Der ewige Spießer
Ödön von Horváth
1. Das Wichtigste auf einen Blick – Schnellübersicht
Damit sich Leser:innen in unserem Band rasch zurechtfinden und das für sie Interessante gleich entdecken, hier eine Übersicht:
Im 2. Kapitel wird Ödön von Horváths Leben und Werk kurz vorgestellt. Dazu wird auch der zeitgeschichtliche Hintergrund der Jahre 1928 bis 1931 erläutert.
Ödön von Horváth wurde 1901 geboren, wuchs in Belgrad, Budapest, München, Preßburg (heute: Bratislava) und Wien auf, wo er 1919 das Abitur erfolgreich ablegte. Als Student der Germanistik und Theaterwissenschaft in München begann er mit ersten literarischen Versuchen. Ab 1926 kam es zu Inszenierungen seiner ersten Theaterstücke, 1929 erhielt er einen Vertrag beim Ullstein-Verlag. In den Jahren 1931 und 1932 wurden seine bekannten Volksstücke in Berlin uraufgeführt. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verlässt Horváth Wien. Am 1. Juni 1938 stirbt er in Paris, weil er während eines Gewitters von einem herabstürzenden Ast getroffen wurde.
Der Roman Der ewige Spießer spielt am Ende der 1920er Jahre in München. Diese Zeit ist geprägt durch die Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland durch hohe Arbeitslosigkeit, Unternehmens-Insolvenzen und Einbrüche am Aktienmarkt spürbar war. Außerdem entwickelte sich eine zunehmende innenpolitische Radikalisierung, und es begannen heftige Auseinandersetzungen zwischen kommunistischen und rechtsradikalen Gruppierungen. In Spanien, Italien und Österreich war die demokratische Ordnung durch rechtsradikale und faschistische Bewegungen schon außer Kraft gesetzt oder in Gefahr.
Andere bekannte literarische Werke von Ödön von Horváth sind die Theaterstücke Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1933, UA 1936) sowie der Roman Jugend ohne Gott (1937).
Im 3. Kapitel wird eine Textanalyse und -interpretation geboten.
Der ewige Spießer – Entstehung und Quellen
Der Roman ist in den Jahren 1928 bis 1930 entstanden. Schon in früheren Prosaarbeiten hat sich Ödön von Horváth mit dem Kleinbürgertum und mit der Rolle der Frau beschäftigt. Der Roman wurde Ende 1930 im Propyläen-Verlag (einem Sub-Label des Ullstein Verlags in Berlin) veröffentlicht.
Inhalt:
Im ersten und gleichzeitig längsten Teil des Romans steht Alfons Kobler im Mittelpunkt. Der unseriöse Münchner Autohändler hat mit einem minderwertigen Cabriolet ein gutes Geschäft gemacht und startet nun von seinem Gewinn eine Bahnreise zur Weltausstellung in Barcelona. Dabei durchfährt er Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und Spanien, er lernt verschiedene Mitreisende kennen. Sein Ziel, dabei eine reiche Touristin zu erobern, scheitert jedoch, und er macht sich frustriert wieder auf den Rückweg.
Der zweite Teil schildert das Schicksal des Fräuleins Anna Pollinger, die als Sekretärin in einer Kfz-Vermietung im September 1929 arbeitslos wird. Aus finanzieller Not sieht sie sich gezwungen, als Aktmodell und später sogar als Prostituierte Geld zu verdienen.
Im dritten Teil lernt Anna Pollinger den ebenfalls arbeitslosen Eugen Reithofer kennen, der von ihrem Nebenerwerb zunächst abgestoßen ist, ihr dann aber doch selbstlos zu einer Stelle als Schneiderin verhilft.
Chronologie und Schauplätze:
Der Roman hat drei unterschiedlich lange Teile. Teil 1 enthält 26 Unterkapitel, Teil 2 nur elf und Teil 3 gerade noch sechs. Der Zeitraum des Romans erstreckt sich von Mitte September bis Anfang November 1929. Schauplatz ist die Innenstadt von München, dazu kommen im ersten Teil die Stationen von Koblers Bahnreise von München über Mailand und Marseille bis Barcelona und im zweiten Teil ein Ausflug an den Starnberger See.
Personen:
Die Hauptpersonen sind:
Alfons Kobler
ist 27 Jahre alt, war ein windiger Autoverkäufer bei der Firma Gebrüder Bär, macht sich dann aber selbstständig.
Er lässt sich von einer deutlich älteren ehemaligen Hofopernsängerin finanziell aushalten und wohnt bei der Arztwitwe Perzl zur Untermiete.
Mit dem Erlös aus einem Autoverkauf startet er eine Reise zur Weltausstellung nach Barcelona.
Anna Pollinger
etwa 21 Jahre alt, war Sekretärin bei der Kraftwagenvermietung „National“ und wird nach der Liquidation dieser Firma arbeitslos.
Aus finanzieller Not und auf Ratschlag ihres Zimmernachbarn Herrn Kastner verdingt sie sich als Aktmodell und Prostituierte auf der Straße.
Eugen Reithofer
Der Mittdreißiger ist ein arbeitsloser Kellner aus Österreich, der auf dem Arbeitsamt Anna Pollinger kennenlernt.
Obwohl er sich von der Prostituierten getäuscht fühlt, hilft er ihr bei der Erlangung eines Arbeitsplatzes als Schneiderin.
Rudolf Schmitz
Der Endfünfziger fährt als österreichischer Journalist im Auftrag mehrerer Zeitungen zur Weltausstellung nach Barcelona.
Im Zug lernt er Alfons Kobler kennen, den er durch sein umfassendes Allgemeinwissen beeindruckt.
Rigmor Erichsen
Die junge Frau ist die Tochter eines Großindustriellen aus Duisburg.
Auf der Bahnfahrt nach Barcelona trifft sie Kobler und Schmitz im Abteil und verbringt mit den beiden ein paar Tage auf der Weltausstellung.
Koblers Hoffnung auf eine ertragreiche Liaison kann sie jedoch trotz einer gemeinsam verbrachten Nacht nicht erfüllen, da sie bereits mit einem amerikanischen Geschäftsmann verlobt ist.
Herr Kastner
Ein Mann mittleren Alters, der ebenfalls in Untermiete bei Anna Pollingers Tante wohnt.
Er hat es – ohne Erfolg – auf Anna abgesehen, vermittelt ihr den Job als Aktmodell und gibt ihr, wohl mit Hintergedanken, die Empfehlung, ihre Weiblichkeit „praktisch“ zu nutzen, sprich, ihren Körper zu verkaufen.
Harry Priegler
Priegler ist ein junger, gutaussehender und finanziell offensichtlich gut ausgestatteter Eishockeyspieler, der bei Frauen bestens ankommt.
Er lädt Anna mit seinem Sportwagen zu einer Spritztour an den Starnberger See ein und erwartet auf der Rückfahrt eine sexuelle Gegenleistung.
Die Personenkonstellation muss infolge der Dreiteilung des Romans differenziert betrachtet werden. Nur Anna Pollinger kommt in allen drei Teilen vor, während Alfons Kobler nur im ersten Teil und Eugen Reithofer nur im dritten Teil die Hauptrolle spielt.
Stil und Sprache Ödön von Horváths:
Der Roman ist in einem normal- bis umgangssprachlichen Ton geschrieben, eine gewisse Nähe zum großstädtischen oberbayerischen Dialekt ist immer wieder erkennbar. Der Satzbau ist recht einfach gehalten. Die wörtlichen Reden der Personen sollen oft deren Unlogik und deren mangelndes Bildungsniveau verdeutlichen; hinzu kommt der die Figuren entlarvende Einsatz von Phrasen.
Verschiedene Interpretationsansätze bieten sich an:
Wie der Titel schon andeutet, geht es um eine Typologie des Spießers vor dem Hintergrund einer politisch und wirtschaftlich krisenhaften Zeit in Deutschland. Gleichzeitig scheint es sinnvoll, die weitere Entwicklung des abwertenden Begriffs „Spießer“ bis in die Gegenwart zu analysieren.
Die Reise von Alfons Kobler von München nach Barcelona erinnert an das Motiv einer klassischen Bildungsreise. Hier ist allerdings ein definitiv Ungebildeter unterwegs, der mit der Reise ganz andere, nämlich handfest materielle und hedonistische Interessen verbindet.
Ein zentrales Motiv bei Horváth ist die Dummheit, die sich in der Sprache und im Verhalten seiner Personen manifestiert und die der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
Der Roman kann auch als soziologische Studie verstanden werden, als ein Panorama des Mittelstandes und des Kleinbürgertums während der Weltwirtschaftskrise.
Ein anderer Typus, der bei Horváth eine wichtige Rolle spielt, ist das junge „Fräulein“. In einer von Männern dominierten Gesellschaft mit autoritären Strukturen werden diese Figuren in seinen Dramen und Romanen zu Opfern der Verhältnisse.