Die Gegenwart

Das Ende der grünen Hegemonie

15 Minuten

Pierre Soulages, Peinture 190 x 150 cm, 1970 

VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Manchmal geht alles ganz schnell. Dann verändern Ereignisse nicht nur den Lauf der Dinge. Sie verändern auch das öffentliche Sprechen. Was gestern noch tabu war, gilt auf einmal als selbstverständlich, und die Gewissheit von gestern wird zum Stein des Anstoßes von heute. Unter der Oberfläche haben sich Veränderungen angestaut, die durch die Ereignisse zum Ausbruch kommen.

Alle 15 bis 20 Jahre hat die Bundes­republik einen solchen Paradigmenwechsel erlebt: Mit dem ersten Ölpreisschock ging im Jahr 1973 das Ende der Moder­nisierungsideologie einher; der Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze markierte das Ende des Kalten Krieges; die Weltfinanzkrise des Jahres 2008 stellte die Hegemonie der neoliberalen Deutungsmuster infrage. Und die Krisen des Jahres 2023 zerstörten das grüne Paradigma, das in Deutschland seither die Oberhand gewonnen hatte.

Paradigmen werden durch den Rahmen dessen bestimmt, was gemeinhin als richtig und als falsch gilt und was man öffentlich sagen kann, ohne sich zu iso­lieren. Das ist Elisabeth Noelle-Neumanns klassische Definition von „öffentlicher Meinung“, neudeutsch: „Framing“. Solche Rahmen sind nicht statisch, sondern Gegenstand von Deutungskämpfen, durch die sie befestigt oder verschoben werden. Die Rede von der „Brandmauer“ etwa dient dazu, die Abgrenzung von der AfD zu befestigen, während das Wort vom „Vogelschiss“ die Absicht verfolgte, den Rahmen des öffentlichen Geschichtsbilds zu verschieben. Die Rede von der „Brandmauer“ wird durch öffentliche Wie­derholung befestigt, die Rede vom „Vogelschiss“ wurde durch mediale Zurückweisung in der Breite geächtet, in einem Teilmilieu hingegen bestätigt.

Die öffentliche Meinung ist nicht nur ein diskursives oder kulturelles Phänomen. Sie ist auch von enormer praktischer Bedeutung. Die Grenzen des Sagbaren bestimmen in demokratischen Systemen den Rahmen des Machbaren. Oft bemerkt man ihn erst dann, wenn sich jemand aus der Konsenszone des öffent­lichen Diskurses hinaus in die Grenzbereiche des Sagbaren bewegt. Und weil demokratische Politiker dies üblicherweise meiden, da an diesen Grenzen Skandal und Ächtung drohen, ist dieser Rahmen des Denkens und des Redens so entscheidend. Ohne dass die meisten Bürger ihn bemerken, bestimmt er die politischen Entscheidungen vorher.

Öffentliche Deutungshoheit erfordert keine Mehrheit

Wer die Grenzen des Sagbaren abstecken und über den öffentlichen Diskursraum bestimmen kann, verfügt über „kulturelle Hegemonie“, wie es der Marxist Antonio Gramsci vor fast hundert Jahren formuliert hat. Sie geht politischer Macht voraus. Wer die öffentliche Deutungshoheit besitzt und die eigenen Vorstellungen als allgemein erstrebenswert etablieren kann, braucht keine Mehrheiten und muss nicht einmal formell regieren, um Macht im Staate auszuüben. Ein etabliertes Paradigma regiert. So erklärt sich, dass die SPD im Zeichen des neoliberalen Paradigmas um die Jahrtausendwende auch ohne Regierungsbeteiligung der FDP das Konzept der „unternehmerischen Universität“ beförderte, die sich statt an ihrem Bildungsauftrag in erster Linie an den Gesetzen des Marktes orientiert. Und die Grünen waren 16 Jahre lang in der Oppo­sition, derweil alle Merkel-Regierungen dem grünen Paradigma vom Atomausstieg bis zur Migrationspolitik folgten.

Geschichte bedeutet freilich, dass kulturelle Hegemonie immer nur auf Zeit errungen wird und dass Paradigmen immer in Bewegung sind. Und oft sind es eruptive äußere Anlässe, die grundlegende Verschiebungen zur Folge haben. So geschah es 1973 mit dem modernisierungsideo­logischen Paradigma. Die Sechzigerjahre waren die Zeit eines überbordenden Zukunftsoptimismus gewesen. Alles schien machbar und planbar, Wissenschaft und Technik waren der Schlüssel für die bemannte Raumfahrt zum Mond ebenso wie für Überschallflüge zwischen den Kontinenten. Die autogerechte Innenstadt sorgte für optimale Mobilität in der Stadt, und funktional leben ließ sich in den neu gebauten Trabantenstädten nach dem Vorbild von Le Corbusiers „Wohnmaschinen“. Alles schien eine Frage rationaler Planung und Steuerung: Die sozialliberale Koalition, die 1969 in Bonn an die Macht kam, setzte auf die Planung langfristiger Reformen. Den Kapriolen der Wirtschaft sollte die Politik der „Globalsteuerung“ ein Ende machen, und die FDP unterhielt gar ein eigenes „Institut für politische Planung und Kybernetik“.

In diese von Optimismus geprägte Phase fielen im Herbst 1973 der erste Ölpreisschock und eine Konjunkturkrise, die sich mit den Mitteln der Globalsteuerung wider Erwarten nicht bewältigen ließ. Stattdessen sorgten ausbleibendes Wachstum bei gleichzeitiger Inflation sowie steigende Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung für Ratlosigkeit. Innerhalb kurzer Zeit beendete Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) im Jahr 1974 die Reformplanung, und das „Ins­titut für politische Planung und Kyber­netik“ stellte seine Publikationstätigkeit ein. Allgemein wurde eine „Tendenzwende“ diagnostiziert, die sich gegen technokratische Machbarkeitsvorstellungen und einen linearen Fortschrittsop­timismus wandte. Nach 16 Exemplaren wurde in Frankreich der Bau des Überschallflugzeugs Concorde eingestellt, und die Stadtplanung wandte sich von den Hochhaussiedlungen ab.

Nachhaltig wirkte sich dieser Paradigmenwandel vor allem auf dem Feld der politischen Ökonomie aus: mit der Abwendung vom keynesianischen Glauben an die politische Steuerung der Wirtschaft hin zur Marktorientierung Milton Friedmans. Es waren insbesondere die USA zur Zeit der Präsidentschaft Ronald Reagans und Großbritannien in der Ära Margaret Thatchers, die in den Achtzigerjahren auf die Freisetzung von Marktkräften durch Deregulierung und Privatisierung setzten. Alles in allem kam es zu einem erheb­lichen Wohlstandsschub und weltweit zur signifikanten Reduzierung von Armut. Am Ende des Jahrzehnts herrschte in der gesamten westlichen Welt der „Washington Consensus“: die Überzeugung von der Notwendigkeit konsolidierter Staatshaushalte und stabiler Währungen, von Freihandel, deregulierten Märkten und dem Ab­bau von Subventionen.

Mit diesen Überzeugungen erlebte der Westen die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die einen zweiten Kipppunkt nach 1973 herbeiführte – diesmal allerdings nicht als Tendenzwende, sondern als Verstärkung. Im Glauben, nicht nur den Kalten Krieg gewonnen, sondern auch das „Ende der Geschichte“ erreicht zu haben, setzte der Westen auf die globale Verbreitung seiner Vorstellungen, während Di­gitalisierung und neue Märkte für ungekannte Volumina und Umlaufgeschwindigkeiten von Kapital sorgten. Nach 1990 erlebte die Marktorientierung eine massive Verstärkung – und zugleich ihre Ideologisierung.

Verlust der Sinnzusammenhänge

Unter dem neuen neoliberalen Paradigma waren es keine radikalliberalen oder rechten Regierungen, sondern Bill Clintons Demokraten, Tony Blairs New Labour und die erste rot-grüne Regierung in Deutschland, die zunehmend dynamische und entgrenzte Märkte nicht einhegten, sondern weiter deregulierten. Und mehr als das: Eine neoliberale Marktideologie setzte darauf, immer weitere Gesellschaftsbereiche von der „Bildungsökonomie“ über die „unternehmerische Universität“ bis zum Gesundheitswesen nach den Prinzipien des Marktes umzugestalten und durch quantifizierende Instrumente zu steuern: Quoten und Zahlen, Rankings und Modelle verselbständigten sich vom Hilfsmittel zum Ziel an sich.

Über der Quantifizierung gingen aber die Sinnzusammenhänge verloren. Gleichzeitig sorgten scheinbar unaufhaltsam steigende Immobilienpreise in den USA, aber auch Kursfeuerwerke am Aktienmarkt für einen kollektiven Rausch – bis die große Blase platzte. Mit der Welt­finanzkrise von 2008 verlor das neoliberale, marktideologische Paradigma ebenso an Glaubwürdigkeit, wie es dem keynesianischen Paradigma 1973 widerfahren war. 2010 musste sich der Westen in Davos von dem chinesischen Ministerpräsidenten anhören, sein Wirtschaftsmodell sei undiszipliniert, nicht nachhaltig und falsch.

Was aber sollte an die Stelle des Glaubens treten, dass die Märkte für rationale und effiziente Steuerung sorgten? Zunächst kehrte der Staat zurück, den der Neoliberalismus an die Seitenlinie verbannt hatte. Staaten mussten Banken retten, und mit der Kritik an den Auswüchsen neoliberaler Privatisierungen und Dere­gulierungen wuchsen neue Ansprüche an staatliche Regulierung und Steuerung. In das politisch-kulturelle Vakuum, das die Marktideologie hinterlassen hatte, strömte derweil ein Denkmuster ein, das sich seit den Achtzigerjahren in vielen westlichen Gesellschaften aufgebaut hatte: das grüne Paradigma.

Parteipolitisch etablierte sich das neue Paradigma in Deutschland mit der Gründung der Partei „Die Grünen“ im Januar 1980. Sie wurzelte in den neuen sozialen Bewegungen der späten Siebziger­jahre: der Friedensbewegung, der Umwelt- und Antikernkraftbewegung sowie der neu­en Frauenbewegung. Überhaupt ist die grüne Bewegung ein Kind der dekonstruktivistischen Postmoderne, die sich seit den Siebzigerjahren an westlichen Uni­versitäten verbreitete. Ihr Wesenskern lag in der Kritik an der „großen Erzählung“ (Jean-François Lyotard) der westlichen Mo­derne, vom zivilisatorischen Fortschritt durch Aufklärung und Rationalität, Industrialisierung und Technologie. Diese Ordnung werde, so Michel Foucault, durch Muster des Sprechens etabliert, wäh­rend das Abweichende, so noch einmal Lyotard, durch den Konsens des herrschenden Paradigmas ausgeschlossen werde.

Zunehmend auf der politischen Agenda

Postmodernes Denken nahm stattdessen die Defizite und Schattenseiten der westlichen Industriegesellschaften in den Blick. Die grünen Bewegungen verfolgten emanzipatorische Ansätze, wenn sie für Umweltschutz und Nachhaltigkeit, Frieden und globale Gerechtigkeit, Frauenrechte und ein Ende der Diskriminierung sexueller Minderheiten eintraten. Dabei zeichneten sich neben der Friedensbe­wegung drei weitere Foren ab. Die Ökologiebewegung etablierte das The­menfeld Klima und Energie, wobei der Schwerpunkt zu Beginn auf der Antiatomkraftbewegung lag und der Klimaschutz erst später in den Fokus rückte. Das Themenfeld Gender und Sexualität wurde zunächst von der neuen Frauen­bewegung bezogen. Sie nahm die Geschlechterrollen der bürgerlichen Gesellschaft ins Visier, die Frauen den Bereich des Hauses und der Familie, Männern hingegen die Sphäre der Erwerbstätigkeit und der Öffentlichkeit zugewiesen hatte. Da es diese Sphäre war, in der sozialer Status erworben wurde, zielte die neue Frauenbewegung vor allem auf mehr Erwerbstätigkeit und die Lösung von Frauen aus Familienrollen. Hinzu kam die Emanzipation von Marginalisierten der bürgerlichen Moralordnung: von Homosexuellen, später von Transsexuellen und all­gemein von „Queers“. Das dritte The­menfeld von Migration und Integration ging auf den Postkolonialismus zurück. Er setzte der Vorstellung einer westlichen Zivilisation, die der Welt Demokratie und Menschenrechte, Fortschritt und Wohlstand gebracht habe, die koloniale Er­fahrung vieler Weltregionen entgegen, die den Westen vor allem in Form von Fremdherrschaft und Ausbeutung erlebt hatten.

Diese Diskurse verbreiteten sich und bestimmten zunehmend auch die po­litische Agenda, insbesondere nach der Finanzkrise des Jahres 2008. So wie das neoliberale Paradigma die Politik der Regierung Schröder bestimmt hatte, so bestimmte die grüne Diskurshoheit zunehmend die Politik der Regierungen Merkel – und noch 2022 gab die CDU dem linken Begriff der „Gleichstellung“ den Vorzug vor dem liberalen Konzept der „Gleichberechtigung“ und beschloss das urgrüne Instrument einer paritätischen Frauenquote.

Doch der Erfolg frisst seine Kinder. Mit zunehmender Verbreitung neigte das grüne Paradigma zur Verabsolutierung, zur Ideologisierung und zur Radikalisierung. Die „Energiewende“ schlug mit dem Plan, alles zu elektrifizieren, allein auf erneuerbare Energien zu setzen und Kernenergie auszuschließen, einen deutschen Sonderweg ein. Geschlechterpolitisch wurde non-binäre Diversität schon Kindern als neue Normalität beigebracht, während eine vom Bundesfamilienministerium geförderte „Meldestelle Antifeminismus“ eingerichtet wurde, um kritische Äußerungen gegenüber der „Stärkung geschlecht­licher Selbstbestimmung“ zu sammeln. Die postkoloniale Kritik wiederum beförderte mit dem Verweis auf die Schuld des Westens an sozialen, politischen und klimatischen Krisen weltweit eine ungesteuerte Migrationspolitik offener Grenzen.

Generell verbreitete sich unter dem grünen Paradigma ein neues Narrativ: Das westliche Gesellschaftsmodell auf der Grundlage von individueller Freiheit und Pluralismus, Marktwirtschaft und Wett­bewerb sei „strukturell“ zerstörerisch und diskriminierend. Dabei wurde die von dekonstruktivistischer Seite kritisierte Praxis des „Othering“ schlicht und einfach umgekehrt: Nicht mehr das Eigene wurde als gut und das Andere als minderwertig etikettiert, sondern das Andere als gut und das Eigene als schlecht – nichts anderes besagte Katrin Göring-Eckardts Äußerung aus dem Jahr 2015, Massenmigration werde das Land „drastisch“ verändern, „und ich sag euch eins: Ich freu mich drauf“. Denn wenn alles, was anders wird, besser ist, muss das Eigene so schlecht sein, dass es nur besser werden kann.

Das Instrument der Moralisierung

Die grüne Deutungshegemonie hatte die „große Erzählung“ nicht überwunden, wie Lyotard 1979 erwartet hatte, sondern durch deren Umkehrung ersetzt: die „große Transformation“, wie sie der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) 2011 nannte, aus „Energiewende“ und herkunftsbezogener „Diversität“ als historische Wiedergutmachung für die Zerstörungs- und Unterdrückungsgeschichte der westlichen Zivilisation. Zugleich hatte das grüne Paradigma den Mechanismus, das Abweichende durch den herrschenden Konsens auszuschließen, nicht überwunden, sondern übernommen.

Das Instrument dafür war Moralisierung: Der WBGU hob die „große Transformation“ auf eine moralische Stufe mit der Abschaffung der Sklaverei und der Ächtung von Kinderarbeit. Die „Energiewende“ zu kritisieren war folglich gleichbedeutend mit der Befürwortung von Sklaverei und Kinderarbeit und wurde mit dem Etikett „Klimaleugner“ belegt. Widerspruch gegen eine Migrationspolitik der offenen Grenzen wurde als „rassistisch“, die Ablehnung gegenderter Sprache als „rechts“, das Festhalten an Zweigeschlechtlichkeit als „transphob“ oder als „menschenfeindlich“ gebrandmarkt. Die Konsequenz erfolgreicher Stigmatisierung war in jedem Fall der Ausschluss aus der öffentlichen Debatte.

Peter Graf Kielmansegg diagnostizierte an dieser Stelle im September 2023 eine „Macht der Minderheit“, die über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Hochschulen, Kultureinrichtungen und Kirchen so dominant in die Öffentlichkeit wirke, dass ihr ein woker Kapitalismus mit Diversity-Fliegern der Lufthansa und ICE-Garnituren der Deutschen Bahn mit Regenbogen­anstrich und gegenderter Kundenansprache folgte, obwohl seriöse Meinungsumfragen immer wieder zu erkennen gaben, dass etwa 80 Prozent der Bevölkerung dies ablehnen. Das war es, was Antonio Gramsci mit „kultureller Hegemonie“ gemeint hatte.

Ins Extrem getrieben wurde die diskursive Exklusion anlässlich einer Konferenz, die die Ethnologin Susanne Schröter zum Thema „Migration steuern, Pluralität gestalten“ im April 2023 in Frankfurt veranstaltete. Die Veranstaltung wurde schon vorab als „rechtspopulistisch“ und „islamfeindlich“ beschimpft, vor Ort wurden die Teilnehmer als „Nazis“ begrüßt.

Krieg offenbarte energiepolitisches Scheitern

Zugleich kippte die Stimmung. Schon 2022 hatte die „Zeitenwende“ des russischen Krieges gegen die Ukraine das deutsche Selbstverständnis als Soft Power und Zivilmacht, die Grundüberzeugungen von „Wandel durch Handel“ und „Gewalt ist keine Lösung“ sowie die Praxis der Mar­ginalisierung der Bundeswehr und der Vernachlässigung der Bündnissolidarität erschüttert. Wenn die deutsche Außen­ministerin Annalena Baerbock nach dem russischen Überfall sagte, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht“, dann irrte sie insofern, als die Deutschen in derselben Welt aufgewacht waren. Sie waren nur aus ihren Träumen gefallen.

Energiepolitisch machte der Krieg das Scheitern einer Politik offenbar, die aus Kernenergie, Kohle und möglichst allen Formen der Nutzung fossiler Energieträger gleichzeitig aussteigen wollte und sich dazu von russischen Gaslieferungen abhängig gemacht hatte, während sie auf eine Energieversorgung allein durch Sonne, Wind und Wasserkraft zustrebte. Da dies für die Grundlast nicht ausreicht, sind Zukäufe aus dem Ausland erforderlich, aus welchen Quellen auch immer – was Deutschland neben dem Vorwurf der Doppelmoral die höchsten Energiepreise der Welt eingebracht hat, die den Indus­triestandort gefährden.

Als die Bundesregierung vor diesem Hintergrund im Frühjahr 2023 ein Gesetz vorbereitete, das neue Heizungen in Privathaushalten an einen hohen Anteil erneuerbarer Energien koppelte, regte sich öffentlicher Widerstand. Er entlud sich in einer öffentlichen Kundgebung im bayerischen Erding am 10. Juni 2023, zu der die Kabarettistin Monika Gruber und ein lokaler Optikermeister aufgerufen hatten. Sie wurde zum ikonischen Kipppunkt der grünen Hegemonie.

In Erding manifestierte sich nicht nur eine öffentliche Opposition aus der Breite der Bevölkerung gegen die grüne Klima- und Energiepolitik. Indem der Bundesvorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, sagte, dass „man bald nicht mehr Papa und Mama sagen soll“, attackierte er die grünen Normsetzungen auf dem Feld von Geschlecht und Sexualität. Und wenn er hinzufügte, dass „die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“, dann lag er damit in institutioneller Hinsicht falsch, weil die Demokratie nicht in illegitime Gefilde abgedriftet war. Im Hinblick auf die politische Öffentlichkeit als Kernstück der Demokratie aber artikulierte er nichts anderes als die Befunde, die Demoskopen seit Langem erhoben: dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Meinung sei, dass man in der Öffentlichkeit nicht frei reden könne.

Die Kritik an diesen Äußerungen als „populistisch“ und „rechts“ setzte umgehend ein, und ein bald darauf folgender Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ über ein den Nationalsozialismus verharmlosendes Flugblatt aus der Jugendzeit Aiwangers stand in offensichtlichem Zusammenhang mit dessen Auftritt in Erding. Bezeichnenderweise aber erwies sich diese Kampagne als Bumerang, und Aiwangers Freie Wähler legten bei der Landtagswahl in Bayern im Oktober 2023 deutlich zu.

Folgewirkungen unkontrollierter Massenimmigration

Einen Tag vor dieser Wahl verübte die Hamas mit ihrem Terrorangriff auf Israel das größte Pogrom gegen Juden seit dem Holocaust. Propalästinensische Demonstrationen auf deutschen Straßen offenbarten unterdessen die Folgewirkungen unkontrollierter Massenimmigration insbesondere aus arabischen Ländern: einen importierten Antisemitismus, den so zu nennen die postkoloniale Migrationscommunity ebenso als „islamophob“ ablehnte, wie sie die Erwartung einer Assimilation von Migranten als „rassistisch“ zurückwies.

Dass selbst Grüne wie Robert Habeck, Cem Özdemir und Ricarda Lang mit ei­nem Mal ganz anders redeten als zuvor und dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Sprachregelungen änderte, verweist auf den Glaubwürdigkeitsverlust der seit 2015 dominanten Migrationskultur ebenso wie der kosmopolitischen Friedenskultur, des Paradigmas der Gender-Fluidität und der Energie- und Klimapolitik. Mit dem Kollaps ihrer Eckpfeiler brach die Hegemonie der grünen Deutungskultur zusammen.

Nach 1973, 1989 und 2008 erlebte Deutschland – im Verbund der westlichen Gesellschaften – einen vierten Paradigmenwandel der politischen Kultur. Was aber kommt danach?

Auf diese Frage kann die historische Analyse keine verlässliche Antwort geben, zumal sie eines weiß: Geschichte ist kein Automat, sondern radikal offen – und nichts ist so unterhaltsam wie die Geschichte der (Fehl-)Prognosen. Was die historische Analyse aber kann, ist, Möglichkeiten aufzuzeigen.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit und mit bereits erkennbarer Evidenz schwingt das Pendel nach der grünen Hegemonie nach rechts. Die Frage ist nur: Wohin schlägt es aus? Eine Möglichkeit liegt in der Neugründung einer konservativen Partei zwischen Union und AfD, die Unzufriedene beider Parteien sammelt. Eine zweite besteht darin, dass es die populistischen Bewegungen weiter stärkt, die sich in den westlichen Gesellschaften seit den 2000er-Jahren als Reaktanz auf das grüne Paradigma etabliert haben und die ein Modell von nationaler und sozialer beziehungsweise nationalis­tischer und sozialistischer Politik bewirtschaften. Das gilt in Deutschland für die AfD ebenso wie für die neue Wagenknecht-Partei, die sich als Bewegung über die klassischen Fronten hinweg formiert.

Die dritte Möglichkeit liegt darin, dass die etablierte bürgerliche Mitte den Pendelschlag abfängt. Da die FDP in der Ampelregierung gefangen ist, liegt die Hauptverantwortung dafür bei einer Union, in der Schwarz-Grüne und Liberalkon­ser­vative um die Ausrichtung der Programmatik ringen. Mit dem Ende der grünen Hegemonie bleiben schwarz-grüne Koalitionen zwar eine pragmatische Option; als programmatisches Zukunftsprojekt aber haben sie ausgedient. Ob es CDU und CSU gelingt, eine glaubwürdige eigene Erzählung für eine bessere Zukunft zu entwickeln und die neue Ge­genströmung auf ihre Mühlen zu leiten, kann zur Existenzfrage für die Schwesterparteien werden. Jedenfalls lehrt die historische Erfahrung die politische Phantasie, nichts für gegeben und alles für möglich zu halten.

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Der Verfasser ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz und Leiter der Denkfabrik Republik21. Neue bürgerliche Politik.

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