gesellschaftlicher Mangel

Als überaus erfahrener Medienforscher brauchte Achtelbuscher nur wenige Stunden, um zum Kern dessen vorzudringen, was er heute eine "gesellschaftliche Mangelerscheinung" nennt, an der ihn am meisten erstaune, wie wenig der Mangel thematisiert werden. "Vor acht und vor vier Jahren war Donald Trump der Elefant im Raum, ein Brunnen voller Nektar, von dem sich Fernsehsender, Magazin und Tages- wie Wochenzeitungen Tag für Tag nährten", fasst er den Stand seiner Forschungen zusammen. Im laufenden US-Wahlkampf, der die Reiche der Menschen erneut vor die Herausforderung stelle, die Mächte des Bösen in die Schranken zu weisen, sei dagegen "unglaublich still, fast wie auf einem Friedhof der begrabenen Hoffnungen."

Der Kampf gegen Trump ist eingeschlafen.
Trump ist kein Thema mehr, mit dem sich deutsche Großredaktionen befassen wollen. Um 94 Prozent sind die Erwähnungsraten des ehemaligen Staatsfeindes Nummer 1 seit 2020 gefallen, selbst dieser Wert aber sei noch "zu hoch", wie Achtelbuscher sagt, denn "Trump taucht auch immer auf, wenn von seinem Konkurrenten Joe Biden und dessen altersbedingten Ausfallerscheinungen die Rede ist". Der Demiurg aus New York selbst aber hat an schrecklicher Magie verloren, wie der als untrüglicher Indikator geltende Cover-Meter des Magazins "Der Spiegel" zeigt.

Über Jahre im Kampf

28 Titelbilder widmete frühere Nachrichtenmagazin dem Kampf gegen die Machtergreifung des Milliardärs aus New York zwischen 2017 und 2021. "Die Angstmaschine"  (Zeit), eines US-Präsidenten, der "irre" (FR) war, "wahnsinnig" (Spiegel), ein "Hassprediger" (Steinmeier) und ein "Kriegstreiber" (taz) war, übertraf damit nicht nur zahlenmäßig Hitler, Stalin, Mao, Gaddafi, Castro, Saddam Hussein und sogar Putin und Erdogan. Wenn die Propagandapeitsche knallte, wurde er zuverlässig auch bluttrünstiger, gewalttätiger und enthemmter dargestellt als andere Massenmörder und Völkervernichter. Umso überraschender kam das Ende: In den drei Jahren seit seinem Abschied aus dem Amt schaffte es Trump nur noch fünfmal aufs Titelbild, nur ein einziges Mal versehen mit dem klaren Warnhinweis "Diktator Trump".

Hans Achtelbuscher has dieses stille Hinschwinden der Abwehrkräfte der deutschen Medien mit großer Besorgnis verfolgt. Dass selbst eingeschworene Aktivisten wie der für das in Teilen SPD-eigene Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibende Karl Doemens lieber über das biblische Alter des amtierenden Präsidenten fabuliere und Verschwörungstheorien zu längst widerlegten Erkrankungen verbreite als Trump die Maske vom Gesicht zu reißen, spreche Bände über die Kampf- und Einsatzbereitschaft. "Ich erinnere mich noch gut an Zeiten, als die herausragenden Stimmen im Kampf gegen Trump jede Gelegenheit nutzten, um dem Emporkömmling ohne Manieren einen Strick zu drehen."

Alles war gelogen

Alles, was Trump sagte, war damals gelogen. Was er tat, war falsch. Die Welt war in Ordnung und dass Angela Merkel dem neuen Mann im Weißen Haus knallharte Bedingungen stellte, die er zu erfüllen hatte, ehe Deutschland einer weiteren Wertepartnerschaft zustimmen würde, fand allgemeine Zustimmung. Die große Politik musste letztlich gute Miene zum bösen Spiel machen, um Trump zu bezwingen. 

"Deutschlands Medien aber hätten den Widerstand fortsetzen können", urteilt Hans Achtelbuscher. Kaum einer der großen Verlage stehe unter amerikanischen Einfluss, damit sei die Medienbranche eine von nur ganz wenigen deutschen Zukunftsindustrien, die fast vollständig unabhängig agieren könnten. "Aber für Männer wie Klaus Brinkbäumer und Karl Doemens ist der verlorene Kampf gegen den Ex-Präsidenten wohl eine traumatische Erfahrung gewesen."

Die Prätorianer der Trumpgegner

Doemen etwa lobe heute lieber Bidens Gattin als "Prätorianergardistin des Präsidenten" und werfe der Wirtschaft Verrat an Biden vor, statt wie früher aus allen Rohren auf Trump zu schießen. Ein Menetekel: Aus dem unberechenbaren, irren, schädlichen Loser, Lügner, Colatrinker und Fernsehgucker, den man nur als "Horrorclown" bezeichnen konnte, ist ein "wilder Poltergeist" (Doemens) geworden, dem man am meisten schaden kann, indem man behauptet, er liege in Umfragen gleichauf mit dem Amtsinhaber.

"Deutschlands Medien haben ein Problem", ist Hans Achtelbuscher sicher. In nur vier Monaten drohe ein Amerikaner ins Weiße Haus einzuziehen, der die Werte der Demokratie und der amerikanischen Verfassung ganz anders interpretiere als etwa die Ampel-Spitzen, die Leitungen der politischen Magazine bei WDR und MDR oder die Chefetagen der Grünen, der SPD und der CDU. "Dennoch schaut man der Gefahr nicht ins Auge und rüttelt die Menschen auf wie damals, als ganz Deutschland eine Brandmauer gegen Trump bildete, sondern man schließ die Augen und träumt davon, auch diese vier Jahre wieder irgendwie überstehen zu können."

Brandmauer für den Atlantik

Eine Illusion, die sich als tödlich herausstellen könnte. Trump hat bereits angekündigt, dass er keineswegs vorhat, sich in einer möglichen zweiten Amtszeit deutlicher an den Wünschen der deutschen Regierung zu orientieren oder sich in gemeinsame europäische Lösungen einbinden zu lassen. Daraus aber wie Doemens, Brinkbäumer, Restle, aber auch Steinmeier, Martin Schulz und andere frühere Aktivisten auf der politischen Bühne die Konsequenz zu ziehen, gar nicht mehr zu kämpfen und zu protestieren, hält Hans Achtelbuscher für falsch. "Es sieht aus, als beuge man jetzt schon das Knie, statt wenigstens würdig als Fighter mit der Feder in der Hand unterzugehen." 

Angesichts der Gefahr, dass ein Teufel in Menschengestalt noch einmal an die Schaltstellen gelangt, von denen aus "die Welt regiert" (Joe Biden) wird, sei eine kollektive Anstrengung zum Aufbau einer Brandmauer "quasi quer durch den Atlantik" (Achtelbuscher) alternativlos. "Wir werden doch sehen, dass die erneute Machtergreifung dieses Mannes wieder gewaltige Flüchtlingsströme auslösen wird, weil viele Angst haben, unter seiner Knute zu leben." Dann müsse Deutschland, dann müsse die ganze EU vorbereitet sein. "Und es wäre an den Medien, den mit dem Nachtwechsel in Brüssel und dem Wahlkampf in den Ostländern beschäftigten Verantwortlichen beizubringen, dass jetzt gehandelt werden muss, in dieser Minute."

Dienstag, 9. Juli 2024

Fußball weiß wie Schnee: Von wegen Vielfalt

Eine neue Studie das Bundesblogampelamtes (BBAA) zeigt, dass das Bild, das Deutschlands Gemeinsinnsender von der Euro 2024 zeigen, viel zu weiß und nur wenig divers ist.
 

Es sollte das Fußballturnier der Vielfalt werden, divers und bunt, dazu aber auch nachhaltig und mit viel Spaß für alle Völker der Welt. Deren Eigenheiten prägen die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland - hier sind die Holländer, die in ihren Holzschuhen von einer Straßenseite zu anderen tanzen und sich schwarz anmalen. Dort sind die Albaner, die ihren Krieg gegen Serbien auf den Rängen fortführen. Und da die Deutschtürken, deren in deutschen Kindergärten erlernter "Wolfsgruß" nun jedermann und überall bekannt ist als Äquivalent zu Hitlergruß und dem Gruß der Jungen Pioniere in der DDR.

Drei Euro-Staaten im Halbfinale

Die Turnierpräsentation war ebenso gelungen. Vom deutschen Auftaktsieg gegen Schottland, der ein im Glauben an sein eigenes Können und Wollen wankendes, schwankendes Land mit dem versöhnte, was von der einst so ideologisch aufgeladenen "Mannschaft" der Katar-WM übriggeblieben war, bis zum Ausscheiden durch den feigen Verrat eines Nicht-EU-Engländers stimmte alles. Triumphe, Tränen, drei Euro-Staaten im Halbfinale. Vom einfachen Mann des Volkes, der etwa als simpler Koch bei McDonalds arbeitet, bis zur angestrengt für das Wohl der Welt wirkenden Ministerin freuten sich alle mit. Was für ein Sommermärchen! Wie wenig die Last auf einmal wiegt, die die ewige Sorge um Klimaschutz und Krieg uns ansonsten auferlegt.

Dass längst noch nicht alles Gold ist, was Deutschland den Völkern der Welt als sein freundliches Gesicht zeigt, bekommen zum Glück nur jene Fans mit, die dem Fußballrausch widerstehen und die Präsentation des zweitgrößten Sportereignisses des Jahres mit analytischen Augen betrachten. Herrnfried Hegenzecht vom Bundesblogampelamt (BBAA) im mecklenburgischen Warin ist so ein Fan. Er fiebere mit, sagt der Dienstherr der vor sieben Jahren im Kampf gegen Hetze, Hass und Zweifel gegründeten Meinungsfreiheitsschutzabteilungen (MFSA), "doch ein Auge habe ich immer darauf, dass die Meinungsfreiheit in den Grenzen dessen gewahrt wird, was uns möglich ist".

Tiefe gesellschaftliche Eunden

Nicht immer sind es deutliche Verstöße, Wolfsgrüße oder Nazi-Tätowierungen ehemaliger Nationalspieler, deren Rücktritt einst eine "tiefe gesellschaftliche Wunde" riss, weil sie ihren Integrationsbambi mit ins Ausland nahmen. Herrnfried Hegenzecht geht es eher um die subtilen Signale, um all das, was fehlt, weil die Gesellschaft nach rechts gerückt sei und "unsere Politiker ihr Fähnchen einmal mehr in den Wind hängen", wie Deutschlands höchster Meinungsfreiheitssschutzaufseher formuliert, der im Herbst in sein letztes Dienstjahr eintreten wird. 

Es gebt keine Regenbogenbinden, selbst nicht bei den zahlreich auf den Tribünen anwesenden Politikern, kritisiert Hegenzecht, niemand wage sich überhaupt mit einer deutlichen Klimabotschaft hervor oder rufe zum zivilen Ungehorsam gegen eine Großveranstaltung, deren CO₂-Fußabdruck sogar größer ist als der von vier Uno-Klimakonferenzen. 

Generation Stoßbrigade

Selbst die Letzte Generation als Stoßbrigade der Großen Transformation habe zuletzt lieber ein Kunstwerk des von den Nazis als "entartet" eingestuften Bildhauers Gerhard Marcks mit Farbe beschmiert, um vor dem Hintergrund des von Israel geführten Krieges gegen die Menschen im Gaza-Streifen gegen dessen Einsatz für Juden zu protestieren, statt die Uefa, das deutsche Organisationsbüro und die Firmen anzugreifen, die das Spektakeln finanzieren.

Kein gutes Haar aber lässt Herrnfried Hegenzecht insbesondere am Gemeinsinnfunk, der Gebührengelder in geheimgehaltener Millionenhöhe für eine Unterlizenz der Ausstrahlungsrechte an die staatseigene Deutsche Telekom gezahlt hat, dafür jedoch "nicht liefert, was wir als Steuerzahler erwarten können", wie Hegenzecht schroff urteilt. 

Ein falsches Gesellschaftsbild

Denn, sagt er, "welche Gesellschaft soll das abbilden, was uns da gezeigt wird?" Es begänne mit den sogenannten "Mainzelmännchen", den ZDF-Maskottchen, die im Umfeld der Spiele ein Bild von einem Deutschland zeichneten, das es längst nicht mehr gibt. "Fünf weiße Männer werden da vorgeführt", klagt Hegenzecht, dessen BBAA in einer ersten Untersuchung über den Mangel an Vielfalt in der EM-Berichterstattung zu einem vernichtenden Urteil kommt: Bei den "Mainzelmännchen" sind 100 Prozent der abgebildeten Akteure männlich, weiß und cis-sportlich. 

Und auch in den Fernsehstudios, in denen die Spiele vor Anpfiff und nach Abpfiff zerredet werden, sieht es nicht anders aus:  Insgesamt 87 Diskutanten, Co-Moderatoren, Ansager und Experten zählten die Beamten des BBAA. Alle seien fernab der Öffentlichkeit ausgewählt worden und wegen fehlender gesetzlicher Vorschriften zur Diversität "nahezu sämtlichst Angehörige einer kleinen Kaste von miteinander bekannten, befreundeten und über gemeinsame Interessen verbandelten Personen", wie es in der neuen Studie "Average diversity in public explanation positions in radio" belegt. 

Überrepräsentierte Schiedsrichter

Große Gruppen der Gesellschaft würden dadurch ausgeschlossen. So seien beispielsweise frühere Fußballer und Frauenfußballspielerinnen, die weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, 72-mal häufiger in TV-Expertenrunden vertreten als Eingewanderte und ihre Nachkommen, die mehr als 27 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Auch hätten frühere Schiedsrichter, die nur eine ganz, ganz kleine gesellschaftliche Randgruppe seien, durch ihre übermäßige Präsenz in den Fernsehstudios schon allein zahlenmäßig mehr Einfluss auf die Richtung der gesamtgesellschaftlichen Diskussion als zivilgesellschaftliche Fanorganisationen, Sportmediziner und Vereine, die sich für einen sauberen, gerechten Sport starkmachen.

Für Herrnfried Hegenzecht ist das eine prinzipielle Frage. "Die Debatte darüber, wer im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auftritt und wer nicht, gehört in die Öffentlichkeit und nicht hinter die verschlossenen Türen der Redaktionen", sagt er. Gerechte Repräsentation scheitere in der Regel nicht am Willen der Zuständigen, sondern an einem blinden Fleck in deren Wahrnehmung, der durch kulturelle Erziehung und völkische Abstammung entstehe. "Es gibt ja keinen Mangel an Möglichkeiten, auch andere Stimmen zu Wort kommen zu lassen, sondern nur einen fehlenden politischen Willen, das so vorzuschreiben." 

Appell an unabhängige TV-Aufseher

Mit der Ernennung von Gerda Hasselfeldt, früher Bundesministerin, Vize-Präsidentin des Bundestages und CSU-Landesgruppenchefin in Berlin zur Vorsitzenden des seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes streng politisch unabhängigen ZDF-Fernsehrates knüpft Herrnfried Hegenzecht größte Hoffnungen. "Ich glaube, unser inständiger Appell, mehr Vielfalt zu ermöglichen, wird bei Frau Hasselfeld auf offene Ohren treffen." 

Die Straubingerin, die sich nach 45 Jahren professioneller Politikerfahrung mit 72 Jahren noch etwas Ansehen als Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes dazuverdient, werde die Ausarbeitungen aus der BBAA sicher aufmerksam lesen. "Ich bin sicher, dass wir entsprechende Änderungen an der Gesamtausrichtung dann schon bald sehen werden und dann viel buntere Botschaften über die Sender gehen."

Linksruck nach rechts: Wir sind Volksfront

Deutschland ist der Freude voll über den überraschenden Sieg der Volksfront in Frankreich.

In Paris, Nantes und Marseille wollten es die Rechtsextremen nicht wahrhaben. Kaum stand fest, dass es der rechtsradikalen Chefin der Nationalen Sammelbewegung nicht gelungen war, den geplanten Durchmarsch gegen die linke Neue Volksfront im zweiten Wahlgang zu vollenden, eskalierte die Enttäuschung vielerorts gewaltsam: Polizisten und Demonstranten gerieten aneinander, Müllkübel brannten, Palästinenserfahnen wurden geschwenkt, "Molotowcocktails und Tränengas kamen zum Einsatz", schilderte der Korrespondent des ehemaligen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel".  

Knapp vorbei ist auch daneben

Schlagartig war wieder klar, wie knapp EU-Europa der ganz großen Katastrophe entgangen war: Zwar hatte der Rassemblement Nation seine Niederlage mit 37,4 Prozent der abgegebenen Stimmen eingefahren. Doch das französische Wahlsystem verhinderte noch einmal das Schlimmste. Statt Marine Le Pen, der Tochter eines verurteilten Holocaustleugners, schaffte es mit Jean-Luc Mélenchon ein bekennender Antisemit, Anti-Europäer und Putin-Versteher mit den 26,8 Prozent Stimmen, die seine Volksfront einfuhr, an die Spitze der Ergebnisliste.

Mélenchon hat versprochen, Frankreich aus der Nato zu lösen, die Sozialausgaben zu erhöhen, die Schuldenregeln der EU nicht mehr nur zu ignorieren, sondern beiseitezufegen und den Staat Palästina umgehend anzuerkennen. Als Belohnung für die Wählerinnen und Wähler will der 72-Jährige die Rente mit 60 einführen und die französischen Kernkraftwerke abschalten. Ob er wirklich über den französischen Austritt aus der EU abstimmen lassen wird, ist nicht ganz klar. Es kommt sicher darauf an, wie lange die anderen Mitgliedsstaaten bereit sein werden, für die Wohltaten zu zahlen, die der überzeugte Kommunist im Stil seines venezolanischen Vorbildes Hugo Chavez zu verteilen gedenkt, so lange die deutschen, niederländischen und schwedischen Geldquellen sprudeln.

Ein Linksruck nach rechts

Linksruck nach rechts

Die Freunde über den vermeintlichen Linksruck war dennoch allgemein und ungeteilt. Abgesehen von wenigen erschrockenen Stimmen fühlte sich die deutsche Linke nach einer langen Reihe von schmachvollen Niederlagen endlich einmal wieder gemocht, gewollt und siegreich. Zahlen und Fakten spielen da keine Rolle. Der Gesundheitsminister gratulierte zum Erfolg des "Zusammenhalts gegen rechte Elemente", die Grünen-Chefin im Bundestag spürte in sich "große Erleichterung" und die frühere Klimaaktivistin Luisa Neubauer sah den Beweis, dass die extreme Rechte "bezwingbar" ist und "Allianzen leben".

Ein Tag der Wunder. Selbst Wolfgang Ischinger, ein ausgewiesener Weltstratege, frohlockte. Von wegen "Europa im Abwärtsstrudel"! Die guten Nachrichten hageln nur so herein! "Aktuell:klare Mehrheit für  neue Regierung in London, kein rechtsextremer RN-Durchbruch in Paris, neue NL-Regierung liefert Jets an Kijev, Berliner Ampel beschließt Haushalt, Kallas wird EU-Außenpolitik führen: EU und Nato putzmunter und halten Hofnarr Orban aus". 

Zur Feier der neuen Volksfront

Ein Rhythmus, bei dem jeder mit muss: Der überraschende Linksruck, der eigentlich ein Rechtsruck war, weil der Rassemblement National im Vergleich zur ersten Wahlrunde noch einmal vier Prozent zulegte, während die Neue Volksfront beinahe zwei Prozent verlor, erfreute Emily Büning und die vor dem Ruhestand stehende Renate Künast, den Bundeskanzler und Ursula von der Leyen. "Vive la France!", teilte Büning ihre Gefühle ungefiltert: "Große Freude! Nach UK setzen nun auch die Menschen in #Frankreich ein deutliches Zeichen: nicht nur gegen Rechtsextreme, sondern für progressive demokratische Bündnisse."

Vorfreude ist nicht zu übersehen. Könnte der Erfolg des französischen Modells der Volksfront gegen rechts nicht ein Muster sein, mit dem sich in sieben Wochen auch die deutschen Nazis schlagen lassen?Alle zusammen, von Linkspartei, SPD und Grünen über die FDP und die Union bis zum Bündnis Wagenknecht? Obendrauf ein höherer Mindestlohn, eine Jahresendprämie für Rentner, noch mal die Nummer mit dem Klimageld und die Anerkennung Palästinas, dazu zur Not ein Zurück zur Rente mit 65 und höhere Steuern für alle, die reicher sind - der Flexibilität beim Organisieren des "Weiter so" in jeder nur denkbaren Farbkombination sind keine Grenzen gesetzt. 

Georg Restle, eine der Speerspitzen des Fortschritts im deutschen Fernsehen, schwärmt schon über die unbegrenzten Möglichkeiten, wenn alle sich mit allen zusammentun: "Nach Polen jetzt auch Frankreich. Deutschlands größte Nachbarstaaten zeigen, wie man die extreme Rechte besiegen kann: Mit Geschlossenheit der demokratischen Kräfte und einer hohen Wahlbeteiligung."

Montag, 8. Juli 2024

Zweifel am US-Präsidenten: Welle der Delegitimierung

Der junge deutsche Maler Kümram ist ein großer Bewunderer des Demokraten Joe Biden. Er hat ihn mit weichem Strich und klarere Botschaft gezeichnet. Abb: Kümram, schwarze Kreise auf Gipskarton

Es sind nur noch wenige, die dem großen alten Mann im Weißen Haus trotzig die Stange halten. Es gebe auch Umfragen, die Biden nur noch ganz knapp hinter seinem Konkurrenten Donald Trump sähen. Und "die Lücke zwischen den beiden wird kleiner", pfeift das teilstaatliche Nachrichtenportal T-Online im dunklen Wald der Enttäuschung über Bidens desaströsen Auftritt im ersten Fernsehduell, das dem Amtsinhaber nach Lesart der Werbeseite womöglich geholfen hat. Biden holt auf! "Die Lücke von zwei Prozent ist der geringste Abstand zwischen den beiden seit Oktober 2023."

Der Glaube bröckelt

Doch nicht überall ist der Glaube noch so fest. Dort, wo in den vergangenen vier Jahren ausgemacht war, dass Joe Biden das Beste ist, was Amerika und der Welt noch einmal passieren könnte, werden Zweifel nicht mehr hinter verschlossenen Türen verhandelt und nach außen mit Faktenchecks widerlegt. Stattdessen arbeiten sich die deutschen Medien am Präsidenten ab: Er wolle "nicht wahrhaben", dass seine Zeit vorüber sei, heißt es in der "Zeit", die noch vor einigen Monaten Grund zum Scherzen  sah, wenn es um Bidens Gesundheitszustand ging.

In Deutschland wurde der damals noch generell als "Alter" bezeichnet. Peinliche Verwechslungen (Die Zeit), Gestotter, eingefrorene Bewegungsabläufe und durchgeistigte Aussagen galten allenfalls als typische Begleiterscheinungen der Auftritte eines "älteren Mannes" (Zeit) ohne großen Belang. Dass Biden fit genug für eine zweite Amtszeit sei und auch im Jahr 2028 zweifellos noch in der Lage, die Geschicke der Atommacht USA zu lenken und zu leiten, stand außer Zweifel. Videos, in denen der 81-Jährige verwirrt wirkt, waren manipuliert und "sinnentstellt".

Plattformen für Rücktrittsforderungen

Erst der einheitlich als "desaströser Auftritt bei dem TV-Duell gegen Trump" bezeichnete Unfall vom 27. Juni hat den spin geändert. Aus einer Welle der Solidarität wurde eine der Delegitimierung. Plötzlich scheint es allenthalben angebracht, den Präsidenten infragezustellen, ihm die Fähigkeit zur Amtsführung abzusprechen und denen eine Plattform zu bieten, die "offen fordern, er solle seine Kandidatur zurückziehen, vielleicht sogar zurücktreten" (ZDF). "Wie überredet man Opa, den Führerschein abzugeben?", fragt der "Spiegel", einer "Debatte um die Eignung von US-Präsident Joe Biden als Präsidentschaftskandidat" gibt die "Tagesschau" breiten Raum. Von "purem Egoismus" des derzeit noch als Kandidat gesetzten Demokraten spricht Jan Fleischhauer in der "Welt". Die "Taz" beteiligt sich bereits an der Suche nach Ersatz und n-tv streut Gerüchte über Besuche von Parkinson-Spezialisten beim Hausarzt des Präsdidenten.

Ein Sturm aufs Weiße Haus, bei dem nicht wildgewordene Verfassungsfeinde durch Washington marschieren, sondern die "Fähigkeiten Bidens als Anführer des Westens"in Zweifel gezogen werden. Auf einmal scheint "die ganze Welt sich einig zu sein: Joe Biden muss von einer erneuten Kandidatur um die US-Präsidentschaft absehen und Platz machen" (Taz). Auf einmal droht im schlimmsten Fall, dass Olaf Scholz den Job "übernehmen muss" (Spiegel), um während einer "zweiten Präsidentschaft des extrem rechten Lügners Donald Trump" zusammenzuhalten, was übrig ist von der Wertegemeinschaft. Und das kann ja nun wirklich niemand wollen.

Abschied vom Gewinner

Doch was denn sonst? Als wären Schleusen geöffnet worden, die es vor einem Monat noch nicht gab, sieht sich der mächtigste Mann der Welt einer geschlossenen Front von Kritikern gegenüber. ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen, der eben noch prognostiziert hatte, dass Biden die Wahlen im November gewinnt und das sogar "mit einem größeren Vorsprung gewinnen als im Jahr 2020, möchte die demokratischen Vorwahlen, die vor kurzem noch so wichtig waren, dass sie trotz fehlender Gegenkandidaten als "Rennen" bezeichnet wurden, nicht mehr gar so ernst nehmen. "Ich glaube, dass man hinter den Kulissen jetzt ganz genau schaut, wie sich die Umfragen entwickeln über die nächsten Tage und Wochen hinweg", sagt er. Im  Notfall wird dann gehandelt werden. 

Im Sinne der Demokratie und zur Vermeidung größerer Schäden. Hätten die Demokraten jemanden, der es besser machen könnte als der zuweilen desorientierte Joe Biden, den mittlerweile nur noch seine Familie darin bestärkt, weiterzumachen, wäre das längst passiert. Doch wie Europa, das aufgrund des allgemeinen Fachkräftemangels über Jahre keinen Nachfolger für den vom Norweger Jens Stoltenberg besetzten Nato-Vorsitz fand und derzeit kurz davor steht, die in ihrer ersten Amtszeit an der EU-Spitze gescheiterte Ursula von der Leyen mangels Alternative noch einmal zu inthronisieren, leiden auch die USA unter dem sogenannten Tschernenko-Syndrom: Die müssen, können nicht. Die wollten, sollen nicht. Und andere sind nicht verfügbar.

Einsicht Stand Mitte Juni

Biden, heute acht Jahre älter als Konstantin Tschernenko am Tag seines Einzuges ins Büro des Generalsekretärs der KPdSU, müsste wohl selbst sagen, wer es machen soll. Doch aufgrund eines gewissen Altersstarrsinns fehlt es ihm an der Einsicht in die Notwendigkeit. Statt sich auf die Rufe aus seiner Partei, vor allem aber auf die Forderungen aus Deutschland zu hören, und den Weg freizumachen, tückscht er, er "spielt nicht mit offenen Karten", lenkt ab und tot so, als wäre er heute noch so fit wie vor vier Monaten. Dass er gehen muss, will er nicht wahrhaben. Der Gedanke, dass er nicht noch einmal vier Jahre durchhalten wird, ist ihm heute noch so fern wie er deutschen Medien vor drei Wochen war.

Rares für Bares: Auf gepackten Koffern

Fleißige Fachkräfte werden überall gebraucht - und seit den von der Ampel in Aussicht gestellten Steuererleichterungen für Neuankömmlinge sitzen Experten überall auf gepackten Koffern.

Schon sitzen sie überall auf gepackten Koffern in Großbritannien, Norwegen, der Schweiz, in Österreich und natürlich vor allem in Spanien und Portugal. Seit die Bundesregierung mit dem Wachstumsturbo ein Signal in die Welt gesendet hat, das Deutschland eine tiefere soziale Spaltung auf Zeit in Kauf nehmen wird, um mit einem erneuten "Wumms" in der Wirtschaft Spielräume für mehr Umverteilung im Zuge der großen Transformation zu schaffen, erfreut sich Deutschland mehr noch als bisher äußerst sehr beliebt höchster Beliebtheit bei Einwanderern aus allen Teilen der Welt.

Weggewischt die Angst

Wie weggewischt scheint die Angst vor der bevorstehenden Machtergreifung der Faschisten, zu verlockend ist die Aussicht für die Neuankömmlinge, über drei Jahre hinweg ein Fünftel weniger Steuern zahlen zu müssen als die anderen Mitarbeiter in der Behörde, die Kolleginnen in der Klinik oder der Chef im Restaurant. 

Die Ampel macht Deutschland zum Fachkräftemagneten: Zuwanderer, die sich jetzt entschließen, nach Deutschland zu kommen, zahlen im Grunde genommen künftig weniger als doppelt so viel als sie an den Fiskus abgeben müssten, würden sie nach Amerika gehen. Dort hatte das Präsidentenpaar Biden zuletzt auf ein Einkommen von 620.000 Dollar 146.629 Dollar an Bundessteuern zu zahlen. Das entspricht einem Steuersatz von 23,7 Prozent. In Deutschland wären etwa 100.000 Euro mehr fällig gewesen. Der Steuersatz liegt bei etwa 40 Prozent.

Fachkräfterabatt für Freiwillige

Mit dem Fachkräfterabatt, den Rot-Grün-Gelb jetzt ausgelobt haben, sinkt er allerdings kräftig auf nur noch 36 Prozent. Damit ist Deutschland für Steuerzahler noch attraktiver, so lange sie nicht schon länger hier leben. Zudem wird jeder, der kommt, Teil eines weltgeschichtlich einmaligen Experiment: Lässt sich ein Land mit kosmetischen Hilfsmitteln in eine turn around story verwandeln? Reichen klitzekleine Änderungen am Verkündungsvokabular, um Wachstum aus dem Nichts zu erzeugen? Ist die Beschwörung, dass alle weniger bekommen, danach aber mehr, genug, um die Stimmung aufzuhellen?

Für fünf Euro Kindergeld und etwas über 600 Euro mehr Abgeordnetendiäten greift die Koalition sich tief in die leere Tasche. Der Sparhaushalt erzählt ansonsten vor brutalen Einschnitten nach oben: Der Bundeshaushalt für 2024 liegt bei 479,8 Milliarden Euro, 39 Milliarden davon sind neue Schulden. Für 2025 plant die Koalition dann nur noch 481 Milliarden Euro Ausgaben, finanziert aus Rekordeinnahmen in Höhe von 430 Milliarden und neuen schuldenbremsenkonformen Schulden von etwas über 50 Milliarden Euro. 

Deutlich über Maastricht

Das Loch zwischen Einnahmen und Ausgaben läge dann planmäßig nur noch etwa dort, wo es heute auch liegt: Deutlich über den völkerrrechtlich verbindlichen Maastricht-Kriterien. Aber weit niedriger als bei den meisten Partnerstaaten, deren Schulden im Durchschnitt bei mehr als 90 Prozent (in der Eurozone bei knapp 98 Prozent) des BIP liegen - also so absurd weit weg vom gemeinsam fest vereinbarten Ziel, dass keine der anderen großen Führungsnationen der Wertegemeinschaft jemals Kritik am deutschen Weg äußern wird.

Der "Triple-Wumms" bildet damit eine feste Basis für einen Aufschwung, für den die Bundesregierung im Verlaufe von 23 gemeinsamen Sitzungen mit "insgesamt rund 80 Stunden" Dauer bereits einen Zielwert von 0,5 Prozent festgelegt hat. Der im Bürokratendeutsch auch als "Konjunkturinitiative" bezeichnete Wachstumsturbo funktioniert auf bewährte Weise: Über das Kindergeld wird mehr Bares in den Volkskörper gepumpt, über den Wegfall der Steuerklassen 3 und 5 hingegen verschafft sich der Bundesfinanzminister ein zinsloses Darlehen von den Bürgerinnen und Bürgern, aus dem er diese großzügige Geste finanzieren kann. 

Ein geschicktes Manöver im Zuge des AfD-Förder-Programms: Wer schon länger da ist und das Gefühl hat, alles sei viel teurer geworden, hat nun erstmal ein paar Euro netto weniger pro Monat, muss aber später nicht mehr so viel nachzahlen. Wer neu hinzugestoßen ist, darf sich dagegen freuen: Er zahlt gleich weniger, aber auch später nicht mehr. Erst, wenn er drei Jahre durchgehalten hat, steigt sein Steuersatz auf den der Schonlängerhierarbeitenden.

Weniger statt mehr

Weil Rentner und Rentnerinnen künftig weniger Steuern zahlen müssen, wenn sie weiterarbeiten, und dazu auch Überstunden zumindest in den tarifgebundenen Teilen der Wirtschaft steuerfrei gestellt werden, ist vorgesehen, dass die Wirtschaftsleistung um fast 26 Milliarden Euro von derzeit 3,77 Billionen Euro auf dann 3,79 Billionen steigt.  Die Spitzen der Ampel gehen davon aus, dass Bürgerinnen und Bürger sich dadurch veranlasst sehen werden, wieder in die Geschäfte zu pilgern, um ihrem Hang zum klimaschädlichen Konsum nachzugehen. Die Mehreinnahmen aus der Umsatzsteuer können dann gezielt in soziale Entlastungsmaßnahmen für steigende Energiepreise, Klimaprojekte und den Umbau der Wirtschaft gesteckt werden.

Das hat alles Hand und Fuß, aber natürlich sind da gleich wieder die, die den Erfolg leugnen, noch ehe er sich eingestellt hat. Auf der Rechten ist wie stets die Rede von rausgeschmissenem Geld, Wolkenkuckucksheimen und der Unfähigkeit der Bundesregierung, konkret auch nur eine einzige Sparmaßnahme zu nennen. Von links hingegen wird der in den zurückliegenden zehn Jahren von 296 Milliarden um mehr als 60 Prozent auf nun 481 Milliarden aufgeblähte neue Bundeshaushalt als "Zukunftsbremse" beschimpft. Wenn das Bruttoinlandsprodukt im Jahr nur noch durchschnittlich um ein Prozent wachse, sei eine Ausweitung der Staatsausgaben von nur knapp über sechs Prozent jährlich nicht ausreichend, um einen selbsttragenden Aufschwung auszulösen.

Die Axt der sozialen Spaltung

Wirtschaftsvoodoo-Experten wie der Inflationsprediger Marcel Fratzscher oder der emeritierte Armutslobbyist Ulrich Schneider beklagen, dass hier mit der Axt der sozialen Spaltung zugeschlagen werde, statt mehr Frauen in Arbeit zu zwingen und Wohlhabende härter zu besteuern. "Wir haben eine Rekordarmut in Deutschland, Menschen in Hartz IV und Altersgrundsicherung wissen angesichts der explodierenden Lebenshaltungskosten nicht mehr ein noch aus, das gesamte Pflegesystem steht vor dem Kollaps, bezahlbare Wohnungen fehlen zu Hunderttausenden", malt Schneider angesichts von Zahlen  schwarz, nach denen inzwischen jedes siebte Kind in Deutschland armutsgefährdet ist, nicht mehr nur jedes fünfte.

Dient Schneider und Fratzscher der "Fetisch der schwarzen Null" als zentrales Feindbild, sind es für viele Zuwandererverbände die neuen Maßgaben zur Mitarbeit, die für Neuankömmlinge gelten sollen. Bisher musste niemand, der nach Deutschland kam, Steuern zahlen oder Abgaben leisten, wenn er nicht wollte. Es stand ihm in der Regel eine kostenlose Unterkunft zu, er bekam Geld für Ernährung und Kleidung und gesellschaftliche Teilhabe, um ihnen die Aufgabe zu erleichtern, später einmal die Renten der Schonlängerhierlebenden "zu bezahlen" (Ricarda Lang). Damit soll nun Schluss sein, die erhoffte neue Welle der einwandernden Fachkräfte muss sich von Anfang an einen recht lukrativen Job besorgen, um dasselbe Einkommen zu erreichen, das bisherige Zuzügler als sogenannte Grundleistung zustand.

Nie nachgewiesene Pulleffekte

Deutlich mehr als den Mindestlohn braucht es, um zumindest auf 200 Euro mehr als die 1.300 bis 1.500 Euro zu kommen, die einem Bürgergeldempfänger zustehen. Da das auch aus Sicht der Ampelspitzen zu wenig Pulleffekte auszulösen verspricht, haben Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner sich für eine Zangenbewegung entschieden, die arbeitsfähige, aber unwillige Bürgergeldempfänger freiwillig in Arbeit zwingen soll. Mit einer neuen "bürokratiearmen Meldepflicht" (BAM) sollen Betroffene dauerhaft unter Aufsicht gestellt und verpflichtet werden, sich einmal im Monat bei ihrer betreuenden Amtsperson bei der Bundesagentur für Arbeit zu melden. 

Die Hoffnungen der Bundesregierung ruhen hier natürlich darauf, dass eine Vielzahl neuer Beamten für die Entgegennahme, Prüfung und Kontrolle der Monat für Monat eingehenden 5,5 Millionen Meldungen benötigt werden. Gerade die aufgrund der Steuerrabbattversprechen  neu zuströmenden Menschen aus bürokratisch hochorganisierten Ländern wie Syrien, dem Irak oder Pakistan können über diese Brücke einen schnellen Direkteinstieg in den deutschen Arbeitsmarkt schaffen. Geplant ist zudem, die neu zu errichtende Bürgergeldmeldungskontrollbehörde (BGMKB) im Rahmen der Bundesbehördenansiedlungsoffensive (BBAO) in einem der früheren Braunkohlereviere im Osten aufzubauen.