Die Testfahrt verläuft unspektakulär: Drei Menschen nehmen in einem fünf Meter langen Gefährt Platz, das in einer Halle auf einem Gleis steht. Dann setzt es sich in Bewegung. Kein Ruckeln, kein Wackeln, kein Schwanken ist zu spüren. Der Boden fühlt sich fest und stabil an. Was in einem normalen Bahnwaggon nicht weiter bemerkenswert wäre, wirkt hier fast wie Zauberei: Denn diese Eisenbahn fährt auf zwei hintereinander angebrachten Rädern – und die rollen auf nur einer Schiene des Gleises.
Monocab heißt diese Erfindung, bei der das Prinzip Fahrrad auf ein großes Schienenfahrzeug angewandt wird: Balance halten auf zwei Rädern. Damit soll auch auf eingleisigen Bahnstrecken ein Betrieb mit Gegenverkehr möglich werden. Die Wagen sind nur 1,20 Meter breit, sie kommen ohne Ausweichgleise aneinander vorbei.
Mit den Monocabs, groß genug für sechs Fahrgäste, Fahrrad und Rollstuhl, sollen stillgelegte, unwirtschaftlich gewordene Gleisabschnitte wiederbelebt werden können, so das Versprechen der Entwickler. Sie sollen die Anbindung des ländlichen Raums verbessern. Lokführer braucht man dazu nicht. Monocabs sollen als selbstfahrende, mit Akku betriebene Schienentaxis verkehren. Kurzum: Die Ingenieure der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe (TH OWL) arbeiten an der Quadratur des Gleises.
Bereits in diesem Jahr soll auf dem Gelände der Hochschule in Lemgo mit dem Bau einer Monocab-Campusbahn begonnen werden. Kürzlich wurde außerdem vereinbart, dass 2027 die Besucher der Internationalen Gartenausstellung Metropole Ruhr in Dortmund mit Monocabs über das Gelände kutschiert werden sollen. Mit solchen Vorzeigeprojekten will man sich empfehlen für Größeres.
Das Forscherteam arbeitet derzeit auf zwei Teststrecken: Ein 30 Meter langer Gleisabschnitt wurde in einer Industriehalle am Stadtrand von Lemgo verlegt. Und knapp zwei Kilometer stehen in freier Natur auf den nur noch von Museumszügen genutzten Gleisen der Extertalbahn zur Verfügung.
Genau dort hat die Idee ihren Ursprung. „Ich habe mich einige Jahre in der Jugendarbeit im ländlichen Raum engagiert“, erzählt Thorsten Försterling, 57 Jahre alt, gelernter Architekt. Zu diesem Projekt gehörte ein Eisenbahnwaggon, der zum mobilen Jugendzentrum umfunktioniert worden war. Försterling war also im Thema, als über eine Streckenstilllegung der angrenzenden Begatalbahn diskutiert wurde. Die war Ende des 19. Jahrhunderts gebaut worden, um das verkehrstechnisch unterentwickelte Fürstentum Lippe besser an den Rest des Reiches anzubinden. Eine solche Infrastruktur, die einst unter großen Anstrengungen errichtet worden war, einfach aufzugeben – das erschien Försterling wenig nachhaltig.
Also entwickelte er ein Konzept für den Streckenbetrieb mit Einschienenbahnen, für das er 2018 den Deutschen Mobilitätspreis bekam. „Der Preis war gewonnen“, erzählt Försterling, „doch wie sollte es weitergehen?“ Dass die Sache nicht aufs Abstellgleis geriet, sei dem Landrat des Kreises Lippe zu verdanken, sagt er. Der brachte ihn mit Thomas Schulte zusammen, Professor an der TH OWL in Lemgo.
„Wir arbeiteten damals ebenfalls an Ideen für autonome Schienenverkehre“, erzählt Schulte. Mit der Unterstützung durch Wirtschaftsunternehmen und das Land machten sie sich nun gemeinsam an die Arbeit. „Wir sollten zunächst mit zwei Versuchsfahrzeugen zeigen, dass die Ideen technisch umsetzbar sind“, sagt Schulte.
In der Versuchshalle in Lemgo haben die Forscher ein Fahrzeug so präpariert, dass man durch eine Glasscheibe die Technik studieren kann. Der Professor zeigt zwei runde Apparaturen, die sich unter dem Boden der Fahrgastkabine befinden: zwei je 250 Kilogramm schwere Kreisel, die sich mit 5000 Umdrehungen pro Minute drehen. „Diese Kreisel verhindern, dass das Fahrzeug umkippt“, erklärt Schulte. Die physikalischen Grundlagen einer solchen Kreiselstabilisierung sind lange erforscht, sie wird etwa bei Satelliten oder im Schiffsbau eingesetzt. Es gab auch bereits vor mehr als hundert Jahren Versuche mit einer kreiselstabilisierten Einschienenbahn.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der irisch-australische Ingenieur Louis Brennan eine Bahn, die auf einer Schiene fahren konnte. Ähnlich wie bei den heutigen Monocabs der Technischen Hochschule OWL (TH OWL) verhinderten Kreisel im Inneren, dass die Bahn umkippte. 1909 führte Brennan sein System erstmals im britischen Gillingham vor.
Zwar erntete Brennans Erfindung Anerkennung, auch gab es Bestrebungen, die Technologie auf neuen Bahnstrecken in Deutschland und Russland anzuwenden. Doch durchsetzen konnte sie sich nicht. TH-Professor Schulte vermutet, dass Brennans Bahn trotz der Kreisel leicht in Schräglage geriet und damit bei den Fahrgästen ein Gefühl der Unsicherheit auslöste – vor allem, wenn Passagiere zustiegen oder während der Fahrt ihren Sitzplatz verließen.
Deshalb gibt es in den Monocabs ein Ausgleichsgewicht, das fast eine Tonne wiegt und damit fast ein Drittel des Gesamtgewichts ausmacht. Diese bewegliche Bleimasse tariert jedes Schwanken des Fahrzeugs in Bruchteilen von Sekunden aus. „Die elektronische Steuerung für dieses Ausgleichsgewicht hinzubekommen, war eine der größten Herausforderungen“, sagt Schulte.
Entsprechend gespannt war er vor dem ersten Praxistest. Wie würde es sich anfühlen, in einem fahrenden Monocab zu sitzen? Wenn Schulte jetzt seinen Besuchern das Fahrzeug vorführt, ist ihm die Freude über das Resultat anzusehen. Denn nichts ist davon zu spüren, dass direkt unter den Füßen zwei Kreisel und ein tonnenschweres Bleigewicht ständig in Bewegung sind; nichts deutet darauf hin, dass man sich hier auf einem fragilen System befindet. Schulte ist davon überzeugt, dass dieses stabile Fahrgefühl wichtig sei, damit sich die Monocabs durchsetzen werden.
Dass die Technologie eine Zukunft hat – davon sei auszugehen. Sagt Jürgen Tuscher, Geschäftsführer des Railcampus, eines Vereins mit Sitz in Minden, in dem sich Hochschulen, Industrieunternehmen sowie Städte und Landkreise in Ostwestfalen zusammengetan haben, um neue Schienenverkehrssysteme auf den Weg zu bringen. Es gebe in Deutschland 11.000 Kilometer an stillgelegten Bahnstrecken, sagt Tuscher, viele davon seien für den Betrieb mit normalen Zügen nicht mehr geeignet. Nach seiner Einschätzung werden auf solchen Strecken spätestens 2030 die ersten Monocabs unterwegs sein.