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SPRACHE / LANDSERDEUTSCH Kaum schießen

aus DER SPIEGEL 45/1970

Das Stichwort heißt »a. A. d. W.« und bedeutet: »in abgelegenster Weltgegend; auf weit vorgeschobenem Posten jenseits der allgemeinen Front«.

Welche Wörter sich hinter diesen vier Buchstaben verbergen, verrät der rheinische Sprachforscher Dr. Heinz Küpper nicht ohne weiteres. Interessierte Leser des bislang einzigen Buches über Landserdeutsch, das jetzt von ihm veröffentlicht wurde*, verweist er lediglich auf: »Vgl. Arsch 19.« Am angegebenen Ort findet sich »am A. der Welt«.

Das Wort Arsch ist wiederum abgekürzt, doch weniger aus Prüderie als aus Platzersparnis, weil es in 104 verschiedenen Redewendungen hintereinander registriert ist.

Rund 12 000 Stichwörter aus Landserleben und Latrinenmief hat Küpper zusammengetragen. Der Sammler selber freilich hat nie gedient. Der studierte Philologe verbrachte den Krieg als »Schwielenarsch« (Landserdeutsch für Angestellte) in einer Behörde -- ausgenommen ein paar Wochen gegen Kriegsende, die er beim »Volksgesäusel« (Landserdeutsch für Volkssturm) mitmarschierte.

Seit 15 Jahren sammelt Küpper landläufige Vokabeln, zuerst noch nebenberuflich als Berufsberater beim Arbeitsamt Mainz, seit vier Jahren hauptberuflich. Sein Hauptwerk ist das bislang sechsbändige »Wörterbuch der deutschen Umgangssprache«.

In 70 Zettelkästen hortet Küpper rund 130 000 Stichwörter, die sich jeden Monat um 1000 vermehren. Rund 700 deutschsprachige Periodika schleppt der Briefträger ins Küpper-Heim. Über tausend freiwillige Mitarbeiter -- Universitätsprofessoren wie Zuhälter, Geistliche wie Hausfrauen --

* Heinz Küpper: »Am A ... der Welt«. Claassen Verlag, Hamburg und Düsseldorf; 218 Seiten; zehn Mark.

senden Material. Und obendrein horcht der Forscher noch Radio und Fernsehen nach unbekannten Wörtern ab.

Trotz der gesammelten Wortschätze geriet der »Zivilheini« Küpper beim Zusammentragen von Landserdeutsch zuweilen in Erklärungs-Nöte: So bleibt unerfindlich, warum die Abkürzung »a. d. D. sein« besagen soll, jemand befinde sich »auf dem Weg zur Latrine«.

Die Bedeutung der meisten soldatischen Kraftausdrücke freilich offenbart sich auch schlichten und zivilen Denkern. Weitaus häufiger als vom erlernten Waffenhandwerk ist vom angeborenen Stoffwechsel die Rede: Scheißen kommt im Landserdeutsch dauernd vor, schießen kaum.

Denn der soldatische Verdauungsprozeß war Gegenstand ungemein zahlreicher Wortschöpfungen, von denen nur wenige Anspruch auf sublimeren Humor erheben, wie etwa »Meister vom Stuhl« (Facharzt für Darmkrankheiten) oder »Arbeiterorchester« (Gruppe von Leuten nach dem Genuß von Hülsenfrüchten). Und weniger Front-Witz als Front-Not prägte das Wort »Friedensschiß« (Küpper: »Notdurftverrichtung in aller Ruhe und von Dauer").

Schier unerschöpflich waren die verbalen Varianten der Soldaten-Liebe. Allein für den Penis registrierte Küpper mehr als ein halbes Hundert Umschreibungen, darunter »Arbeitgeber«, »Büchsenöffner«, »Glockenschwengel«, »Liebesknochen«, »Mittelstürmer«, »Triebwerk« und »Vergnügungswurzel«.

Mit »Laufjunge« wurde das venerisch infizierte Glied gekennzeichnet, dessen Besitzer nicht die befohlene »Nahkampfsocke« (Präservativ) getragen hatte und zwecks Heilung in die »Ritterburg« einziehen mußte.

Ferngetraute Kameraden bekamen den Spitznamen »Fernficker«, während sich kinderlose Ehemänner als »Tittenficker« verdächtigt sahen. Liegestütze auf dem Kasernenhof galten als »Ehestandsübungen«. Intimkontakte im Freien zählten als »Hermann-Löns-Gedächtnis-Nummern«.

Der Kommißkaffee, der nach unausrottbarer Soldaten-Legende zur Dämpfung der Triebkraft mit Soda versetzt war, hieß »Hängolin«. Unter »Außenbordkamerad« war ein Hering zu verstehen; Fleischgerichte, die sich nicht definieren ließen, liefen unter »gehackter Missionar«.

Mit Galgenhumor versuchten die Landser, die Angst vor dem Tod zu überspielen. Die Zeltbahn, in der ein Gefallener beigesetzt wurde, galt als »Walhalla-Droschke«, und der Beerdigte »geriet unter die Engerlinge« -- manchmal unter Assistenz eines »Beerdigungskomikers« (Feldgeistlicher).

Gleichwohl bewahrten sich auch die abgebrühtesten Teilnehmer der »zweiten Hochsaison« (Weltkrieg II) noch ein Gespür für Pietät. Wenn sie »etwas sehr Anstößiges« (Küpper) kurz und militärisch formulieren wollten, sagten sie »Kirchenfurz« dazu.

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