Bizarre Videos des Präsidenten gehen viral und lassen Zweifel an Joe Bidens Regierungsfähigkeit wachsen. Manche sind allerdings manipuliert. Das kommende Fernsehduell wird mehr Klarheit bringen.
Es hätte ein Triumph für Joe Biden sein sollen. Letztes Wochenende trat der amerikanische Präsident zusammen mit seinem Vor-Vorgänger Barack Obama in Los Angeles vor ein über tausendköpfiges Publikum; es wimmelte nur so von Hollywoodstars. Das Duo demonstrierte im lebhaften Gespräch Einigkeit und Entschlossenheit, Donald Trump ein weiteres Mal zu besiegen.
Der Abend brachte rekordhohe 30 Millionen Dollar Spendengelder ein. Ein voller Erfolg, also? Nein, nicht im Auge der Öffentlichkeit in den sozialen Netzwerken.
Denn ein unvorteilhaftes Video ging nach dem Anlass viral. Es zeigt, wie Biden nach dem Schlussapplaus so lange unbeweglich stehen bleibt, bis ihn Obama am Arm packt und fürsorglich von der Bühne führt. Der Eindruck eines greisen Präsidenten, der nicht weiss, wohin er geht, bleibt hängen und lässt sich von der Trump-Fangemeinde ausschlachten. «Ist das normal?», fragt jemand auf X und erhält über 20 000 Likes. Die Republikanische Partei retweetet den Clip, und Trump kommentiert im Netzwerk Truth Social suffisant: «Ist das wirklich der Präsident, den wir wollen?»
Man könnte das Video als Bagatelle abtun, doch Bidens Aussetzer häufen sich in letzter Zeit. Eine ähnliche Szene spielte sich am G-7-Treffen in Italien ab. Während eines Fototermins mit den anderen Staatsoberhäuptern löst sich Biden plötzlich aus der Gruppe und driftet langsam aus dem Bild. Nach einem Kameraschwenk sieht man Biden auf einen Fallschirmspringer einreden, der ihn nicht bemerkt. Auch hier greift ihn jemand am Ärmel, um ihn wieder auf die richtige Bahn zu lenken: Die G-7-Gastgeberin Georgia Meloni macht die Intervention.
Genüsslich verbreiten Online-Trolle aus dem Trump-Lager das Video millionenfach. Traditionelle Medien in der ganzen Welt berichten darüber.
Das Weisse Haus übt sich jeweils nach solchen Fauxpas in Schadensbegrenzung. Die Videos seien «Cheap Fakes» und würden aus böser Absicht verbreitet, sagte die Mediensprecherin Karine Jean-Pierre etwa diesen Montag. Der Präsident selber wischt die Pannen jeweils mit einer Portion Selbstironie vom Tisch.
Viele der Anti-Biden-Videos sind tatsächlich manipuliert. Die Produzenten wählen besonders peinliches Filmmaterial aus und blenden die Umgebung realitätsverzerrend aus. So ist in einem andern Machwerk zu sehen, wie sich Biden scheinbar zu setzen versucht, ohne dass ein Stuhl vorhanden wäre. Die Perspektive ist so gewählt, dass der Stuhl in der Aufnahme unsichtbar ist. Andere Videos verlangsamen die Bewegungen Bidens, um seinen angeblichen kognitiven Zerfall vorzuführen. Dieserart manipulierte Videos nennen sich «Cheap Fakes», im Gegensatz zu «Deep Fakes», die künstlich erzeugt sind. Bei den oben erwähnten Beispielen in Los Angeles und Italien handelt es sich allerdings nicht um Fakes, entgegen der Behauptung von Bidens Mediensprecherin.
Ganz wegerklären lassen sich die Auffälligkeiten nicht. Kürzlich verhaspelte sich Biden beispielsweise während seiner Ansprache vor dem Weissen Haus am nationalen Feiertag zum Andenken der Sklavenbefreiung, dem Juneteenth. Obwohl Biden vom Teleprompter liest, weiss er mitten in einem Satz nicht mehr weiter und hält ein. Erstaunlich ist, wie er reagiert: Er füllt die kognitive Lücke mit unverständlichen Silben. Es ist, als ob aus dem Sprachzentrum Bidens eine dadaistische Greisensprache purzelt.
Eine hämische Transkription verbreitete sich schnell: «She knew suhlngasuheruhhnied our freedom can never be secured.» Der Satz hätte eigentlich nach dem Skript des Weissen Hauses folgendermassen lauten sollen: «She knew, so long as our history was denied, our freedom can never be secured.» Auf Deutsch: Sie wusste, dass unsere Freiheit niemals gesichert werden kann, solange unsere Geschichte verleugnet wird.
Sprachliche Aussetzer, erratisches Verhalten, ein steifer Gang, bisweilen ein leerer Blick: Die Symptome eines Hochbetagten sind nicht mehr zu übersehen. Amerika beschäftigt sich in diesem Wahljahr zunehmend mit der Frage: Wie beeinträchtigt ist Biden?
In Mainstream-Medien sind zweifelhafte Ferndiagnosen im Trend. Von Depression über Demenz bis Parkinson werden dem Präsidenten von unseriösen Medienärzten allerhand Krankheiten angehängt. Ähnlichen Spekulationen war Trump während seiner Präsidentschaft ausgesetzt, als seine Zurechnungsfähigkeit in den linksliberalen amerikanischen Medien breit diskutiert wurde. Die sogenannte Goldwater-Regel der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft untersagt Ferndiagnosen ohne Einwilligung eines Patienten.
Der jährliche medizinische Bericht zur Gesundheit des Präsidenten fiel im Februar unauffällig aus. Eine «periphere Neuropathie» sorge für den steifen Gang und die starren Hände. Abgesehen von einem Reflux und einer Schlafapnoe sei der Präsident gesund und fähig, sein Amt auszuüben, hält der vom Leibarzt des Präsidenten verfasste Bericht fest. Überprüfen lassen sich die Angaben nicht, die Untersuchungen erfolgen vertraulich.
Der Altersneurologe Filip Barinka vom Swiss Clinical Neuroscience Institute will sich nicht auf die Äste hinauslassen. «Eine Demenz, Alzheimer oder Parkinson kann man Joe Biden anhand dieser Aussetzer und anderer Anzeichen nicht anhängen», sagt der Mediziner. Dazu müsste es schwerwiegendere Vorfälle geben, beispielsweise wenn er im Weissen Haus von einem Flügel nicht in den anderen fände. Davon sei aber nichts bekannt.
Eine Diagnose anhand von Videos zu machen, sei ohnehin nicht möglich. Man könne höchstens Vermutungen anstellen. Laut Barinka sind Bidens Symptome – unkoordinierte Bewegungen, Aussetzer – keineswegs zwingend ein Zeichen für eine Erkrankung. Trotzdem findet er die Anzeichen besorgniserregend: «Das Verhalten ist schon auffällig. Solche Aussetzer können aber schlicht ein Zeichen sein für eine massive Übermüdung und Überforderung.» Im Alter lasse die Leistungsfähigkeit nach, ausserdem entstünden Gefässschäden im Gehirn, welche die Verarbeitungsgeschwindigkeit verlangsamen könnten. «Man sollte weder Herrn Biden noch seinem Volk eine zweite Amtszeit antun. Das gilt ebenso für Herrn Trump, der nur drei Jahre jünger ist», sagt Barinka.
Dass dieses Jahr ein 81-jähriger Präsident und ein 78-jähriger Herausforderer kandidieren, befremdet am meisten die amerikanische Wählerschaft. In einer Umfrage äusserten im März 73 Prozent der Befragten Zweifel an der Fähigkeit Bidens, das Land erfolgreich zu führen. Bei Trump waren es nur 41 Prozent. Der Tenor aus dem Volk ist klar: Das Alter ist primär Bidens Problem.
Das macht es schwieriger für die Demokraten, eine ähnliche Gegenkampagne gegen den ebenfalls betagten Trump zu organisieren. Aber untätig sind sie nicht, wie dieses Beispiel zeigt.
Produziert wurde das Video von der Nachrichtenplattform Meidas Touch, einem der meistbesuchten Youtube-Kanäle in den USA. Der Videoclip, der eine Auswahl von Namensverwechslungen durch Donald Trump zeigt, wurde über 4 Millionen Mal angeschaut. Meidas ouch wurde durch demokratische Geldgeber 2020 gegründet, um eine Wiederwahl Trumps zu vermeiden. In den offiziellen Kampagnen der Demokraten steht die Zurechnungsfähigkeit Trumps stärker im Vordergrund als das Alter.
Wer gewinnt den Video-Propagandakrieg rund um Alter und Zurechnungsfähigkeit? Wenn man das Videomaterial in den sozialen Netzwerken sichtet, scheint Präsident Biden bei seinen Auftritten derzeit schlicht mehr Material zu liefern, das ausgeschlachtet werden kann.
Das einzige Gegenmittel im Propagandakrieg ist die Realität. Kommende Woche werden die Amerikanerinnen und Amerikaner die Möglichkeit haben, sich selber ein Bild vom Zustand der Präsidentschaftskandidaten zu machen. Am 27. Juni, noch vor der offiziellen Nominierung der Kandidaten durch die Parteien, findet die erste Fernsehdebatte statt. Für Präsident Biden ist es eine Chance, zu beweisen, dass er ein erfahrener Staatsmann ist, der trotz Altersgebrechen fähig ist, die Weltmacht USA in die Zukunft zu führen. Über 70 Millionen Zuschauer schalteten sich beim ersten Live-Duell zwischen Trump und Biden vor vier Jahren zu.
Man darf den diesjährigen Realitätstest mit Spannung erwarten. Dass die traurige Frage, welcher Kandidat unzurechnungsfähiger ist, in diesem Wahljahr so viel Raum einnimmt, stimmt allerdings nachdenklich.