Grundsicherung und Bürgergeld: Volle Miete bis Ende 2023 bei Leistungsbezug schon vor 2023

Für Bezieher von Bürgergeld nach dem SGB II und Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII gilt seit dem 01.01.2023: Wer diese Leistungen ab dem 01.01.2023 neu beantragt hat, erhält ab dem Monat der erstmaligen Antragstellung ein Jahr lang Leistungen für seine Unterkunft in Höhe der vollen Miete. Das regeln § 22 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II für das Bürgergeld und § 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XII für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Nach Ablauf der Karenzzeit wird die volle Miete noch so lange anerkannt, wie es den Betroffenen nicht möglich oder zuzumuten ist, ihre Unterkunftskosten durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. 

Welche Regelungen aber gelten für all jene Leistungsbezieher, die bereits vor dem 01.01.2023 Sozialleistungen bezogen haben? Einige Sozialleistungsträger – wie etwa die Landeshauptstadt Kiel – glauben, die Karenzzeit gelte nur für diejenigen, die ab dem 01.01.2023 erstmals Leistungen beantragt haben und fordern deswegen alle anderen Leistungsberechtigten mit zu hoher Miete zur Mietsenkung auf. Das ist rechtswidrig, wie ein Blick in das Gesetz zeigt: Nach § 65 Abs. 3 SGB II bzw. § 140 Abs. 1 SGB XII beginnt für diese Personengruppe die Karenzzeit von einem Jahr am 01.01.2023 und endet folglich am 31.12.2023. Die Karenzzeit gilt in diesen Fällen lediglich dann nicht, wenn vor dem 01.01.2023 die Kosten der Unterkunft bereits auf die angemessenen Kosten abgesenkt wurden. Die Unterkunftskosten sind dann weiterhin nur in der angemessenen Höhe zu übernehmen, § 65 Abs. 6 SGB II bzw. § 140 Abs. 2 SGB XII. 

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgergeld: Erleichterungen bei der Haftungsbefreiung Minderjähriger

Junge Volljährige müssen auch Leistungen nach dem SGB II (jetzt Bürgergeld), welche sie als Minderjährige zu Unrecht erhalten haben, nur bis zur Höhe des bei Eintritt ihrer Volljährigkeit vorhandenen Vermögens an das Jobcenter erstatten. Diese Regelung findet sich in § 1629a BGB. Sie soll verhindern, dass Kinder mit Schulden, die ihre Eltern verursacht haben, in die Volljährigkeit starten. Die Haftungsbeschränkung setzt kein Verschulden der Eltern der Minderjährigen voraus, weswegen die Haftungsbeschränkung auch bei einer abschließenden Leistungsfestsetzung greift (BSG, Urteil vom 28.11.2018, B 14 AS 34/17 R). Die Haftungsbeschränkung ist auch in einem laufenden Klageverfahren zu beachten, wenn erst in diesem die Volljährigkeit eintritt (BSG, Urteil vom 28.11.2018, B 4 AS 43/17 R). Vermögen im Rahmen des § 1629a BGB ist das Aktivvermögen der volljährig gewordenen Person im Zeitpunkt des Erreichens der Volljährigkeit. Auf ein Nettovermögen als Differenz von Aktiva und Passiva (Schulden) kommt es nicht an (BSG, Urteil vom 21.06.2023, B 7 AS 3/22 R). Im Rahmen der Änderungen des SGB II durch das Bürgergeld-Gesetz ist auch die Frage der Minderjährigenhaftung neu geregelt worden. Die Haftung eines Kindes ist seit dem 01.01.2023 auf das Vermögen beschränkt, welches bei Eintritt der Volljährigkeit den Betrag von 15.000 Euro übersteigt (§ 40 Absatz 9 SGB II n.F.).

Erstveröffentlichung in HEMPELS 8/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgergeld: Mehrbedarf für die Anschaffung einer Waschmaschine

Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (Bürgergeld) können gegenüber ihrem Jobcenter einen Anspruch auf Geldleistungen für die Anschaffung einer Waschmaschine haben, wenn ihre bereits vorhandene Waschmaschine kaputt gegangen ist und sich eine Reparatur wirtschaftlich nicht mehr lohnt.

Der Anspruch folgt aus § 21 Abs. 6 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird ein so genannter „Mehrbedarf“ anerkannt, wenn im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht und im Fall einmaliger Bedarfe ein Darlehen nicht möglich oder zumutbar ist. Einen solchen unabweisbaren Bedarf hat das Sozialgericht Kiel bei einer Waschmaschine angenommen. Diesen Bedarf konnten der Kläger auch nicht aus seinem Regelbedarf decken, in dem 1,60 € im Monat für Waschmaschinen, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschinen berücksichtigt sind. Denn der Wert von 1,60 € sei aus Verbrauchsstichproben in einem Zeitraum von drei Monaten erhoben worden. Da langlebig Haushaltsgeräte indessen nur im Abstand von vielen Jahren neu erworben werden müssten, seien deren Kosten in den meisten Stichproben mit Null eingeflossen. Auch die Überlegung, wie lange ein Leistungsberechtigter 1,60 € im Monat sparen müssten, um  eine Waschmaschine, einen Wäschetrockner, eine Geschirrspülmaschine und ein Bügeleisen kaufen zu können, zeige, dass die 1,60 € im Monat auf keiner hinreichend aussagekräftigen Datengrundlage beruhten. Auch die Anschaffungskosten für eine neue Waschmaschine Höhe von 389,00 € zuzüglich 29,95 € Versandkosten waren nach Auffassung des Gerichts angemessen, da der Kläger bei einem Neuerwerb insbesondere auch Mängelgewährleistungsrecht habe.

SG Kiel, Urteil vom 14.03.2023, S 35 AS 35/22 – Berufung anhängig beim SH LSG, Az. L 6 AS 41/23

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgergeld: Keine Anrechnung von Betriebskostenguthaben, die im Monat vor Beginn des Leistungsbezuges zugeflossen sind

Guthaben aus Betriebskostenabrechnungen, die einem Bürgergeldbezieher im Zeitraum seines Leistungsbezuges zufließen, sind auf dessen Bürgergeldanspruch leistungsmindernd anzurechnen. Dies gilt auch für Betriebskostenguthaben, die in einem Zeitraum entstanden sind, in dem noch kein Bürgergeld bzw. ALG II bezogen wurde. Wie genau diese Anrechnung zu erfolgen hat, regelt § 22 Abs. 3 SGB II. Danach mindern Betriebskostenguthaben den Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung im Monat nach dem Zufluss des Guthabens.

Was ist nun aber, wenn das Betriebskostenguthaben einen Monat vor Beginn des Bürgergeldbezuges überwiesen wird? Denkbar wäre für das Jobcenter, das Guthaben im Folgemonat – dem ersten Monat des Bürgergeldbezuges – anzurechnen. Denn Betriebskostenguthaben mindern ja nach § 22 Abs. 3 SGB II den Bürgergeldanspruch im Monat nach dessen Zufluss. Das aber wäre falsch, wie das Landesozialgericht Hamburg bereits 2015 entschieden hat. Denn bei der Anrechnung eines vor Beginn des Leistungsbezuges zugeflossenen Guthabens würde man Betroffene in einem Monat dem Regime des SGB II unterwerfen und etwa abverlangen, das Guthaben für den Folgemonat „aufzusparen“, in dem diese noch gar nicht im Leistungsbezug stehen. § 22 Abs. 3 SGB II ist deswegen als bloße Anrechnungsreglung zu verstehen, die es den Jobcentern erleichtern soll, Betriebskostenguthaben von im Zuflussmonat bereits im Leistungsbezug stehen Bürgergeldbeziehern anzurechnen.

LSG Hamburg, Urteil vom 19.03.2015, L 4 AS 12/14

Erstveröffentlichung in HEMPELS 6/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2023

Die Kieler Ratsversammlung hat heute neue Regel-Höchstbeträge für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem SGB II und dem SGB XII ab 01.01.2023 beschlossen. Die Anpassung der Beträge erfolgt auf der Grundlage des qualifizierten Mietspiegels 2023, der am 01.04.2023 in Kraft getreten ist. In diesem Zuge wurden auch die Beträge für einmalige Leistungen und einmalige Beihilfen neu festgesetzt. Aus dem Beschluss:

Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II, § 42a SGB XII)

Die Anpassung der Mietobergrenzen ist erforderlich geworden, da aufgrund der Neuerstellung des Kieler Mietspiegels 2023 auch die Regel-Höchstbeträge für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) und dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) entsprechend anzupassen sind. Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung durch ein schlüssiges Konzept auszugestalten ist. Nach der Erstellung des Mietspiegels und dem Beschluss durch die Ratsversammlung wurden die neuen Mietobergrenzen von einem hierfür beauftragten Institut nach wissenschaftlichen Grundsätzen ermittelt und sind in der unten aufgeführten Tabelle für die verschiedenen Haushaltsgrößen aufgestellt. In den Beträgen ist ein Anteil für kalte Betriebskosten i.H.v. 1,81 Euro / m² enthalten.

Personen im HaushaltAnzuerkennende Wohnungsgröße (in m²)Mietobergrenze in EUR (2023)nachrichtlich:Mietober-grenze in EUR (2021)
1-Personenhaushalt< 50439,00397,00
2-Personenhaushalt> 50 – < 60519,00466,00
3-Personenhaushalt> 60 – < 75650,50610,50
4-Personenhaushalt> 75 – < 90795,00723,00
5-Personenhaushalt> 90- < 105946,50845,50
6-Personenhaushalt> 105 – < 1151.037,00925,50
7-Personenhaushalt> 115 – < 1251.127,001.005,50
Mehrbetrag für jedes wei­tere Familienmitglied1090,10 80,00 

Renovierungskosten (§ 22 Abs. 6 SGB II / § 35 Abs. 2 SGB XII)

Beihilfen für Renovierungen sind als Kosten der Unterkunft zu bewilligen, soweit sie notwendig sind und die Verpflichtung zur Renovierung rechtmäßig auf die/den Mieter/in übertragen wurde.

Die Renovierung umfasst das Streichen und Tapezieren von Wänden und Decken, das Streichen der Zimmertüren, den Innenanstrich der Fenster und der Wohnungstür sowie der Heizkörper einschließlich der Rohre.

Die sich ergebende insgesamt zu renovierende Grundfläche ist jeweils auf die nächsten vollen 45 m² aufzurunden. Folgende Kosten ergeben sich bei:

– Wandfläche bis zu   45 m² = 141,00 EUR

– Wandfläche bis zu   90 m² = 282,00 EUR

– Wandfläche bis zu 135 m² = 423,00 EUR

– Wandfläche bis zu 180 m² = 564,00 EUR

– Wandfläche bis zu 225 m² = 705,00 EUR

– Wandfläche bis zu 270 m² = 846,00 EUR

– je weiteren angefangenen 45 m² Wand zzgl. 141,00 EUR

Aufwandsentschädigung für private Hilfe

Auf Antrag kann für private Hilfe (Freunde, Bekannte, Nachbarn) eine pauschale Aufwandsentschädigung in Höhe von 50,00 EUR bewilligt werden.

Die einmaligen Beihilfen in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II (§ 24 Abs. 3 SGB II) und dem Sozialgesetzbuch XII (§ 31 Abs. 1 SGB XII) werden auf der Grundlage aktuell durchgeführter Preisermittlungen und aktueller Bedarfe wie folgt neu festgesetzt. Sämtliche genannte Pauschalen wurden durch Preisermittlung im Kieler Einzelhandel im ersten Quartal 2023 ermittelt.

Zum Vergleich werden die bisher gültigen Werte mit angegeben. Aufgrund der Neuaufnahme von bisher nicht erfassten Bedarfen war dies jedoch nicht in jedem Fall möglich. 

Erstausstattung mit Möbeln (§ 24 SGB II / § 31 SGB XII):

Pauschalen für Wohnungen ohne vorhandene Küchenausstattung

  • Einzelperson: 1.116,07 Euro
  • Einzelperson mit 1 Kind: 1.157,39 Euro
  • Einzelperson mit 2 Kindern: 1.315,88 Euro
  • Einzelperson mit 3 Kindern: 1.658,88 Euro
  • Paar ohne Kinder: 1.576,39 Euro
  • Paar mit 1 Kind: 1.645,22 Euro
  • Paar mit 2 Kindern: 2.077,88 Euro
  • Paar mit 3 Kindern: 2.149,88 Euro

Pauschalen für Wohnungen mit vorhandener Küchenausstattung

  • Einzelperson: 900,42 Euro (bisher 331,00 Euro)
  • Einzelperson mit 1 Kind: 941,75 Euro (bisher 506,00 Euro)
  • Einzelperson mit 2 Kindern: 1.100,24 Euro (bisher 702,00 Euro)
  • Einzelperson mit 3 Kindern: 1.443,23 Euro (bisher 877,00 Euro)
  • Paar ohne Kinder: 1.360,75 Euro
  • Paar mit 1 Kind: 1.429,57 Euro
  • Paar mit 2 Kindern: 1.862,23 Euro
  • Paar mit 3 Kindern: 1.934,23 Euro

Für jedes weitere Kind werden jeweils ein Stuhl (plus 41 Euro) und eine Sitzgelegenheit (plus 90 Euro) hinzugerechnet, ab 7 Personen ein großer Küchentisch (plus 268 Euro).

Zusätzlich zu den o.g. Pauschalen kommen pro Kind 279,95 Euro für Schrank, Bett und Matratze sowie 48,32 Euro für eine Schreibgelegenheit bei Schulbesuch hinzu.

Ausstattung Küche: Pauschalen für Schränke:

  • Schrank für die Spüle: 99,33 Euro
  • 1 Oberschrank:  51,66 Euro (bisher 27,00 Euro)
  • 1 Unterschrank: 64,66 Euro (bisher 40,00 Euro)

Elektrogroßgeräte/Lampen:

  • Standherd komplett (mit Backofen und Herdplatte) 266,00 Euro (bisher 189,00 Euro)
  • Kühlschrank 133,99 Euro (bisher 119,00 Euro)
  • Waschmaschine 236,00 Euro (bisher 200,00 Euro)
  • Kochplatte (vier Felder) 210,32 Euro
  • Backofen 239,96 Euro

(Ein Nachweis vom Vermieter, dass die Geräte bzw. Schränke nicht in der Wohnung vorhanden sind, ist verpflichtend vorzulegen.)

  • Lampen (inklusive Leuchtmittel) je Raum 9,00 €.

Hausratpauschale:

Für die übrigen Hausratgegenstände werden im Rahmen einer Erstausstattung folgende Pauschalen als Geldleistung bewilligt:

  • Haushalt mit 1-Person  = 495,00 EUR (bisher 303,00 Euro)
  • Haushalt mit 2-Personen = 573,00 EUR (bisher 370,00 Euro)
  • Haushalt mit 3-Personen = 651,00 EUR (bisher 437,00 Euro)
  • Haushalt mit 4-Personen = 729,00 EUR (bisher 504,00 Euro)
  • Haushalt mit 5-Personen = 930,00 EUR (bisher 634,00 Euro)
  • je weitere Person zusätzlich = 78,00 EUR (bisher 67,00 Euro)

Stehen nur einzelne Mitglieder eines Haushalts im Leistungsbezug, erhalten sie die kopfanteilige Pauschale der für den Gesamthaushalt maßgeblichen Hausratpau­schale.

Erstausstattung für Bekleidung nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II / § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII

  • Kinder bis 2 Jahren  = 250,00 Euro
  • Kinder von 3 bis 14 Jahren = 308,00 Euro
  • Personen ab 15 Jahren = 418,00 Euro

Sonderbedarf bei Schwangerschaft und Entbindung nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II / § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII

  • Ab dem 4. Schwangerschaftsmonat wird grundsätzlich eine Pauschale in Höhe von 363,00 EUR bewilligt, die den Bedarf für Umstandsbekleidung und Klinikbedarf aus Anlass der Entbindung ab­deckt. (bisher 194,00 Euro)

Säuglings- und Kinderausstattung nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II / § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII

  • Erstlingsausstattung für den Bedarf der ersten sechs Lebensmonate: Pauschale in Höhe von 383,00 Euro. Die Auszahlung erfolgt ab dem 7. Schwangerschaftsmonat. (bisher 225,00 Euro)

Auf Antrag können weitere Beihilfen zusätzlich zur Pauschale gewährt werden:

  • Kombikinderwagen mit Matratze, Fußsack u. Regenverdeck 300,00 Euro (bisher 100,00 Euro)
  • Buggy Board für Geschwisterkinder 40,00 Euro (bisher 40,00 Euro)
  • Zwillingskinderwagen mit Matratzen, Fußsäcken u. Regenverdecken 220,00 Euro (bisher 200,00 Euro)

Bürgergeld: Der Abschluss eines Mietvertrages über die bereits bewohnte Wohnung ist kein Umzug

Schließt eine Bürgergeldbezieherin einen Mietvertrag über eine Wohnung, die sie schon zuvor als Mitbewohnerin einer Wohngemeinschaft (WG) bewohnt hat, benötigt sie vor Abschluss dieses Mietvertrags weder die Zusicherung der Kostenübernahme durch das Jobcenter noch kann das Jobcenter die Leistungen auf die Kosten ihres bisherigen WG-Zimmers deckeln. Das Jobcenter muss vielmehr auch zu hohe Mietkosten jedenfalls für einen gewissen Zeitraum übernehmen.

Die Bürgergeldbezieherin hat bis zum 28.02.2023 ein WG-Zimmer in einer 57,45 m2 großen Wohnung zusammen mit einem Mitbewohner bewohnt. Beiden waren Hauptmieter. Der Mitbewohner erklärte, zum 28.02.2023 ausziehen zu wollen. Aus diesem Grund schloss die Bürgergeldbezieherin zum 01.03.2023 einen Mietvertrag über die gesamte Wohnung ab. Das Jobcenter Kiel erkannte daraufhin ab dem 01.03.2023 nur noch Unterkunftskosten in Höhe der Mietobergrenze für einen Einpersonenhaushalt von gegenwärtig 397,00 € bruttokalt an. Zur Begründung führte es aus, die Bürgergeldbezieherin habe die Wohnung ohne die erforderliche Kostenzusicherung des Jobcenters gemäß § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II angemietet. Die Bürgergeldbezieherin sei auch in eine neue Wohnung umgezogen, denn sie habe einen Raum dazu erhalten, in dem vorher ihr Mitbewohner gewohnt habe.

Das Sozialgericht Kiel verpflichtete das Jobcenter Kiel, die vollen Mietkosten zu übernehmen. Denn die Bürgergeldbezieherin sei nicht „umgezogen“. Dies setze eine räumliche Veränderung voraus, die hier gerade nicht vorgelegen habe. Es sei auch kein Mietvertrag über eine „neue Unterkunft“ abgeschlossen worden, denn die Möglichkeit zur Nutzung eines weiteren Raumes mache die Wohnung nicht zu einer neuen Unterkunft. Auch eine Deckelung auf die bisherigen Kosten des WG-Zimmers nach § 22 Abs. 1 Satz 6 SGB II komme mangels Umzugs nicht in Betracht, wobei auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift ausscheide. 

SG Kiel, Beschluss vom 24.03.2023, S 39 AS 9/23 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein Alleinstehendenregelsatz bei Zusammenleben mit Asylbewerber

Eine Ehefrau muss den geringeren Sozialleistungssatz für Verheiratete bzw. Paare in einer Wohnung auch dann hinnehmen, wenn ihr Ehemann die niedrigeren Leistungen für Asylbewerber bezieht.

Bundessozialgericht in Kassel

Die erwerbsgeminderte Ehefrau bezog seit August 2015 zusammen mit ihren vier minderjährigen Kindern ALG II (jetzt Bürgergeld). Ende Januar 2017 zog ihr Ehemann in den Haushalt, der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von damals 318 € (aktuell 330,00 € für Paare in einer Wohnung) monatlich erhielt. Das Jobcenter bewilligte der Ehefrau daraufhin nur noch die um 10 % abgesenkten Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von monatlich 368 € (jetzt 502 €) anstatt 409 € (jetzt 451 €) nach der Regelbedarfsstufe 1. Aufgrund der gegenüber ALG II/Bürgergeld niedrigeren Asylbewerberleistungen hatte die Familie 50 € weniger zur Verfügung als ein Ehepaar, bei dem beide Partner ALG II/Bürgergeld beziehen. Aus diesem Grunde begehrte die Ehefrau weiterhin Leistungen wie eine Alleinstehende.

Ihre Klage vor dem Bundessozialgericht hatte keinen Erfolg. Da Ehepaare und Partner aus einem gemeinsamen Topf wirtschaften können und so Einsparpotenziale insbesondere im Bereich Lebensmittel, Energie und Wohnungsinstandhaltung sowie Nachrichtenübermittlung haben, kann der höhere Regelbedarf für Alleinstehende nicht mehr beansprucht werden. Dies gilt auch bei sogenannten gemischten Bedarfsgemeinschaften, bei denen unterschiedliche Sozialleistungen – hier Sozialgeld und die um 50 € geringeren Asylbewerberleistungen – gewährt werden. Denn auch für den Bereich Hausrat, der in den Grundleistungsbedarf nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht als Geldleistungsbetrag eingeflossen ist und daher wesentlich zur Differenz des ausgezahlten monatlichen Betrags führt – können im Bedarfsfall gesondert Geld- oder Sachleistungen erbracht werden.

BSG, Urteil vom 15.02.2023, B 4 AS 2/22 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Kosten einer Untätigkeitsklage tragen – keine Pflicht, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage noch einmal an das Jobcenter zu wenden

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Kostengrundentscheidung eines Sozialgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot verletzt. Das Sozialgericht hat § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet.

Die im Bezug von Arbeitslosengeld II stehende Beschwerdeführerin erhob – nachdem das Jobcenter einen Kostenerstattungsantrag nicht beschieden hatte – nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG Untätigkeitsklage zum Sozialgericht. Nach Erledigung des Rechtsstreits lehnte das Sozialgericht ihren auf Erstattung außergerichtlicher Kosten gerichteten Antrag, ohne dass ein zureichender Grund für die verspätete Bescheidung bestanden hätte, ab und begründete dies im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerin habe es pflichtwidrig versäumt, sich vor Einreichung der Klage nochmals an das Jobcenter zu wenden.

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Bürgergeld so lange, bis vorrangige Leistungen tatsächlich bewilligt sind

Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II) ist eine so genannte nachrangige Sozialleistung. Kann der notwendige Lebensunterhalt mithilfe anderer Sozialleistungen gedeckt werden, sind deswegen diese anderen Sozialleistungen zu beantragen, § 12 a Satz 1 SGB II. Im konkreten Fall hatte das Jobcenter Kiel den Weiterbewilligungsantrag einer alleinerziehenden Mutter mit zwei minderjährigen Kindern unter Bezugnahme auf diese Regelung für den Zeitraum ab 1.12.2022 Ende November 2022 mit der Begründung abgelehnt, die Familie könne ihren Lebensunterhalt mit Wohngeld und Kinderzuschlag decken. Die Mutter beantragte umgehend am 25.11.2022 sowohl Wohngeld als auch Kinderzuschlag. Sie wies das Jobcenter aber zugleich auf die langen Bearbeitungszeiten bei den Wohngeldstellen und der Familienkasse hin und begehrt die Weiterbewilligung von ALG II (jetzt Bürgergeld) bis zu einer tatsächlichen Bewilligung von Wohngeld und Kinderzuschlag. Dies lehnte das Jobcenter Kiel ab. Das Sozialgericht gab der Familie Recht.

Die maßgebliche Vorschrift des § 12a Satz 1 SGB II, welche Leistungsberechtigte nach dem SGB II verpflichtet, vorrangige Leistungen anderer Sozialleistungsträger in Anspruch zu nehmen, ermächtigt den Grundsicherungsträger nämlich nicht dazu, Leistungen nach dem SGB II unter Verweis auf eine zu beantragende vorrangigen Sozialleistung abzulehnen. Bis zum Zufluss der vorrangigen Sozialleistungen muss der Grundsicherungsträger bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen in Vorleistung treten und Leistungen nach dem SGB II – gegebenenfalls unter Anmeldung eines Erstattungsanspruchs gemäß §§ 102 ff. SGB X – weiter gewähren.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 12.12.2022, S 41 AS 92/22 – rechtskräftig

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Keine Aufrechnung Strom gegen Gas

Beziehen Leistungsempfänger nach dem SGB II Strom und Gas von dem selben Anbieter und rechnet dieser in der Jahresabrechnung ein vorhandenes Stromguthaben gegen eine Heizkostennachforderung auf, muss der SGB II-Leistungsträger die gesamte Heizkostennachforderung übernehmen und nicht nur den um das Stromguthaben geminderten Betrag.   

Geklagt hatten die Eltern dreier Kinder, die als Familie Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter Schleswig-Flensburg erhalten. Mit der Jahresabrechnung für das Jahr 2017 teilten die Stadtwerke ihnen mit, dass aus den für Strom gezahlten Abschlägen ein Guthaben in Höhe von 611,79 € resultiere, für Gas aber noch eine Nachzahlung in Höhe von 649,24 € geleistet werden müsse. Die Stadtwerke rechneten diese beiden Beträge gegeneinander auf und forderten noch einen Betrag in Höhe von 37,45 € von der Familie. Nur diese Nachzahlung übernahm das Jobcenter. Die Familie forderte den gesamten Betrag für die Heizkostennachforderung in Höhe von 649,24 €.

Das Sozialgericht gab der Familie Recht. Denn die Heizkosten werden vom Jobcenter übernommen, Strom zahlen die Leistungsempfänger hingegen aus ihrem Regelsatz selbst. Somit steht ihnen grundsätzlich auch das aus einer Jahresabrechnung resultierende Guthaben für zu viel gezahlte Stromabschläge zu. Ist der Stromanbieter ein anderer als der Gaslieferant, bekommen Leistungsempfänger daher ein etwaiges Stromguthaben zurück, während sie eine Nachforderung für Heizgas vollständig über die SGB II-Leistungen erstattet erhalten. Das gilt genauso, wenn Leistungsbezieher Strom und Gas von demselben Versorger erhalten und dieser Guthaben und Nachzahlung miteinander verrechnet. 

Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 10.08.2022, S 35 AS 635/18; Revision beim Bundessozialgericht anhängig unter dem Aktenzeichen B 7 AS 21/22 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte: Wohngeld – Online gestellte Anträge sind verschwunden

Aufgrund eines Systemfehlers ist eine Online-Beantragung von Wohngeld nicht möglich. Bereits gestellte Anträge wurden nicht an die zuständigen Behörden übermittelt. „Das Fatale ist, dass die Betroffenen noch nicht über diesen Fehler informiert wurden“, so El Samadoni heute in Kiel. Sie rät allen Betroffenen, die Online einen Antrag gestellt und bisher keine Eingangsbestätigung erhalten haben, sich an die jeweilige Wohngeldstelle zu wenden, um sicherzugehen, dass der Antrag eingegangen ist. „Diese Computer-Panne passiert zur Unzeit“, führte die Bürgerbeauftragte aus. „Gerade jetzt stehen viele Menschen unter finanziellem Druck und benötigen dringend eine schnelle Bewilligung des Wohngelds – das fällt den Kommunen schon ohne technische Probleme schwer genug.“

In den vergangenen Jahren war es ohne Probleme möglich, online einen Wohngeldantrag zu stellen. Für viele Betroffene stellt die digitale Beantragung eine Erleichterung dar. Dieses Verfahren wurde jedoch aus Sicherheitsgründen vorerst vollständig gestoppt, weil ein Fehler im System entdeckt wurde. Wie viele Anträge genau von diesem Systemfehler betroffen sind, ist nicht bekannt. „Ich erwarte, dass diesbezüglich eine umgehende Aufklärung und Information an die Betroffenen erfolgen wird“, so El Samadoni. „Zudem wird man sich Gedanken darüber machen müssen, ob nicht das Land – falls durch den Fehler ein Schaden bei den Bürger*innen eintreten sollte – hierfür haften muss.“

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und ihr Team beraten zum Wohngeld gerne telefonisch von Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 15.00 (mittwochs bis 18.30) unter der 0431-988 1240.

Quelle: https://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb/pressemitteilungen/

Nachtrag: Bereits am 19.01.2023 hat der NDR berichtet, dass eine Online-Beantragung wieder möglich sei. Weiter heißt es in dem Beitrag: „Sorgen um den Verbleib des eigenen Antrages müssen sich die Nutzerinnen und Nutzer nicht machen“, erklärte Digitalisierungsminister Dirk Schrödter (CDU). Die Personen, die beim Antrag Probleme hatten, werden laut Schrödter kontaktiert. Nachteile gebe es für sie nicht.“

Quelle: Online-Anträge für Wohngeld in SH wieder möglich | NDR.de – Nachrichten – Schleswig-Holstein


Aller (Studien)Anfang ist schwer

Studenten und Studentinnen aus weniger betuchten Elternhäusern können ein Lied davon singen: Beginnen sie ihr Studium, steht neben der Wohnungssuche in gedrängter Zeit die Sicherung des Lebensunterhalts an. Der BAföG-Antrag wird gestellt, unzählige Nachweise sind zu besorgen und dem BAföG-Amt vorzulegen, viele Unterlagen wie etwa die Studienbescheinigung lassen auf sich warten und das BAföG-Amt signalisiert schon mal Bearbeitungszeiten von 3 bis 4 Monaten. Was nun?

Für den ersten Studienmonat hilft – was die wenigsten Studenten wissen – das Jobcenter weiter: Nach § 27 Abs. 3 Satz 3 SGB II kann das Jobcenter ein Darlehen in Höhe des ALG II-Anspruches gewähren. Dafür ist nicht Voraussetzung, dass der Student oder die Studentin schon vorher ALG II bezogen hat.

Aber was passiert, wenn der erste Monat des Studiums sich dem Ende neigt und BAföG noch immer nicht bewilligt ist? Darin liegt – so das Sozialgericht Kiel – keine „besondere Härte“ im Sinne von § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Denn der Gesetzgeber habe „offensichtlich Schwierigkeiten von Auszubildenden bei ihrer Lebensunterhaltssicherung zu Beginn ihrer Ausbildung in Kauf genommen“. Das Jobcenter müsse also kein Härtefalldarlehen ab dem zweiten Monat des Studiums bewilligen. Erst Studenten, die länger als 10 Wochen nach Antragstellung noch kein BAföG ausgezahlt bekommen haben, hätten einen Anspruch auf einen BAföG-Vorschuss nach § 51 Abs. 2 BAföG.

Anders hat das schon früh das Hamburgische Oberverwaltungsgericht gesehen: Auch vor Ablauf der Fristen nach § 51 Abs. 2 BAföG kann ein Student seinen BAföG-Anspruch etwa ab dem Tag, nach dem das ALG II-Darlehen ausläuft, im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht durchsetzen, denn, so das Gericht, ein anderes Normverständnis liefe dem Regelungsanliegen des BAföG zuwider, dem Auszubildenden nicht nur eine wirksame, sondern auch schnelle Unterstützung zuteil werden zu lassen. § 51 Abs. 2 BAföG betreffe zudem nach seinem klaren Wortlaut nur Fälle, in denen BAföG (noch) nicht bewilligt oder ausbezahlt werden „kann“. Hat der Student also alle Unterlagen vorgelegt und alle Angaben gemacht, „kann“ ihm auch BAföG bewilligt werden.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 14.10.2022, S 34 AS 64/22 ER; a.A. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 19.11.1991, Bs IV 307/91

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Eilbedürftigkeit bei ALG II anstatt Hilfe zum Lebensunterhalt

In einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes fehlt es für das Begehren, anstelle von Arbeitslosengeld II Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in gleicher Höhe zu erhalten, regelmäßig an der Eilbedürftigkeit.

Der Hilfebedürftige in diesem Verfahren bezog von der Landeshauptstadt Kiel Hilfe zum Lebensunterhalt. Nachdem Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen nicht getroffen werden konnten, stellte die Stadt die Leistungen zum 01.06.2022 ein und verwies den Hilfesuchenden an das Jobcenter Kiel. Da ihm auch das Jobcenter Kiel ab 01.06.2022 keine existenzsichernden Leistungen (ALG II) bewilligt hatte, wandte sich der Hilfebedürftige an das Sozialgericht Kiel mit dem Antrag, die Stadt vorläufig zu verpflichten, ihm weiter Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen. Das Sozialgericht lud das Jobcenter Kiel dem Verfahren bei und verpflichtet dieses, dem Hilfebedürftigen ALG II zu gewähren. Hiergegen wandte sich der Hilfeempfänger mit seinem Antrag zum Landessozialgericht und begehrte weiter, von der Stadt Kiel Hilfe zum Lebensunterhalt zu erhalten. Zur Begründung trug er vor, als ALG II-Empfänger müsse er sich – anders als als Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt – etwa auf Arbeitsangebote bewerben, eine Arbeit aufnehmen, Eingliederungsvereinbarungen unterschreiben bzw. die in einem ersetzenden Verwaltungsakt einseitig festgelegten Pflichten erfüllen, die sanktionsbewährt seien. Er befürchte, diesen Pflichten aus gesundheitlichen Gründen nicht nachkommen zu können. Die Sanktionsgefährdung begründe einen rechtlichen Nachteil, dessen Abwendung eilig sei.

Die Eilbedürftigkeit erkannte das Landessozialgericht nicht. Der Bedarf sei durch ALG II gedeckt. Auch die sanktionsbewährten Pflichten im ALG II-Bezug begründeten keine Eilbedürftigkeit. Gegen etwaige – nach Ansicht des Landessozialgerichts unwahrscheinliche – Maßnahmen des Jobcenters könne sich der Hilfebedürftige notfalls mit den Mitteln des einstweiligen Rechtschutzes wehren. Zudem gelte bis zum 01.07.2023 für die meisten Sanktionen wegen der Corona-Pandemie ein Sanktionsmoratorium, so dass aktuell außer bei Meldepflichtsverletzungen keine Sanktionen drohten.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 02.08.2022, L 9 SO 71/22 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II: Leistungsberechtigte müssen sicherstellen, dass Zahlungen sie auch erreichen

ALG II, das vom Jobcenter auf das im ALG-II-Antrag angegebene Girokonto überwiesen worden ist, ist dem Leistungsberechtigen wirksam erbracht worden, auch wenn dieser tatsächlich keinen Zugriff auf die ihm zustehenden Grundsicherungsleistungen hatte. Geklagt hatte eine 17-jährige Bezieherin, die bei ihrem Stiefvater lebte und noch über kein eigenes Girokonto verfügte. Ihre Grundsicherungsleistung sowie jene des Stiefvaters überwies das Jobcenter Segeberg auf das Girokonto des Stiefvaters. Zum 1.10.2020 zog die Klägerin nach Kiel, um dort eine Ausbildung zu beginnen. Am 23.10.2020 verstarb der Stiefvater. Auf ihren am 29.10.2020 in Kiel gestellten ALG-II-Antrag bewilligte das Jobcenter Kiel der Klägerin für den Zeitraum 23.10.2020 bis 30.09.2021 ALG II unter Anrechnung der vom Jobcenter Segeberg für sie für den Zeitraum 23.10.2020 bis 30.11.2021 auf das Konto des Stiefvaters gezahlten Regelleistungen, auf die sie keinen Zugriff mehr hatte.

Im Widerspruchs- und anschließenden Klageverfahren begehrte die Klägerin vom Jobcenter Kiel die Auszahlung des vollen Regelbedarfs für die Monate Oktober und November 2020 ohne Anrechnung der für sie vom Jobcenter Segeberg auf das Konto des Stiefvaters bezahlten Regelleistungen. Sie berief sich darauf, dass für den Eintritt der Erfüllung ihres ALG-II-Anspruches durch das Jobcenter Segeberg auf ein Konto hätte überwiesen werden müssen, auf welches sie tatsächlich auch Zugriff hat. Andernfalls sei ihr Existenzminimum tatsächlich nicht sichergestellt. Dem folgte das Sozialgericht Kiel nicht. Es falle in die Eigenverantwortung des Leistungsberechtigten, sicherzustellen, dass die Leistungen des Jobcenters so ausgezahlt werden, dass diese ihn auch tatsächlich erreichen.

Sozialgericht Kiel, Urteil vom 08.09.2022, S 31 AS 10161/21

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Begleitung durch Vertrauensperson bei Untersuchung durch medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig

Bundessozialgericht in Kassel

Grundsätzlich steht es dem zu Begutachtenden frei, zu einer Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen eine Vertrauensperson mitzunehmen. Der Ausschluss der Vertrauensperson ist aber möglich, wenn er im Einzelfall zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege – insbesondere mit Blick auf eine unverfälschte Beweiserhebung – erforderlich ist. Dies hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts am 27. Oktober 2022 entschieden (Aktenzeichen B 9 SB 1/20 R).

Der Kläger wendete sich gegen die Herabsetzung des bei ihm ursprünglich festgestellten Grades der Behinderung von 50 auf 30. Die im Klageverfahren mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragten Orthopäden hatten die Begutachtung des Klägers abgelehnt, weil dieser die Anwesenheit seiner Tochter oder seines Sohnes als Vertrauensperson während der Anamnese und der Untersuchung verlangt hatte. Daraufhin wurde dem Kläger Beweisvereitelung vorgeworfen.

Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass es dem zu Begutachtenden im Grundsatz frei steht, eine Vertrauensperson zu einer Untersuchung mitzunehmen. Das Gericht kann jedoch den Ausschluss der Vertrauensperson anordnen, wenn ihre Anwesenheit im Einzelfall eine geordnete, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert. Differenzierungen zum Beispiel nach der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson, dem medizinischen Fachgebiet oder unterschiedlichen Phasen der Begutachtung sind in Betracht zu ziehen.


Keine Hartz IV-Erhöhung zum Inflationsausgleich

1. Bei einer gesetzlich klar bestimmten Regelbedarfshöhe im Grundsicherungsrecht ist es den Fachgerichten verwehrt, im Eilverfahren selbst unmittelbar aus der Verfassung öffentlich-rechtliche Ansprüche zu schöpfen. Eine sich allein auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und dem daraus folgenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stützende Verurteilung zur vorläufigen Bewilligung von höheren Leistungen nach dem SGB II würde gegen das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des BVerfG für gesetzliche Normen verstoßen (Anschluss an Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. August 2022 – L 8 SO 56/22 B ER –, juris).

2. Es besteht auch keine Veranlassung, wegen der derzeit hohen Inflationsrate und des damit eintretenden Kaufkraftverlustes das vorliegende Eilverfahren auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen, denn die gegenwärtige monatliche Regelbedarfshöhe (für alleinstehende Erwachsene 449 €) ist am Maßstab der Verfassung nicht evident unzureichend. Der Gesetzgeber ist zwar gehalten, bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsschritte zu korrigieren. Eine solche Reaktion des Gesetzgebers ist jedoch erfolgt, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung auch zum Inflationsausgleich in Höhe von 200 € gewährt wurde. Außerdem ist ein Gesetzgebungsverfahren angestoßen worden, das eine Neuberechnung des Regelbedarfs als Bürgergeld ab dem 1. Januar 2023 mit einer Erhöhung (für alleinstehende Erwachsene) von 53 € (vorgeschlagener Leistungssatz dann 502 €) vorsieht. Durch einen künftig doppelten Dynamisierungsfaktor soll auch schneller auf kurzfristigere Preiserhöhungen reagiert werden können.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30.09.2022, L 6 AS 87/22 B ER


Nur hohes Trinkgeld ist auf ALG II anzurechnen

Trinkgeld kann sich bei der Berechnung des ALG-II-Anspruchs nur dann leistungsmindernd auswirken, wenn es zehn Prozent des Regelbedarfs (derzeit 44,90 Euro bei einem monatlichen Regelsatz in Höhe von 449 Euro) übersteigt. Das hat der 7. Senat des Bundessozialgerichts am 13. Juli 2022 entschieden. Die als Servicekraft in der Gastronomie tätige Klägerin erhielt neben Erwerbseinkommen aus dieser Beschäftigung Trinkgeld in Höhe von 25 Euro monatlich. Das beklagte Jobcenter berücksichtigte dieses Trinkgeld als Erwerbseinkommen im Sinne des SGB II. Mit ihrem Begehren, das Trinkgeld bei der Berechnung von ALG II außen vor zu lassen, war die Klägerin vor Sozialgericht und Landessozialgericht erfolglos geblieben. Mit ihrer Revision zum BSG hatte die Klägerin Erfolg.

Anders als vom beklagten Jobcenter und den Fachgerichten in der ersten und zweiten Instanz angenommen, handelt es sich bei dem Trinkgeld nicht um Erwerbseinkommen. Das Trinkgeld ist vielmehr eine Zuwendung, die Dritte erbringen, ohne dass hierfür eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung besteht. Hieraus folgt, dass es erst dann als Einkommen bei der Berechnung der Leistung zu berücksichtigen ist, wenn es die Lage der Leistungsberechtigten so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären (vgl. § 11a Abs. 5 SGB II). Dies war vorliegend bei Trinkgeld in Höhe von 25 Euro nicht der Fall.

BSG, Urteil vom 13.07.2022, B 7/14 AS 75/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht bei Unterschreitung des sozialrechtlichen Existenzminimums

Die Ablehnung eines Antrags auf Befreiung vom Rundfunkbeitrag aufgrund der „Härtefallregelung“ in § 4 Abs. 6 Satz 1 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags verletzt die Antragstellerin in ihrem Grundrecht auf Gleichbehandlung  (Art. 3 Absatz 1 GG), wenn die Betroffene nur über ein den sozialrechtlichen Regelsätzen entsprechendes oder diese unterschreitendes Einkommen verfügt und nicht auf Vermögen zurückgreifen kann. 

Geklagt hatte eine alleinerziehende Studentin, die ihren Lebensunterhalt aus Mitteln eines Studienkredits und Wohngeld finanzierte und damit über weniger Einkünfte als eine Bezieherin von ALG II verfügte. Die zuständige Landesrundfunkanstalt hatte ihren Antrag abgelehnt. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht bestätigten die Ablehnungsentscheidung. Zur Begründung führten die Fachgerichte aus, eine Befreiung der Studentin als „Härtefall“ scheide aus, weil bei lediglich geringem Einkommen kein „atypischer Sachverhalt“ vorliege, den der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Befreiungstatbestände versehentlich übergangen habe. 

Hierin liegt ein Verstoß gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG hervorgehenden allgemeinen Gleichheitssatz. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebietet, dass ein nachweislich den sozialrechtlichen Regelleistungen entsprechendes oder sogar noch unterschreitendes Einkommen nicht zur Begleichung von Rundfunkbeiträgen eingesetzt werden muss. Durch die Ablehnung der Befreiung wird die Studentin gegenüber anderen finanziell bedürftigen Personen benachteiligt, denen die Zahlung des Rundfunkbeitrags aus ihren sozialrechtlichen Regelleistungen, die das Existenzminimum schützen sollen, nicht zugemutet wird. Diese Schlechterstellung findet ihre sachliche Rechtfertigung insbesondere auch nicht in der Möglichkeit, aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität zu generalisieren, zu typisieren und zu pauschalieren. 

BVerfG, Beschluss vom 19.01.2022, 1 BvR 1089/18

Erstveröffentlichung in HEMPELS 8/20220

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Referentenentwurf zum Bürgergeld veröffentlicht

Am 09.08.2022 wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) der Referentenentwurf zum neuen Bürgergeld veröffentlicht, das zum 01.01.2023 in Kraft treten soll. Eine Synopse, in der die alte Fassung des Gesetzes und die geplanten Änderungen nebeneinander dargestellt werden, findet sich hier.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Rechte der Bürger*innen bei steigenden Heizkosten

In den letzten Wochen erreichten die Bürgerbeauftragte vermehrt Anfragen von Bürgerinnen, die befürchten, dass höhere Heizkosten vom Jobcenter oder Sozialamt nicht übernommen werden. „Hier herrscht viel Ungewissheit und Existenzangst, dass die Sozialleistungsträger die Kostenübernahme ablehnen könnten“, sagte die Bürgerbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, heute (Donnerstag) in Kiel. Die Anfragen sind dabei vielfältiger Art: So wurde beispielsweise eine erforderliche Umzugszustimmung aufgrund eines hohen Heizkostenabschlags verweigert. Aber auch Fragen in Bezug auf die Übernahme von steigenden Abschlagskosten und notwendiger Betankungen mit Heizöl, erreichten die Bürgerbeauftragte. „Viele Fragen werfen zudem die ab Januar 2023 anfallenden Jahresabrechnungen auf, in denen dann auch höhere Nachzahlungsbeträge entstehen können“, berichtete die Bürgerbeauftragte. Grundsätzlich besteht für Leistungsbezieherinnen ein Übernahmeanspruch von angemessenen Heizkosten. Aber auch Bürgerinnen, die bisher keine Leistungen von Jobcentern und Sozialämtern beziehen und eine Nachzahlung nicht durch eigenes Einkommen decken können, können einen Anspruch auf eine Kostenübernahme haben. Es ist hier unerheblich, ob die Nachforderung in Zeiten vor dem Leistungsbezug entstanden ist. „Wichtig ist nur, dass Bürgerinnen den Antrag im Monat der Fälligkeit einer Nachzahlung stellen,“ betonte El Samadoni, „Ich rechne damit, dass viele Menschen durch die hohen Energiekosten erstmalig auf Sozialleistungen angewiesen sein werden.“

Die Bürgerbeauftragte weist darauf hin, dass bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten der Heizung nicht der Betrag der Heizkosten an sich zu betrachten ist, sondern vielmehr auf den jeweiligen Verbrauch der Bürger*innen abzustellen ist. Nur dieser Verbrauch muss angemessen sein. Nicht alle Behörden würden dies bereits umsetzen.

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und ihr Team beraten zu diesen Fragen gerne telefonisch von Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 15.00 Uhr unter 0431-988 1240.

Quelle: https://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb/pressemitteilungen/


Arbeit lohnt sich auch für Rentner mit Ehefrau im ALG II-Bezug

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Lebt von zwei Ehepartnern der eine von ALG II und der andere von einer Rente und zusätzlichem Erwerbseinkommen, so ist von den Erwerbseinkommen ein Freibetrag entsprechend § 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII in Höhe von 30 % (höchstens jedoch 50 % der Regelbedarfsstufe 1 von derzeit 449 €) abzusetzen.

In dem vom Gericht entschiedenen Fall lebte der Ehemann von seiner Altersrente und zusätzlichem Erwerbseinkommen aus einer geringfügigen Beschäftigung. Seine etwas jüngere Ehefrau war arbeitslos und bezog ALG II beim Jobcenter Kiel. Das Jobcenter gewährte auf das Erwerbseinkommen des Ehemannes lediglich einen Freibetrag von 30,00 € (die sog. Versicherungspauschale) und rechnete das sog. überschießende Einkommen des Ehemannes – also den Teil seiner Rente und seines Arbeitseinkommens, der über seinen eigenen existenzsicherungsrechtlichen Bedarf hinausgeht – auf den ALG II-Anspruch seiner Ehefrau an.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel. Zwar scheide eine Bereinigung des Einkommens der Ehemannes nach den Grundsätzen des SGB II aus, weil dieser aufgrund des Überschreitens der Altersgrenze nach dem SGB II nicht (mehr) „leistungsberechtigt“ im Sinne von § 11b Abs. 2 und 3 SGB II sei. Auch eine Einkommensbereinigung nach den Regeln der Altersgrundsicherung (§ 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII) scheide in direkter Anwendung aus, weil der Ehemann selbst nicht hilfebedürftig sei und deswegen keinen Anspruch auf Altersgrundsicherung habe. Diese vom Gesetzgeber nicht gewollte sog. „planwidrige Regelungslücke“ sei indessen mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Grundgesetz nicht vereinbar und deswegen durch eine analoge Anwendung der Freibetragsregelung des § 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII zu schließen.

Durch den höheren Freibetrag des Ehemannes – hier waren es rund 100 € – waren bei der Ehefrau 100 € weniger auf ihren ALG II-Anspruch anzurechnen, sie erhielt also 100 € mehr ALG II.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 02.02.2022, S 43 AS 5/22 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Eckpfeiler für das neue Bürgergeld ab Januar 2023

I. Neues Miteinander, neue Chancen auf Arbeit

  • Gemeinsam vereinbaren Arbeitssuchende und Jobcenter einen Kooperationsplan für den individuellen Weg in Arbeit.
  • Grundlage der Zusammenarbeit soll Vertrauen sein. In den ersten sechs Monaten, der sogenannten Vertrauenszeit, können deshalb künftig keine Leistungen mehr gemindert werden. Weiterbildung und der Erwerb eines Berufsabschlusses stehen im Vordergrund. Der sogenannte Vermittlungsvorrang wird daher abgeschafft.
  • Für Weiterbildungen werden ein zusätzlicher finanzieller Ausgleich und neue Angebote geschaffen. Wer etwa einen Berufsabschluss nachholt, kann künftig statt bisher zwei dann für bis zu drei Jahre gefördert werden.
  • Der Soziale Arbeitsmarkt (§ 16i SGB II) wird fortgeführt: Jobcenter können weiterhin sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse fördern, um Menschen nach besonders langer Arbeitslosigkeit zu aktivieren.
  • Menschen, denen es besonders schwerfällt, eine Arbeit zu finden oder aufzunehmen, können durch professionelles Coaching unterstützt werden.

II. Mehr Sicherheit, mehr Respekt für Lebensleistung

  • Vermögen und Angemessenheit der Wohnung werden erst nach 24 Monaten Bürgergeldbezug überprüft.
  • Nach Ablauf der 24 Monate (Karenzzeit) ist ein höheres Schonvermögen als bisher vorgesehen. Rücklagen für die Altersvorsorge werden ebenfalls besser geschützt.
  • Für Auszubildende, Schüler*innen und Studierende, die Bürgergeld beziehen, gelten höhere Freibeträge für die Ausbildungsvergütung oder den Nebenjob.

III. Regelsätze und Sanktionen

  • Die Regelsätze sollen zum 1. Januar 2023 angemessen und deutlich steigen. Einzelheiten werden im Gesetzentwurf ergänzt, sobald die erforderlichen Berechnungen abgeschlossen sind.
  • Die Vorgaben für Leistungsminderungen (sogenannte Sanktionen) werden auf Basis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 neu geregelt.
  • Für Rückforderungen zu viel ausgezahlter Beträge gilt künftig eine Bagatellgrenze.

Die Bürgergeld-Reform startet in der nächsten Zeit mit einem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Nach der sogenannten Ressortabstimmung (Prüfung seitens aller beteiligten Bundesministerien) und einem anschließenden Kabinettsbeschluss wird das Bürgergeldgesetz von Bundestag und Bundesrat beraten und beschlossen.

Quelle: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2022/das-neue-buergergeld-mehr-respekt-und-sicherheit-weniger-buerokratie.html


Hartz IV: Zum Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft bei Partnern

Schleswig-Holsteinisches LSG

Ziehen unverheiratete Partner in einer Wohnung zusammen und ist einer von ihnen erwerbslos und auf ALG II angewiesen, ist vom Jobcenter zu prüfen, ob zwischen beiden eine sog. Bedarfsgemeinschaft besteht mit der Folge, dass das Einkommen des erwerbstätigen Partners bei dem Anspruch des ALG II-leistungsberechtigten Partner zu berücksichtigen ist. Das ist nach den Worten des Gesetzes dann der Fall, wenn beide in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenleben, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II). Dieser Wille kann vom Jobcenter u.a. vermutet werden, wenn Partner bereits länger als ein Jahr zusammenleben oder Kinder im Haushalt zusammen versorgt werden (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 und 3 SGB II). Aber auch dann, wenn Partner kürzer als ein Jahr zusammenleben, kann eine Bedarfsgemeinschaft angenommen werden, wenn besonders gewichtige Umstände die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft rechtfertigen. Als Indiz hierfür kann ein Verlöbnis mit Austausch von Ringen als Ausdruck eines Heiratswunsches in Betracht kommen. Ist es zwischenzeitlich allerdings zu einer Lösung des Verlöbnisses mit einem temporären Auszug gekommen, belegt dies, dass die Partner doch noch eine gewissen Zeit benötigen, um herauszufinden, ob sie willens und in der Lage sind, dauerhaft füreinander einzustehen und Verantwortung füreinander zu übernehmen. Kinder werden in einem Haushalt nicht schon dann „versorgt“, wenn lediglich mit Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt wird. Auch kleinere und alltägliche Handlungen wie das Mitdecken des Tisches auch für die Kinder des Partners, das Mitwaschen der Kleidung, gelegentliches Aufpassen auf die Kinder, Fahrten zu Schule oder die gemeinsame Freizeitgestaltung reichen nicht aus. Die Vermutungsregelung lösen nur besonders intensive Versorgungsleistungen wie etwa eine überwiegende Versorgung oder die maßgebliche Mitwirkung bei der Pflege aus.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29.03.2022, L 3 AS 29/22 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 6/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Abhängigkeit sozialrechtlichen Verwertungsschutzes für selbst bewohntes Wohneigentum von der aktuellen Bewohnerzahl verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz

Pressemitteilung Nr. 49/2022 vom 2. Juni 2022

Beschluss vom 28. April 2022
1 BvL 12/20

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf eine Vorlage entschieden, dass § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Die Vorlage betrifft die im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung anzuwendende Regelung des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 SGB II, wonach selbst bewohntes Wohneigentum angemessener Größe einem Bezug von Grundsicherungsleistungen nicht als anrechenbares Vermögen entgegensteht, also in der Sache vor Verwertung geschützt ist. Die angemessene Größe richtet sich dabei nach der aktuellen Bewohnerzahl. Die Regelung berücksichtigt daher nicht, wenn Eltern gegenwärtig gerade deshalb über größeren Wohnraum verfügen, weil sie zuvor noch den Wohnbedarf ihrer mittlerweile ausgezogenen Kinder decken mussten. Dass die Vorschrift für die Frage des Verwertungsschutzes von Wohneigentum nicht nach dessen familiärer Vorgeschichte differenziert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorschrift dient der Realisierung des Bedarfsdeckungsprinzips, wonach im System der Grundsicherung staatliche Leistungen allgemein nachrangig gewährt werden. Das steht zu der Belastung der Betroffenen nicht außer Verhältnis.

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Hartz IV: Freibeträge für jeden Monat mit Einkommen

Bundessozialgericht in Kassel

Der Grundfreibetrag von 100 Euro sowie der Erwerbstätigenfreibetrag (§ 11b Abs. 2 und 3 SGB II) sind für jeden Verdienstmonat, in dem Erwerbseinkommen zufließt, abzusetzen.

Geklagt hatte eine Familie, in welcher der Vater ab dem 16.02.2015 eine befristete Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte. Obwohl die Vergütung nach dem Arbeitsvertrag stets erst zum 15. des Folgemonats fällig war, erhielt der Vater schon im Februar 2015 mehrere Barzahlungen in Höhe von zusammen 355 Euro. Das Jobcenter gewährte auf die 355 € lediglich die Versicherungspauschale von 30 Euro.

Während das Sozialgericht Lübeck entschied, dass von dem Februar-Einkommen die vollen Erwerbstätigenfreibeträge abzusetzen sind, entschied das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht, dass Grund- und Erwerbstätigenfreibetrag nur im Monat der Fälligkeit des Arbeitsentgelts, also hier im März 2015, abzusetzen seien.

Das Bundessozialgericht hob die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts auf und bestätigte die Entscheidung des Sozialgerichts Lübeck: Auch vom Februar-Einkommen waren die vollen Erwerbstätigenfreibeträge abzusetzen. Dies ergibt sich aus dem der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugrundeliegenden Monatsprinzip, dem auch bezogen auf die Absetzbeträge bei Erwerbstätigkeit strikt Rechnung zu tragen ist. Mit dem Grundfreibetrag werden zudem mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben berücksichtigt (etwa Kosten für Arbeitskleidung, Fahrtkosten), welche im jedem Monat, in dem gearbeitet wird, entstehen, unabhängig davon, wann das Gehalt ausgezahlt wird. Der finanziellen Anreiz zur Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit würde zudem reduziert, wenn die Freibeträge bei Vorauszahlungen auf Arbeitslohn keine Berücksichtigung fänden.

BSG, Urteil vom 29.03.2022, B 4 AS 24/21 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ablehnung von Beratungshilfe für sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 45/2022 vom 24. Mai 2022

Beschluss vom 04. April 2022
1 BvR 1370/21

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Ablehnung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig war. Der Antrag des Beschwerdeführers auf die Bewilligung von Beratungshilfe wurde vom zuständigen Amtsgericht in mehreren Entscheidungen wegen Mutwilligkeit abgelehnt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheiden aus dem April 2021 wurde die Leistungsbewilligung des Beschwerdeführers für den Zeitraum Juli bis Dezember 2020 endgültig festgesetzt und daneben eine Erstattungsforderung geltend gemacht. Grund für die Erstattungsforderung war unter anderem eine vom Jobcenter festgestellte Überzahlung aufgrund eines Betriebskostenguthabens aus dem Jahr 2019, welches vom Jobcenter in dem Zeitraum Juni bis November 2020 anteilig leistungsmindernd berücksichtigt wurde.

Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht die Bewilligung von Beratungshilfe. Er zweifelte an der Richtigkeit der Bescheide und wollte für die Gestaltung des Widerspruchs anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Er nannte der Rechtspflegerin einige Punkte, aufgrund derer die Bescheide nicht richtig sein könnten; unter anderem die leistungsmindernde Verrechnung des Betriebskostenguthabens über einen Zeitraum von sechs Monaten. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts wies den Antrag wegen Mutwilligkeit zurück. Ein eventueller Widerspruch sei ohne anwaltliche Hilfe zu fertigen. Es lägen keine Anzeichen für eine konkrete Rechtsbeeinträchtigung vor.

Der Beschwerdeführer legte Erinnerung ein. Die Anrechnung der Betriebskosten und die Errechnung des Erstattungsbetrags seien komplexe Sachverhalte. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts half der Erinnerung nicht ab. Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss wegen Mutwilligkeit abgewiesen. Der Beschwerdeführer wünsche Beratungshilfe, um Leistungsbescheide des Jobcenters pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Er sei der Ansicht, dass es in den Bescheiden zu Fehlern gekommen sei, könne aber nicht konkret darlegen, um welche Fehler es sich handele. Auch habe er nicht vorgetragen, dass er sich selbst schriftlich oder durch Vorsprache beim Jobcenter um eine Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe.

Die von dem Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge blieb ohne Erfolg.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt er eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG).

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit.

Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Dabei kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrundeliegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde.

Indem das Amtsgericht das Beratungshilfebegehren des Beschwerdeführers nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Beratungshilfegesetz als mutwillig erachtet hat, hat es Bedeutung und Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt.

Der Beschwerdeführer hatte keine besonderen Rechtskenntnisse, und der zugrunde liegende Sachverhalt warf schwierige Tatsachen- und Rechtsfragen auf. Das gilt jedenfalls für die vom Beschwerdeführer angezweifelte Anrechnung des Betriebskostenguthabens auf den Leistungsanspruch und dessen Aufteilung auf einen Zeitraum von sechs Monaten. Zur Klärung dieser Frage durfte der Beschwerdeführer auch nicht an das Jobcenter verwiesen werden, weil dieses den angegriffenen Bescheid selbst erlassen hatte.

Die Einschätzung des Amtsgerichts, die vom Beschwerdeführer verfolgte Rechtsverfolgung sei mutwillig, ist nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer hatte nicht pauschal die Überprüfung eines Leistungsbescheids begehrt, sondern bereits konkret aufgezeigt, auf welche Punkte sich seine Zweifel an der Richtigkeit der Bescheide bezogen. Insbesondere hat er die Richtigkeit der ‒ mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung tatsächlich nicht vereinbaren ‒ Anrechnung eines Betriebskostenguthabens über sechs Monate hinweg angezweifelt. Nähere Erläuterungen zu der nicht einfach gelagerten Frage, ob diese Aufteilung zulässig ist oder nicht, konnten von ihm bei der Beantragung von Beratungshilfe schlechterdings nicht erwartet werden.


Urlaub vom 29.06.2022 bis 12.07.2022!

Von Montag, dem 11.04.2022 ab Nachmittag bis Freitag, den 22.04.2022 befinde ich mich im Urlaub.

In eiligen Fällen wenden Sie sich bitte an eine/n meiner Kieler KollegInnen.

In weniger eiligen Fällen schreiben Sie mir bitte eine E-Mail an meiner E-Mail-Adresse helgehildebrandt@hotmail.com und schildern Sie mir Ihr Anliegen.

Soweit Rechtsbehelfs- bzw. Rechtsmittelfristen laufen, legen Sie bitte fristwahrend selbst Widerspruch/Einspruch ein oder erheben Sie fristwahrend die Klage (auf Zugangsnachweis achten!). Widerspruch/Einspruch bzw. Klage müssen Sie dafür nicht begründen.

Soweit Sie Beratungshilfe oder Prozesskostenhilfe beantragen wollen, beantragen Sie bitte schon einmal selbst Beratungshilfe / einen Berechtigungsschein bzw. Prozesskostenhilfe.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Prozesskostenhilfe: Keine Absetzung der Prämienzahlungen auf nicht staatlich geförderten Rentenversicherungsvertrag

Die monatlichen Prämienzahlungen auf einen privaten, nicht staatlich geförderten Rentenversicherungsvertrag können im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens nicht vom heranzuziehenden Einkommen in Abzug gebracht werden. Welche Rentenversicherungsbeträge im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens grundsätzlich abzugsfähig sind, ist gesetzlich geregelt. Gemäß § 115 Abs. 1 S. 2 Nr. 1a ZPO i.V.m. § 82 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB XII sind nur staatlich geförderte Altersvorsorgebeiträge nach § 82 des Einkommensteuergesetzes abzugsfähig. Hierunter fallen entsprechend der Verweisung auf § 82 Abs. 1 EStG nur Leistungen auf einen nach § 5 AltZertG zertifizierten Altersvorsorgevertrag (sog. Riesterrente).

Landgericht Lübeck, Beschluss vom 25.02.2022, 14 T 2/22 (Volltext auch im ersten Kommentar)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Corona-Pandemie: Noch bis Ende 2022 sind die tatsächlichen Unterkunftskosten zu übernehmen

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Während der Corona-Pandemie gelten auch bei Hartz IV (ALG II) einige Besonderheiten. Eine dieser Besonderheiten ist, dass für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis 31. Dezember 2022 beginnen bzw. begonnen haben, die sog. Mietobergrenzen nicht anzuwenden sind, soweit nicht schon vor dem 1. März 2020 bereits nur die Mietobergrenze anerkannt worden ist. Diese Regelung, die sich in § 67 Abs. 3 SGB II findet, ist also wichtig für Leistungsberechtigte, die in einer Wohnung wohnen, die über der Mietobergrenze liegt, aber noch die tatsächlichen Mietkosten vom Jobcenter erhalten, etwa weil sie seit dem 01. März 2020 erstmals ALG II beantragen mussten oder weil das Jobcenter die Leistungen für die Unterkunft noch nicht abgesenkt hat. Von § 67 Abs. 3 SGB II profitieren aber auch Leistungsberechtigte, in seit dem 01. März 2020 umgezogen sind. Denn auch bei der Neuanmietung einer Wohnung gilt, dass in der Corona-Pandemie die tatsächlichen Mietkosten als „angemessen“ im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II gelten und deswegen vom Jobcenter zu übernehmen sind.

Das Sozialgericht Kiel hat nun entschieden, dass § 67 Abs. 2 SGB II auch auf Leistungsberechtigte anzuwenden ist, deren Hilfebedürftigkeit nicht ursächlich auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Mieten diese im Leistungsbezug eine neue Wohnung an, sind deren Kosten auch dann zu übernehmen, wenn sie sehr hoch sind. Einer vorherigen Zusicherung des Jobcenters zur Übernahme der tatsächlichen Mietkosten bedarf es nicht. Nach Ablauf des letzten noch im Jahre 2022 begonnen Bewilligungszeitraum kann das Jobcenter dann aber ein Mietsenkungsverfahren einleiten – es sei denn, es gibt bis dahin das neue „Bürgergeld“ mit neuen gesetzlichen Regelungen zu den Unterkunftskosten.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 28.01.2022, S 34 AS 4/22 ER, rechtskräftig

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2022

Anmerkungen:

Anderer Ansicht jetzt der 6. Senat am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, Beschluss vom 23.03.2022, L 6 AS 28/22 B ER: Neuanmietungen im ALG II-Leistungsbezug sind von § 67 Abs. 3 SGB II nicht erfasst (Bestätigung des Beschlusses des Sozialgerichts Kiel vom 09.03.2022, S 31 AS 17/22 ER) .

Wie Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 28.01.2022, S 34 AS 4/22 ER: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.09.2020, L 11 AS 508/20 B ER; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 28.07.2021, L 16 AS 311/21 B ER; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.03.2022, L 4 AS 40/22 B ER; Sozialgericht Neuruppin, Gerichtsbescheid vom 25.02.2022, S 25 AS 865/20; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.02.2022, L 6 AS 585/21 B ER; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.02.2022, L 21 AS 66/22 B ER.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hilfen in der Pandemie: Vereinfachter Zugang zur Grundsicherung weiterhin möglich

Wer pandemiebedingt in Not gerät, soll bis 31. Dezember 2022 Anspruch auf vereinfachten Zugang zur Grundsicherung haben. Die Bundesregierung will damit insbesondere Kleinunternehmer und Solo-Selbstständige unterstützen, die vorübergehend von erheblichen Einkommenseinbußen betroffen sind.

Aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie hat die Bundesregierung beschlossen, den vereinfachten Zugang zu den Grundsicherungssystemen über den 31. März bis 31. Dezember 2022 zu verlängern. Für die Antragstellerinnen und Antragsteller heißt das:

Ab 1. April 2022 werden weiterhin unter anderem

  • die Vermögensprüfungen nur eingeschränkt durchgeführt,
  • die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung übernommen und
  • vorläufige Leistungen vereinfacht bewilligt.

Die Bundesregierung hat mit den Sozialschutz-Paketen den Zugang zur Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie zur Sozialhilfe wesentlich vereinfacht. Sie bietet damit Menschen eine Absicherung, die pandemiebedingt in Not geraten – insbesondere Selbstständigen, Beschäftigten mit kleinen Einkommen und vormals prekär Beschäftigten.

Die Regelungen zur Mittagsverpflegung von Leistungsberechtigten in Werkstätten für behinderte Menschen und vergleichbaren Einrichtungen werden ebenfalls verlängert.

Auch Einkünfte von BAföG-Geförderten aus Tätigkeiten in systemrelevanten Branchen sollen weiterhin nicht auf den BAföG-Anspruch angerechnet werden.

Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/grundsicherung-1783154


Nachholende Antragstellung auf ALG II: Ein hohler Zahn?

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Im Sozialrecht kann es vorkommen, dass hilfebedürftige Personen einen Antrag auf eine Sozialleistung stellen, die ihnen tatsächlich gar nicht zusteht. Ihr Antrag wird dann – manchmal nach langer Prüfung – abgelehnt. Oder es stellt sich nachträglich heraus, dass die Voraussetzungen für die beantragte Leistung tatsächlich gar nicht vorgelegen haben. Die zu Unrecht bewilligten und ausgezahlten Sozialleistungen müssen dann im Regelfall erstattet werden. Da viele Sozialleistungen – etwa ALG II oder Leistungen der Altersgrundsicherung – nur auf Antrag und erst ab dem Monat der Antragstellung bewilligt werden, kann es vorkommen, dass Sozialleistungen zu erstatten sind, ohne dass die richtigen Sozialleistungen rechtzeitig beantragt worden sind. In diesem Fall hilft § 28 SGB X weiter: Wird zum Beispiel ALG II zurückgefordert, weil etwa die Leistungsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit tatsächlich nicht vorlag, können Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung beantragt werden. Der ALG II-Antrag wahrt dann die Antragsfrist für den Grundsicherungsantrag, wobei allerdings besondere Fristen zu beachten sind.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht hat nun entschieden, dass ein Schüler, der unverschuldet fehlerhaft BAföG erhalten hatte und dieses für einige Monate erstatten musste, zwar wirksam innerhalb der Fristen einen nachgeholten Antrag auf ALG II nach § 28 SGB X gestellt hat. Allerdings seien die zu Unrecht bewilligten BAföG-Zahlungen – obwohl sie erstattet werden müssen – auf dessen ALG II-Anspruch anspruchsmindernd anzurechnen, da das BAföG dem Schüler in dem jeweiligen Monat tatsächlich zur Deckung seines Lebensbedarfs zur Verfügung gestanden hat. Als Folge dieser Entscheidung hat der Schüler damit im Ergebnis in den betreffenden Monaten weder BAföG – das er ja zurückzahlen muss – noch ALG II erhalten. Wegen grundsätzlicher Bedeutung und bislang fehlender höchstrichterlicher Rechtsprechung zu dieser Frage hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht Revision gegen sein Urteil zum BSG zugelassen. 

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 11.11.2021, L 6 AS 26/20 (Revision beim BSG anhängig zum Az. B 4 AS 86/21 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


EU-Ausländer: Anspruch auf ALG II trotz Verlustfeststellung

Schleswig-Holsteinisches LSG

Ausländer aus der Europäischen Union können auch dann einen Anspruch auf ALG II gegenüber dem örtlich zuständigen Jobcenter haben, wenn die Ausländerbehörde den Verlust ihres Aufenthalts- bzw. Freizügigkeitsrechts festgestellt hat.

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte die Ausländerbehörde den Verlust des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts einer Familie festgestellt. In der Folge hob das zuständige Jobcenter deren ALG II-Bewilligung auf, da ab dem Zeitpunkt der Verlustfeststellung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a SGB II kein Anspruch auf ALG II mehr bestehe. Sowohl gegen die Verlustfeststellung als auch gegen Aufhebung der ALG II-Bewilligung erhob die Familie Widerspruch und trug vor, die Mutter haben zwischenzeitlich wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und sei damit wieder freizügigkeitsberechtigt. Dennoch wiesen Jobcenter und Ausländerbehörde die jeweiligen Widersprüche zurück.   

Rechtswidrig, entschied das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht in zweiter Instanz in einem Eilverfahren. Zwar entfalte die Verlustfeststellung der Freizügigkeitsrechts der Familie durch die Ausländerbehörde eine sog. „Tatbestandswirkung“ für den Ausschluss von ALG II-Leistungen. Wird indessen nach Verlust des Freizügigkeitsrechts – hier durch die erneute Arbeitsaufnahme – ein Tatbestand verwirklicht, der ein Freizügigkeitsrecht neu begründet und hebt die Ausländerbehörde ihre deswegen rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung nicht auf, können die Sozialgerichte im Rahmen des von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ohne Bindung an die Verlustfeststellung eigenständig das Aufenthaltsrecht bejahen und das zuständige Jobcenter vorläufig zu ALG II-Leistungen verpflichten.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30.08.2021, L 6 AS 10003/21 B

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Häufig mehr Geld für die Miete in Schleswig-Holstein

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Leistungsberechtigte nach dem SGB II (ALG II, Hartz IV) und SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) erhalten neben ihren Regelleistungen Leistungen für ihre Unterkunft, um ihre Miete bezahlen zu können. Jobcenter und Sozialämter übernehmen aber nur die „angemessenen“ Mietkosten. Bis zu welcher Höhe eine Miete je nach Haushaltsgröße noch „angemessen“ ist, ermitteln die Leistungsträger, indem sie sog. „schlüssige Konzepte“ erstellen lassen und für ihre Zuständigkeitsbereiche Mietobergrenzen ausweisen. Weil die Anforderungen des Bundessozialgerichts an die Berechnung hoch sind aber auch, weil die Gemeinden häufig versuchen, die Mietobergrenzen möglichst niedrig zu halten um Geld zu sparen und deswegen wenig überzeugende Berechnungen präsentieren, verwerfen die Sozialgerichte in Schleswig-Holstein die Konzepte der Grundsicherungsträger nicht selten als „unschlüssig“. So hat etwa das Sozialgericht Schleswig mit Urteil vom 04.05.2021 zum Aktenzeichen S 33 AS 592/19 die Mietobergrenze im Kreis Nordfriesland für den Zeitraum September 2019 bis Februar 2020 verworfen, die Stadt Neumünster verfügt nach Hinweisen des Sozialgerichts Kiel im Klageverfahren S 42 AS 203/16 ab Januar 2017 über kein „schlüssiges Konzept“ und das Jobcenter im Kreis Rendsburg-Eckernförde hat im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Kiel zum Aktenzeichen S 35 AS 435/20 für den Zeitraum Januar 2017 bis August 2018 die tatsächlichen Unterkunftskosten des Klägers anerkannt. Betroffene, deren Miete nicht in der tatsächlichen Höhe anerkannt wird, sollten sich rechtlich beraten lassen: Verfügt ihre Gemeinde über kein „schlüssiges Konzept“, müssen die Grundsicherungsträger für ihre Unterkunft die Werte nach § 12 Wohngeldgesetz zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 % zugrunde legen. Diese Werte liegen regelmäßig deutlich über den kommunalen Mietobergrenzen. 

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kosten einer Privathaftpflichtversicherung können Kosten der Unterkunft sein

Bundessozialgericht in Kassel

Kosten einer privaten Haftpflichtversicherung sind unter bestimmten Voraussetzungen als Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Jobcenter zu übernehmen.

Voraussetzung für eine Übernahme als Unterkunftskosten ist zunächst, dass sich der Mieter gegenüber seinem Vermieter mietvertraglich zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung verpflichtet hat. Weitere Voraussetzung ist sodann, dass zwischen der Verpflichtung zum Abschluss der Haftpflichtversicherung und der Anmietung der Wohnung ein hinreichender sachlicher Zusammenhang besteht. Dies ist der Fall, wenn durch die Haftpflichtversicherung auch Schäden an der Mietsache versichert sind, für deren Ersatz der leistungsberechtigte ALG II-Empfänger seinem Vermieter gegenüber verpflichtet ist. Dabei steht der Berücksichtigungsfähigkeit der Aufwendungen für die Privathaftpflichtversicherung nicht entgegen, dass diese nicht nur vom Leistungsberechtigten an der Mietsache verursachte Schäden umfasst, sondern darüber hinaus auch andere Schäden abdeckt. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Hartz-IV-Empfänger die Möglichkeit hat, eine günstigere Privathaftpflichtversicherung abzuschließen, welche nur Schäden an der Mietsache als versichertes Risiko erfasst.

Bundessozialgericht, Urteil vom 30.06.2021, B 4 AS 76/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Entschädigungszahlung wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer ist kein Einkommen im Sinne des SGB II

Bundessozialgericht in Kassel

Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat am 11. November 2021 entschieden, dass eine Entschädigung wegen eines immateriellen Schadens aufgrund überlangen Gerichtsverfahrens – anders als vom beklagten Jobcenter und dem Landessozialgericht angenommen – nicht als Einkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II zu berücksichtigen ist (Aktenzeichen B 14 AS 15/20 R).

Die Entschädigung wegen eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Nachteils nach § 198 Absatz 2 Gerichtsverfassungsgesetz ist nach § 11a Absatz 3 Satz 1 SGB II von der Einkommensberücksichtigung bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II ausgenommen. Die Zahlung dient einem § 198 Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich zu entnehmenden Zweck – der Wiedergutmachung der Folgen eines überlangen Verfahrens. Auch ist keine Zweckidentität mit den Leistungen nach dem SGB II gegeben. Das SGB II sieht für immaterielle Schäden keine Leistungen vor.


Zur Durchsetzung der Förderung einer Ausbildung im Eilverfahren

Schleswig-Holsteinisches LSG

Im Regelfall kann ein Anspruch auf Förderung einer Ausbildung als Leistung zur Teilhabe gegen die gesetzliche Rentenversicherung (DRV) nicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durchgesetzt werden.

Im Sozialrecht ist es möglich, einen Sozialleistungsträger durch ein Sozialgericht zu einer vorläufigen Leistungserbringung verpflichten zu lassen. Voraussetzung hierfür ist, dass dem Leistungsberechtigten durch das Abwarten einer Entscheidung im normalen Klageverfahren aufgrund der langen Verfahrenszeiten schwere und unzumutbare Nachteile entstehen würden.

In vorliegendem Fall hatte eine Versicherte einen Anspruch auf Förderung einer Ausbildung zur Ergotherapeutin als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI i.V.m. §§ 33 bis 38 SGB IX) gegenüber der DRV im gerichtlichen Eilverfahren verfolgt. Zur Begründung der besonderen Eilbedürftigkeit hatte sie vorgetragen, dass sie demnächst auf Hartz IV angewiesen sei, weil ihr Arbeitslosengeldanspruch auslaufe. Ihre hohe Miete würde dann absehbar vom Jobcenter nicht anerkannt. Sie fühle sich deswegen in ihrer Existenz bedroht.

Hierin sah das Gericht indessen keine schweren und unzumutbaren Nachteile. Der mögliche Hartz-IV-Bezug sowie ein mögliches Kostensenkungsverfahren würde nämlich erst Ende 2021 Wirkung entfalten. Zudem seien im Teilhaberecht viele Betroffene wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr erwerbstätig und auch auf Hartz IV angewiesen. Mit dem Ausnahmecharakter vorläufiger Regelungen sei es aber nicht vereinbar, regelmäßig und automatisch Leistungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zuzusprechen. Der Eilantrag wurde deswegen abgelehnt.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2021, L 1 R 50/21 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Widerspruchsbelehrung muss auf elektronische Einlegungsmöglichkeit hinweisen

Schleswig-Holsteinisches LSG

Die Rechtsbehelfsbelehrungen in den Bescheiden der Jobcenter sind unvollständig, wenn in diesen – wie derzeit noch üblich – Leistungsempfänger nicht auch über die Möglichkeit belehrt werden, den Widerspruch selbst – und nicht nur über einen Rechtsanwalt – auf elektronischem Wege einlegen zu können. Aufgrund einer solchen Unrichtigkeit kann der Widerspruch anstatt innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheides gemäß § 66 Abs. 2 SGG noch innerhalb der Frist von einem Jahr erhoben werden.

Hintergrund der Entscheidung ist, dass das verpflichtete Jobcenter Kiel seit dem 15. Januar 2018 am elektronischen Rechtsverkehr mittels elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) teilnimmt. Auch wenn es für Privatpersonen wenig praktikabel sein mag, besteht auch für diese die Möglichkeit, eine elektronische Signaturkarte bei der Bundesnotarkammer zu erwerben und das elektronische Behördenpostfach des Jobcenters Kiel rechtswirksam zu nutzen.

Für ALG II-Empfänger bedeutet das nicht nur in Kiel: Sie können noch ein Jahr nach Zugang eines Bescheides Widerspruch gegen diesen einlegen. Der Widerspruch hat – anders als ein Überprüfungsantrag, für den stets längere Fristen gelten – sog. „aufschiebende Wirkung“. Bei Erstattungsbescheiden hat dies etwa zur Folge, dass die Rückforderungsbeträge bis zu einer abschließenden rechtlichen Klärung nicht bezahlt werden müssen und etwaige schon eingeleitete Mahn- und Vollstreckungsverfahren ausgesetzt werden müssen. Zudem ist für Widerspruchsverfahren – anders als für Überprüfungsanträge – von den Amtsgerichten nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets Beratungshilfe zu gewähren – was wichtig ist, um nicht auf den Anwaltskosten sitzen zu bleiben, sollte sich ein Widerspruch als nicht begründet erweisen.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06.05.2021, L 6 AS 64/21 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Garagenkosten sind Kosten der Unterkunft

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Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage sind als Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II anzuerkennen, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind, eine Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz nicht möglich und die Gesamtmiete angemessen ist.

Die Kläger bewohnten eine Mietwohnung mit Tiefgaragenstellplatz, für den monatlich 25,56 Euro als sog. „Garagenzuschlag“ zu zahlen war. Der Mietvertrag über den Stellplatz wurde nicht separat geschlossen und er sah keine Möglichkeit der Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz vor. Das beklagte Jobcenter bewilligte ungekürzte Leistungen für Unterkunft und Heizung. Eine Übernahme der Stellplatzkosten lehnte das Jobcenter indessen ab, weil es der Auffassung war, dass die Kläger gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II verpflichtet gewesen seien, ihre Unterkunftskosten im Wege der Untervermietung des Stellplatzes zu senken.

In letzter Instanz bestätigte das Bundessozialgericht (BSG), dass den Klägern höhere Leistungen für ihre Unterkunft unter Berücksichtigung des sog. „Garagenzuschlags“ zustehen. Es bestehe insbesondere auch keine Obliegenheit zur Kostensenkung durch Untervermietung des Stellplatzes, denn weder auf § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II, der die Überschreitung der Angemessenheitsgrenze voraussetzt, noch auf den allgemeinen Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II, bei dem es sich nicht um einen  eigenständigen Ausschlusstatbestand handele, könne eine solche Obliegenheit gestützt werden.

BSG, Urteil vom 19.05.2021, B 14 AS 39/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wohnkostenlücke 2020: Dramatischer Anstieg der Mietzuzahler auch in Kiel

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Die Bundestagsfraktion Die Linke hat eine Kleine Anfrage (19/30857) zur Wohnkostenlücke im Jahr 2020 gestellt. Darin fragt sie die Bundesregierung unter anderem, in welcher Höhe die Kosten für Unterkunft und Heizung, die Leistungsberechtigte in der Grundsicherung nach dem SGB II tatsächlich aufbringen mussten, nicht übernommen worden sind und wie viele Bedarfsgemeinschaften davon betroffen waren.

Für die Landeshauptstadt Kiel hat die Bundesregierung nachfolge Zahlen genannt (Drucksache 19/31600):

  • 2.322.789 € mussten ALG II-Bezieher in Kiel im Jahr 2020 zu ihrer Miete aus ihrem Regelbedarf dazu bezahlen.
  • Bei 1.834 Bedarfsgemeinschaften oder einem Anteil vom 11,6 % wurden die Mietkosten nicht in voller Höhe anerkannt.
  • Im Durchschnitt mussten die Betroffenen alleinstehenden Personen oder Familien 105,55 € oder 18,3 % im Monat aus dem Regelsatz zu ihrer Miete dazu zahlen.

Im Mai 2020 hatte die Stadt Kiel auf eine kleine Anfrage der Ratsfraktion Die Linke noch angegeben, dass 1.222 Kieler Hartz-IV-Familien zu ihrer Miete hinzu zahlen müssten. Das bedeutet einen Anstieg von 50 % Zuzahlern allein in der zweiten Hälfte des Jahres 2020.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ablehnung einer Heizkostennachforderung nicht ohne Vorwarnung

Bundessozialgericht in Kassel

Die Ablehnung der Übernahme unangemessener Unterkunfts- oder Heizkosten setzt grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren voraus, das den Leistungsberechtigten in die Lage versetzt, seiner vom Gesetz vorgesehenen Kostensenkungsobliegenheit nachzukommen.

Geklagt hatte eine alleinerziehende Mutter, die mit ihren drei kleinen Kindern im ALG II-Bezug stand. Die Familie zog im Januar 2011 in eine kleinere Mietwohnung um. Im April 2011 machte der frühere Vermieter eine Heizkostennachforderung von 690,35 € geltend. Das Jobcenter übernahm hiervon nur anteilig 148,58 €. Während das Sozialgericht das Jobcenter verurteilt hat, die gesamte Heizkostennachforderung zu übernehmen, lehnte das Landessozialgericht einen Anspruch der Familie ganz ab, weil die Heizkosten unangemessen hoch gewesen seien.

Auf die Revisionen der Klägerinnen hat das Bundessozialgericht das Jobcenter verurteilt, die komplette Heizkostennachforderung von 690,35 € zu übernehmen. Denn auch für eine ehemals bewohnte Wohnung sind Nachforderungen dann zu übernehmen, wenn ein durchgehender SGB II-Leistungsbezug vorliegt. Nichts anderes gilt, wenn wegen vorrangig zu beantragendem Kinderwohngeld eine Unterbrechung des Leistungsbezugs eintritt.

Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Ablehnung der Übernahme unangemessener Unterkunfts- oder Heizkosten grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren voraus, das den Leistungsberechtigten in die Lage versetzt, seiner vom Gesetz vorgesehenen Kostensenkungsobliegenheit nachzukommen. Die mit einer Kostensenkungsaufforderung verbundene Warn- und Aufklärungsfunktion ist auch in Bezug auf Heizkosten, welche die Grenzwerte des „Bundesweiten Heizspiegels“ überschreiten und ein unwirtschaftliches Heizverhalten indizieren, nicht entbehrlich.

BSG, Urteil vom 19.05.2021, B 14 AS 57/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Merkzeichen G auch bei nicht dauerhafter Gehbehinderung

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Eine Behinderung stellt häufig eine Benachteiligung gegenüber Nichtbehinderten dar. Um im gesellschaftlichen Leben diese Nachteile zumindest ein wenig abzumildern, werden behinderten Menschen gewisse Nachteilsausgleiche gewährt. Welche das sind, hängt von der Art und dem Grad der Behinderung (GdB) ab. Neben dem GdB können im Schwerbehindertenausweis auch verschiedene sogenannte Merkzeichen eingetragen werden, die wiederum zu spezifischen Nachteilsausgleichen berechtigen.

Vor den Sozialgerichten steht nicht selten die Zuerkennung des Merkzeichens G (Gehbehinderung) im Streit. Das Merkmal G wird zuerkannt, wenn jemand in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Dies ist häufig bei einer Gehbehinderung der Fall, kann aber auch durch innere Leiden, Anfälle oder Orientierungslosigkeit verursacht sein. Voraussetzung für das Merkzeichen G ist üblicherweise, dass eine Wegstrecke von 2 km nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zu Fuß zurückgelegt werden kann.

Mit dem Merkzeichen G gibt es etwa deutliche Vergünstigungen für die Nutzung des ÖPNV, bei Sozialleistungsbezug  ist dieser sogar kostenfrei. Für Leistungsbezieher nach dem SGB XII wird zudem ein Mehrbedarfszuschlag in Höhe von 17 % aufgrund des Merkzeichens G gewährt (§ 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII).

In vorliegendem Fall konnte der Kläger Wegstrecken von 2 km normalerweise in einer halben Stunde zu Fuß zurücklegen, bei sehr warmen Temperaturen aber nicht. Diese Situation hat das Landessozialgericht mit einer Herzerkrankung verglichen, da bei dem Kläger ähnliche Symptome auftraten, wenn er bei Hitze körperlichen Belastungen ausgesetzt war. Da auch bei einer Herzerkrankung die Einschränkungen für die Zuerkennung des Merkmals G nicht dauernd vorliegen muss, hat das Gericht dem Kläger das Merkmal G zugesprochen.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 19.12.2014, L 2 SB 15/13

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Bestimmung der ortsüblichen Vergleichsmiete nach § 558 BGB

Gelegentlich fallen einem beim Aufräumen Urteile in die Hand, deren Veröffentlichung sich auch nach 11 Jahren für den einen oder anderen noch lohnen kann. Mit Urteil vom 23.09.2010 hat das AG Kiel zum Aktenzeichen 119 C 145/10 entschieden:

  • Ein Abschlag vom Mittelwert bzw. heute der Basis-Nettokaltmiete ist vorzunehmen aufgrund einer „anspruchslosen, schlichten Gestaltung des Gebäudes, dem ungepflegten, heruntergekommenen Zustand der Fassade mit teilweise schadhaften Platten sowie dem ungepflegten Erscheinungsbild des Treppenhauses mit erneuerungsbedürftigem Anstrich und schmutzigen Fluren.“
  • Das Vorhandensein eines Aufzuges rechtfertigt keine Positivabweichung bzw. keinen Zuschlag, wenn dieser – wie vorliegend – für die „im 1. Stock gelegene Wohnung irrelevant ist.“
  • Gefangene Räume, ein ungünstiger Zuschnitt der Wohnung, fehlende Fenster in Bad und Küche sowie ein energetischer Zustand auf dem Stand der Gebäudeerrichtung im Jahre 1967 fallen besonders negativ ins Gewicht (nähere Begründung im Urteil).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mittellose Menschen dürfen Sozialhilfe statt Wohngeld wählen

BSG 05

Bundessozialgericht in Kassel

Der Verzicht auf einen Wohngeldantrag kann sich für bedürftige Menschen lohnen. Steht ihnen ohne Wohngeld ergänzende Sozialhilfe nach dem SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) zu, dann können Betroffene mitunter Vergünstigungen für Sozialhilfebezieher – etwa günstigere Monatstickets für den öffentlichen Nahverkehr – nutzen oder auch leichter eine Befreiung vom Rundfunkbeitrag (derzeit 17,50 € im Monat) erhalten.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun entschieden, dass Sozialhilfeträger nicht verlangen dürfen, dass mittellose Personen zuerst Wohngeld beantragen. Geklagt hatte ein Bezieher Altersrente und Wohngeld, der deshalb nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen war. Einen Antrag auf Weiterbewilligung von Wohngeld stellte er nicht und beantragte stattdessen Sozialhilfe, um in den Genuss von Vergünstigungen als Sozialhilfeempfänger zu kommen, die Bezieher von Wohngeld noch nicht erhielten („Berlin-Pass“, der unter anderem den Erwerb eines Sozialtickets für den ÖPNV ermöglicht).

Der Sozialhilfeträger lehnte den Sozialhilfeantrag unter Hinweis auf den sogenannten Nachranggrundsatz in § 2 Abs. 1 SGB XII ab. Rechtswidrig, entschied das BSG in letzter Instanz. Denn der Nachranggrundsatz stelle keine eigenständige Ausschlussnorm dar. Will der Gesetzgeber die Bewilligung von Sozialhilfe also davon abhängig machen, dass kein (höherer) Wohngeldanspruch besteht, so muss er dies ausdrücklich im Gesetz regeln. Eine solche Regelung fehlt indessen – anders als im SGB II in § 12a SGB II – im SGB XII.

Bundessozialgericht, Urteil vom 23.03.2021, B 8 SO 2/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


BSG: Kein Mehrbedarfsanspruch zum Erwerb eines Computers nach bis zum 31.12.2020 geltender Rechtslage

Bundessozialgericht in Kassel

Entgegen der Rechtsprechung vieler Sozial- und Landessozialgerichte (vgl. etwa auch Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER) hat das BSG mit Urteil vom 12.05.2021 zum Aktenzeichen B 4 AS 88/20 R einen Anspruch von Schülern im Leistungsbezug nach dem SGB II gegenüber ihren Jobcentern auf Gewährung eines einmaligen Mehrbedarfes für die Anschaffung eines Computers aus § 21 Abs. 6 SGB II in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung abgelehnt.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin, die unter anderem im Dezember 2016 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezog, besuchte im Schuljahr 2016/2017 die 5. Klasse einer niedersächsischen Oberschule, deren Unterrichtskonzept den Einsatz eines Tablet-Computers vorsah. Im Dezember 2016 kaufte die Klägerin das von ihrer Schule vorgegebene Tablet für 380 Euro. Im Februar 2017 beantragte die Klägerin die Erstattung der Kosten für das Tablet, was der Beklagte ablehnte.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat das Sozialgericht das beklagte Jobcenter antragsgemäß verurteilt, der Klägerin 380 Euro als Härtefallmehrbedarf zu gewähren. Auf die vom Sozialgericht zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen eines Härtefallmehrbedarfs (§ 21 Abs. 6 SGB II a.F.) seien nicht erfüllt. Auch die Voraussetzungen des § 73 SGB XII lägen nicht vor. Hiergegen wendete sich die Klägerin mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision an das Bundessozialgericht.

Der 4. Senat am Bundessozialgericht hat die Revision der Klägerin nun zurückgewiesen. Die Kosten für das Tablet wurden danach zu Recht nicht als Mehrbedarf berücksichtigt. Die Voraussetzungen des § 21 Abs. 6 SGB II in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung für einen Härtefallmehrbedarf lagen nach Ansicht des Bundessozialgerichts nicht vor. Bei den Kosten für den Kauf des Tablets handelte es sich danach nicht um einen laufenden Bedarf. Der Bedarf sei vielmehr nur einmalig im Zeitpunkt des Kaufs des Tablets entstanden. Die auch von vielen Sozial- und Landessozialgerichten angenommene analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II komme nicht in Betracht.

Anmerkungen:

In § 21 Abs. 6 II n.F. ist ein Mehrbedarfsanspruch für ab dem 01.01.2021 entstehende einmalige Bedarfe jetzt ausdrücklich geregelt (vgl. BT-Drucksache 19/24034 Seite 35 f. Ziffer 5 Nr. 3 c). Die Vorschrift lautet: „Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht; bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“

Ein Darlehen für die Anschaffung eines Computers ist dabei aufgrund der hohen Anschaffungskosten regelmäßig nicht „zumutbar“ im Sinne von § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II n.F. (BT-Drucksache a.a.O. a.E.). Hierzu wird in den aktuellen Weisungen der BA (Weisung 202102001 vom 01.02.2021 – Mehrbedarfe für digitale Endgeräte für den Schulunterricht) ausgeführt: „Soweit den betreffenden Schülerinnen und Schülern von ihrer jeweiligen Schule digitale Endgeräte nicht zur Verfügung gestellt werden, besteht ein einmaliger unabweisbarer besonderer Bedarf, der über den Regelbedarf hinausgeht. Dieser Bedarf ist aufgrund seiner Höhe auch nicht über ein Darlehen nach § 21 Absatz 6 SGB II i. V. m. § 24 Absatz 1 SGB II zu decken. Der Bedarf ist daher in diesen Fällen durch einen Zuschuss zu decken.“

Erheblich negative Auswirkungen hat die Entscheidung des Bundessozialgerichts für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die noch im (Corona-) Jahr 2020 für den Erwerbe eines digitalen Endgerätes für das Homeschooling oder in den Jahren davor, weil die Schule einen Rechner erfordert hat, Leistungen nach § 21 Abs. 6 SGB II a.F. in sozialgerichtlichen Eilverfahren erstritten haben. Soweit die Jobcenter den Mehrbedarf nur vorbehaltlich einer anderslautenden Entscheidung in der Hauptsache (ruhend gestelltes Widerspruchsverfahren, Klageverfahren) erbracht haben, droht in den Hauptsacheverfahren nun eine Zurückweisung, verbunden mit einem Erstattungsverlangen der Jobcenter. Vor dem Hintergrund der allenthalben beklagten Benachteiligung der aktuellen Schülergeneration durch coronabedingten Unterrichtsausfall, der besonders Schüler aus einkommensschwachen Haushalten trifft, ist die Entscheidung des BSG rechtspolitisch sicherlich ein verheerendes und arg aus der Zeit gefallenes Signal.

Es wäre wünschenswert, wenn die Jobcenter auf die Rückforderung für vor dem 01.01.2021 erbrachte Leistungen für digitale Endgeräte verzichten würden. Dass diese Mehrbedarfe nach dem politischen Willen des Gesetzgebers anerkannt werden sollten, bestätigt die Gesetzesänderung zum 01.01.2021. Die Bedarfslage war aber jedenfalls im Corona-Jahr 2020 keine andere.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen für Kiel rückwirkend ab 01.01.2021

Am 20.05.2021 wird die Kieler Ratsversammlung die nachfolgenden Mietobergrenzen (bruttokalt) für den Regelungsbereich SGB II und SGB XII beschließen:

Personen im HaushaltAnzuerkennende
Wohnungsgröße (in m2)
Mietobergrenze in EUR
1-Personenhaushalt< 50397,00
2-Personenhaushalt> 50 – < 60466,00
3-Personenhaushalt> 60 – < 75610,50
4-Personenhaushalt> 75 – < 90723,00
5-Personenhaushalt> 90 – < 105845,50
6-Personenhaushalt> 105- < 115925,50
7-Personenhaushalt> 115 – < 1251.005,50
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied1080,00

Quelle: Rats-Drucks. 0420/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Neuanmietung einer zu teuren Wohnung wegen Corona-Pandemie

Schleswig-Holsteinisches LSG

Vor Abschluss eines Mietvertrages über eine neue Wohnung sollen Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz IV) die Zusicherung des für sie zuständigen Jobcenters darüber einholen, dass die Mietkosten vom Jobcenter später tatsächlich auch in voller Höhe übernommen werden (§ 22 Abs. 4 SGB II). Das Jobcenter ist zu dieser Zusicherung verpflichtet, wenn die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind. Das ist in der Regel nur dann der Fall, wenn die Mietkosten innerhalb einer (gültigen) Mietobergrenze liegen, im Ausnahmefall aber auch dann, wenn eine Wohnung die günstigste tatsächlich anzumietende Wohnung ist (sog. „konkrete Angemessenheit“).

An diesen Regeln ändert auch die Corona-Pandemie nichts. Zwar gelten nach § 67 Abs. 1, Abs. 3 SGB II für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 31. März 2021 beginnen, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Diese temporäre Sonderregelung gilt jedoch ausdrücklich nur für bereits bewohne Unterkünfte und gerade nicht für die Neuanmietung einer Wohnung.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.11.2020, L 6 AS 153/20 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Mietspiegel 2021 und neue Mietobergrenzen kommen im Mai

Nachdem der Kieler Mietspiegel 2021 am 15.04.2021 den Sozialausschuss passiert hat, soll dieser sowie die auf der Mietspiegelerstellung aufbauende Berechnung der Mietobergrenzen für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) und SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfe zum Lebensunterhalt) am 20.05.2021 durch die Ratsversammlung der Landeshauptstadt Kiel beschlossen werden.

Nach den aktuellen Erhebungen liegt die durchschnittliche Nettokaltmiete in Bestandsmietverhältnissen in Kiel bei 6,41 €/qm, bei Neuvermietung im Schnitt bei 8,26 €/qm und das durchschnittliche Mietspiegel-Mietniveau bei 7,55 €/qm. Seit der letzten Datenerhebung im Jahre 2017 sind die Mieten in Kiel im Schnitt um 16 % oder 1,04 €/qm gestiegen.

Quelle: Geschäftliche Mitteilung, Dezernat IV, Amt für Wohnen und Grundsicherung, Drucksache 0350/2021, Einbringung 15.04.2021


Keine Anrechnung der hälftigen Beratungshilfegebühr für ein Überprüfungsverfahren auf ein sozialgerichtliches Eilverfahren

Denn das gerichtliche Antragsverfahren hat sich dem außergerichtlichen Überprüfungsverfahren nicht „angeschlossen“ im Sinne von Nr. 2503 Abs. 2 Satz VV RVG: Gegenstand der Beratungshilfeangelegenheit war ein Überprüfungsantrag betreffend eine in der Vergangenheit liegende Entscheidung, Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens jedoch die vorläufige Leistungsgewährung für die Zukunft.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 19.02.2021, S 45 SF 69/18 E

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht: Kein Mehrbedarf für FFP2-Masken im Eilverfahren

Derzeit besteht für Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II kein Eilbedürfnis, um einen Mehrbedarf für die Anschaffung von FFP2-Masken in einem gerichtlichen Eilverfahren durchzusetzen.  

Durch die Pflicht zum Tragen von medizinischen Schutzmasken in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens und das Recht, sich durch FFP2-Masken selbst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen, entsteht grundsätzlich ein Mehrbedarf, der nicht in den SGB II-Regelsatz einberechnet wurde. Je nach persönlicher Situation und den aktuellen Kosten für Masken mit entsprechendem Standard ist aktuell von Mehrkosten um die 12 Euro im Monat auszugehen. Da jedoch die Bezieher von Arbeitslosengeld II im Mai 2021 eine Einmalzahlung von 150 Euro unter anderem zur Abdeckung dieser Mehrkosten erhalten und sie außerdem bis Anfang März 2021 10 FFP2-Masken kostenlos erhalten konnten, rechtfertigt dieser Mehrbedarf nicht die Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes. So hat es das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht am 29. März 2021 im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden (Aktenzeichen L 6 AS 43/21 B ER).

Im konkreten Fall hatte ein 50-jähriger alleinstehender Bezieher von Arbeitslosengeld II einen monatlichen Mehrbedarf von 129 Euro geltend gemacht und am Sozialgericht Kiel einen Antrag auf Eilrechtsschutz gestellt. Er machte geltend, dass er wöchentlich etwa 20 FFP2-Masken benötige, um einkaufen zu gehen, Arztbesuche wahrzunehmen und seine sozialen Kontakte zu pflegen. Es könne ihm nicht zugemutet werden, die Masken mehrfach zu benutzen. Außerdem müsse er, um in Kiel von Gaarden in die Innenstadt zu gelangen, über belebte Plätze gehen, so dass er schon aus Eigenschutz auch draußen Masken mit dem FFP2-Standard nutzen wolle.

Das Sozialgericht Kiel und ihm folgend das Landessozialgericht in Schleswig haben entschieden, dass zwar das Recht anerkannt werden könne, in bestimmten Bereichen FFP2-Masken anstelle der günstigeren OP-Masken zu tragen. Dies gelte aber nicht für jeden Weg im Außenbereich, wo das Infektionsrisiko ohnehin geringer sei als in Innenräumen.  Außerdem könne dem Antragsteller zugemutet werden, die Hygienevorschriften zu beachten, die für eine sichere Wiederverwendung der FFP2-Masken eingehalten werden müssten. Die zusätzlichen Leistungen, die für Bezieher von Arbeitslosengeld II eingeführt wurden, reichten voraussichtlich aus, um den Mehrbedarf vorübergehend zu decken. Daher sei aktuell ein Eilbedürfnis nicht gegeben.

Der Beschluss ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 31.03.2021

Der – übersichtliche – Beschluss im Volltext findet sich hier: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29.03.2021, L 6 AS 43/21 B ER


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht: Anspruch auf Laptop oder Tablet im Home-Schooling für jedes einzelne Kind der Bedarfsgemeinschaft

Während einer coronabedingten Schulschließung haben Schüler*innen, die Arbeitslosengeld II beziehen, einen Anspruch auf die Anschaffungskosten für ein internetfähiges Endgerät.

Der Anspruch besteht grundsätzlich für jedes in einem Haushalt lebende Kind, sofern es auf die Benutzung eines Computers für die Teilnahme am Schulunterricht angewiesen ist. Die Bewilligung eines Darlehens durch das Jobcenter, das dann in monatlichen Raten zurückzuzahlen wäre, ist nicht ausreichend. Allerdings ist der Bedarf gedeckt, wenn die Schule für die Zeit des Distanzlernens ein Leihgerät zur Verfügung stellt. So hat es das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht am 18. März 2021 im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden (Aktenzeichen L 3 AS 28/21 B ER).

Antragstellerinnen waren drei Mädchen, die gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden Mutter Leistungen vom Jobcenter beziehen. Zwei der Kinder, es sind Zwillinge, gehen in den 4. Jahrgang der Grundschule, allerdings in unterschiedliche Klassen. Die ältere Schwester ist 16 Jahre alt und besucht die Abschlussklasse einer Gemeinschaftsschule. Die Grundschule hatte den beiden Viertklässlerinnen angeboten, ihnen gemeinsam ein IPad zu leihen. Die Mutter der Kinder fand das nicht ausreichend. Sie war außerdem der Auffassung, dass die Kinder die Geräte auch weiterhin benötigen würden, wenn die Schule wieder im Präsenzunterricht stattfinde.

Der 3. Senat des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts hat zwar grundsätzlich ein Leihgerät der Schule für die Zeit während des Lockdowns für ausreichend angesehen, da nur für das Distanzlernen ein Endgerät zwingend erforderlich sei. Für das Home-Schooling müsse aber jedes Schulkind der Bedarfsgemeinschaft ein eigenes Gerät nutzen können, so dass hier grundsätzlich ein Anspruch auf mindestens ein weiteres Gerät bestanden hätte. Im konkreten Fall war aber zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht schon das Eilbedürfnis weggefallen, da alle Antragstellerinnen die Schule schon wieder im Präsenzunterricht besuchen konnten. Der Anspruch könnte aber erneut entstehen, falls es nach den Osterferien zu einem weiteren Lockdown kommen sollte.

Der Beschluss ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26.03.2021

Der Volltext findet sich hier: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 18.03.2021, L 3 AS 28/21 B ER


Kein Anspruch auf Mehrbedarf für den Erwerb von FFP2-Masken im sozialgerichtlichen Eilverfahren

Sozialgericht Kiel

Mit Beschluss vom 16.03.2021 hat die 35. Kammer am SG Kiel zum Aktenzeichen S 35 AS 35/21 ER einen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung auf Verpflichtung des Jobcenters Kiel zur vorläufigen Erbringung eines Mehrbedarfs für den Erwerb von FFP2-Masken abgelehnt, weil es derzeit keinen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) für den Erlass einer Regelungsanordnung sieht.

In Abweichung zu der bislang zu diesem Thema veröffentlichten Rechtsprechung verneint die 35. Kammer am SG Kiel nicht den Anordnungsanspruch mit der Begründung, es bestünde bereits keine „Rechtspflicht“ zum Tragen von FFP2-Masken (oder vergleichbar schützender Masken), sondern erkennt einen grundsätzlichen Mehrbedarf für den Erwerb von FFP2-Masken für einen möglichst weitreichenden Schutz aller Menschen sowie einen möglichst weitreichenden Eigenschutz an und folgt damit im Ergebnis der hiesigen Rechtsauffassung (hinterlegt im ersten Kommentar im Kommentarbereich).

Die 35. Kammer am SG Kiel verneint indessen (derzeit) das Vorliegen eines Anordnungsgrundes (Eilbedürftigkeit), weil es aus den im Beschluss näher dargelegten Gründen grundsätzlich nur einen (Mehr-) Bedarf für lediglich 8 Masken im Monat (im vorliegenden Fall 16 Masken im Monat) sieht, welcher mit 12 € im Monat (für 16 Masken) zu decken sei. Für diesen potentiellen Mehrbedarf bis zur erwartbaren Auskehrung der zusätzlichen Mittel in Höhe von 150,00 € aus dem sog. Sozialschutz-Paket III gemäß § 70 SGB II im Mai 2021 – also für lediglich gut zwei Monate – sieht das Gericht keinen Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung. Anders sei diese Rechtsfrage allerdings zu beantworten, wenn die Leistungen aus dem sog. Sozialschutz-Paket III im Mai 2021 nicht ausgezahlt würden und der Mehrbedarf von 12 € im Monat deswegen über einen längeren Zeitraum hinweg fortbestehe.

Nachtrag 20.03.2021: In der Sache ähnlich hat am 18.03.2021 jetzt auch die 31. Kammer am SG Kiel zum Aktenzeichen S 31 AS 21/21 ER entschieden, wobei die 31. Kammer einen Anordnungsanspruch – also einen vermutlichen Anspruch des Antragstellers auf Mehrleistungen zur Selbstausstattung mit FFP2-Masken – aufgrund der Vorerkrankung des Antragstellers angenommen hat.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfeabrechnung: Berechtigungsschein muss nicht im Original eingereicht werden

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Mit Beschluss vom 16.02.2021 hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zum Aktenzeichen 9 W 19/21 u.a. entschieden:

„Soweit die weitere Beschwerde darauf abstellt, dass die bloße Einreichung des gescannten Be­rechtigungsschein nicht ausreiche, wenn nicht zumindest eine Entwertung des auf elektroni­schem Weg übermittelten Berechtigungsscheines als Nachweis vorgelegt wird, damit die Mög­lichkeit ausgeschlossen werde, dass nach erfolgter Beratung der Berechtigungsschein einer wei­teren vergütungsberechtigten Person vorgelegt werden kann, greift dieser Einwand aus zwei Gründen nicht durch:

Zunächst wird entsprechend den Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss unter Bezug­nahme auf die Entscheidung des OLG Saarbrücken darauf verwiesen, dass die Gefahr einer dop­pelten Auszahlung der Vergütung kaum bestehen dürfte. Denn nach Teil B Ziff. 1 der Verwal­tungsvorschrift über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung vom 19. Juli 2005 (in der Fassung vom 18. April 2017) ist die Festsetzung der Vergütung der Bera­tungsperson – vorliegend also des Rechtsanwalts – zu der bei dem Gericht befindlichen Durch­schrift des Berechtigungsscheins zu nehmen. Für die Kostenbeamten wäre damit gegebenen­falls erkennbar, ob aufgrund des Berechtigungsscheins bereits eine Vergütung für die Beratungsperson festgesetzt und angewiesen wurde (vgl. entsprechend Saarländisches Oberlandesge­richt Saarbrücken, Beschluss vom 16. Dezember 2019-9W 30/19—, Rn. 20, juris).

Zum anderen ist für die Festsetzung der durch die Beratungsperson beanspruchten Vergütung gemäß § 55 Abs. 5 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 104 Abs. 2 ZPO erforderlich – aber auch aus­reichend -, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für das Entstehen des Kostenansatzes aus den in Nr. 2500 ff; VV-RVG geregelten Gebührentatbeständen glaubhaft gemacht Werden. Denn eine Glaubhaftmachung reicht nach § 104 Abs. 2 ZPO für die Festsetzung der Kosten aus (BGH, Beschluss vom 13. April 2007-11 ZB 10/06—, Rn. 8, juris). Dabei setzen die aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren nach RVG VV-Nr. 2501 bis 2508 unter anderem die Erteilung eines Beratungshilfescheins voraus (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Februar 2010­11-10 WF 3/10—, Rn. 2, juris). Indem der die Beratung durchführende Rechtsanwalt mit Vergü­tungsantrag vom 19. Februar 2020 über das besondere elektronische Anwaltsfach bei dem Amts­gericht Schleswig seinen Vergütungsanspruch gegenüber der Landeskasse geltend machte un­ter elektronischer Übersendung des Beratungshilfescheins, machte er auch dessen Erteilung glaubhaft durch anwaltliche Versicherung (vgl. hierzu: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 294 ZPO, Rn. 5; § 104 ZPO, Rn. 8).

Allein die Glaubhaftmachung zur Berechtigung der beantragten Vergütung ist Voraussetzung für die Vergütungsfestsetzung. Die Normen über die Festsetzung der Vergütung der Beratungsper­son bezwecken nicht den Ausschluss denkbarer Missbrauchsmöglichkeiten an dem erteilten Be­rechtigungsschein.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II als Darlehen bei Rechtsstreit um BAföG

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Der Ausschluss von Studenten von ALG II stellt bis zum Abschluss eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Verwaltungsgericht um Leistungen nach dem BAföG eine „besondere Härte“ im Sinne von  § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II dar mit der Folge, dass Auszubildende in diesem Zeitraum ALG II (Hartz IV) als Darlehen erhalten können.

In der Rechtsprechung ist höchstrichterlich anerkannt, dass Auszubildende einen Anspruch auf darlehensweises ALG II aus Härtefallgesichtspunkten haben, wenn der Abschluss ihrer Ausbildung kurz vor dem Abschluss steht (Abschluss in circa 6 Monaten), der Hilfebedarf in der Abschlussphase der Ausbildung entsteht und bei Ausbildungsabbruch künftige Erwerbslosigkeit droht.

Das LSG Berlin-Brandenburg hat nun entschieden, dass der Ausschluss Auszubildender von ALG II auch dann ein Härtefall darstellt, wenn während eines Streits um die Versagung von BAföG-Leistungen vor dem Verwaltungsgericht deren Existenzminimum weder vom BAföG-Amt noch vom Jobcenter sichergestellt würde. Denn um im Streit um BAföG überhaupt erfolgreich sein zu können, muss der Auszubildende dort geltend machen, er studiere in Vollzeit. Würde er – um seinen Lebensunterhalt zu sichern – eine vollschichtige ungelernte Tätigkeit aufnehmen, würde die Klage auf BAföG schon deshalb keinen Erfolg haben. Dieses Ergebnis wäre mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar. ALG II ist in dieser Zeit deswegen darlehensweise zu gewähren.

LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.06.2020, L 31 AS 585/20

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Einkommensfreibeträge 2021 für die Beratungs- und Prozesskostenhilfe … sinken!

Von Senior-Prof. Dr. Dieter Zimmermann, EH Darmstadt
(Mit Dank an den Infodienst Schuldnerberatung sowie Herrn Senior-Prof. Dr. Dieter Zimmermann für die Erlaubnis zur Nutzung des Beitrages auf diesem Blog – Link zur Originalquelle beim Infodienst Schuldnerberatung)

Mit Wirkung vom 01.01.2021 wurde § 115 Abs. 1 ZPO geändert, der den Einsatz von Einkommen und Vermögen für die Prozesskostenhilfe und die Verfahrenskostenhilfe im familiengerichtlichen Bereich sowie für die Beratungshilfe regelt. Auf Vorschlag des Bundestags-Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz wurde dem Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 kurz vor der entscheidenden Lesung im Bundestag noch ein Artikel 10 angefügt, im Plenum verabschiedet und am 29.12.2020 im BGBl. 2020 auf Seite 3254 veröffentlicht. Ohne größere rechtspolitische Diskussion ist in Zukunft nicht mehr der „höchste“ bundesweit gültige SGB-Regelsatz (aktuell Landkreis München) die verbindliche Bezugsgröße für die bundesweit einheitlichen Freibeträge, sondern die Basis bildet nun der „Regelsatz Bund“. § 115 Abs. 1 Satz 5 ZPO n.F. normiert allerdings, dass „soweit am Wohnsitz der Partei aufgrund einer Neufestsetzung oder Fortschreibung nach § 29 Absatz 2 bis 4 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch höhere Regelsätze gelten, … diese heranzuziehen“ sind.

Infolgedessen enthält die Prozesskostenhilfebekanntmachung 2021 erstmals vier Betragsspalten: eine Spalte mit den Freibeträgen „Bund“, die – fast – bundesweit gelten, sowie drei weitere Spalten, die exklusiv für die Landkreise Fürstenfeldbruck/Starnberg, den Landkreis München und die Stadt München höhere Freibeträge festschreiben.

Die neue Bezugsgröße „Bund“ führt für 2021 zu einer spürbaren Absenkung der Einkommensgrenze im Vergleich zu den 2020 bundesweit gültig gewesenen Freibeträgen!

Zum Vergleich sind in nachstehender Tabelle zusätzlich die höchsten Freibeträge 2021 für den Landkreis München vermerkt.

Die PKH-Bekanntmachung 2021 ist im BGBl. 2020, S. 3344 veröffentlicht und bringt folgende Veränderungen:

Einkommensfreibetrag für Rechtsuchende
(110% der Regelbedarfsstufe 1 – vgl. Rechenschritt 2.5.1)
2020: 501€ 2021 „Bund“: 491€  Landkreis München: 517€

Freibetrag, falls Rechtsuchender erwerbstätig ist
(50% der Regelbedarfsstufe 1 – vgl. Rechenschritt 2.5.2)
2020: 228€ 2021 „Bund“: 223€ Landkreis München: 235€

Unterhaltsfreibetrag für Ehegatte/Ehegattin
oder eingetragene/n Lebenspartnerin/Lebenspartner
(110% der Regelbedarfsstufe 1 – vgl. Rechenschritt 2.5.3)
2020: 501€  2021 „Bund“: 491€  Landkreis München: 517€

Unterhaltsfreibetrag für Erwachsene im Haushalt
(110% der Regelbedarfsstufe 3 – vgl. Rechenschritt 2.5.4)
2020: 400 2021 „Bund“: 393€ Landkreis München: 414€

Unterhaltsfreibetrag für Jugendliche von Beginn des 15.
bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (14 bis 17 Jahre)
(110% der Regelbedarfsstufe 4 – vgl. Rechenschritt 2.5.5)
2020: 381€ 2021 „Bund“: 410€  Landkreis München: 432€

Unterhaltsfreibetrag für Kinder von Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (6 bis 13 Jahre)
(110% der Regelbedarfsstufe 5 – vgl. Rechenschritt 2.5.6)
2020: 358€ 2021 „Bund“: 340€  Landkreis München: 359€

Unterhaltsfreibetrag für Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres (bis 5 Jahre)
(110% der Regelbedarfsstufe 6 – vgl. Rechenschritt 2.5.7)
2020: 289€ 2021 „Bund“: 311€  Landkreis München: 328€

Praxisrelevanz der neuen Einkommensgrenzen

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Prüner Schlag: Möbel Höffner zerstört Ausgleichsflächen

Mit den durch die Berichterstattung des NDR bekannt gewordenen Verstößen gegen die Umweltauflagen auf der Möbel-Höffner-Baustelle wird die Geschichte der Möbelmarktansiedlung auf dem ehemaligen Kleingartengelände Prüner Schlag mal wieder um ein weiteres unrühmliches Kapitel ergänzt.

„Ich finde das gleich auf mehreren Ebenen unfassbar! Die Zerstörung der Ausgleichsflächen allein wäre schon schlimm genug, aber dass ich davon und von dem deswegen eingeleiteten Bußgeldverfahren erst durch den NDR erfahren habe, setzt dem Ganzen noch einmal die Krone auf!“, empört sich Svenja Bierwirth, umweltpolitische Sprecherin der Ratsfraktion DIE LINKE.

Laut dem Bericht „Möbel Höffner hat offenbar gegen Naturschutzmaßnahmen verstoßen“ des NDR vom 21. Januar wurde offenbar auch auf den Ausgleichsflächen, die im Zuge der Vernichtung des ökologisch wertvollen Kleingartengeländes auf dem Prüner Schlag immer als umweltpolitisches Feigenblatt hochgehalten wurden, großflächig planiert. Überraschen kann so etwas in Anbetracht des rücksichtslosen Auftretens, dass der Krieger-Konzern im Zuge dieses Vorhabens zur Ansiedlung eines Möbelmarktes auf dem Prüner Schlag immer wieder an den Tag gelegt hat, eigentlich nicht. Schließlich wurde von Beginn an kaum eine Zusage des Konzerns eingehalten.

Aber die Verwaltung der Landeshauptstadt Kiel sollte inzwischen gerade bei diesem Thema und angesichts der Wunden, die das Ganze seit dem Beginn der Planungen 2011 bei vielen Kieler*innen hinterlassen hat, mehr Sensibilität beweisen und mit größtmöglicher Offenheit und Transparenz vorgehen. Wenn das hier Vorgefallene gravierend genug ist, um die Einleitung eines Bußgeldverfahrens wegen Verstoßes gegen das Artenschutzgesetz zu begründen, dann wohl auch erst recht, um die Öffentlichkeit und die gewählten Vertreter*innen aus eigenem Antrieb zu informieren.

„Als es darum ging, 2017 die Wagengruppe Schlagloch von eben dieser Ausgleichsfläche zu vertreiben, waren der Schutz der Fläche und mögliche Schäden eines der wichtigsten Argumente von Stadt und, damals noch, Möbel Kraft. Wenn die Aktivist*innen damals auf dem Gelände geduldet worden wären, hätten sie dort in den dreieinhalb Jahren, die seitdem vergangen sind, wohl kaum so viel Schaden anrichten können wie die Planierraupen von Möbel Höffner jetzt in wenigen Tagen. Jetzt ist der ökologische Schaden angerichtet und wird durch ein Bußgeld allein auch nicht behoben!“, ärgert sich Bierwirth abschließend.

Pressemitteilung der Kieler Ratsfraktion DIE LINKE vom 21.01.2021


Persönlicher Schulbedarf auch bei Besuch einer Volkshochschule

Sozialgericht Kiel

Auch Schüler im Leistungsbezug nach dem SGB II (oder Bezug von Wohngeld, Kinderzuschlag oder Asylbewerberleistungen), die an einer Volkshochschule einen Vorbereitungskurs zur Erlangung der mittleren Reife besuchen, haben einen Anspruch auf Geldleistungen für den persönlichen Schulbedarf gemäß § 28 Abs. 3 SGB II in Höhe von derzeit 150 € pro Schuljahr.

Der im Leistungsbezug beim Jobcenter Kiel stehende Kläger besuchte an der Volkshochschule Kiel (VHS) einen Kurs zur Vorbereitung auf den Erwerb des Realschulabschlusses. Seinen Antrag auf Gewährung des persönlichen Schulbedarfs lehnte das Jobcenter Kiel mit der Begründung ab, dass es sich bei der VHS um keine „allgemeinbildende Schule“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II handele. Denn das Schleswig-Holsteinische Schulgesetz zähle hierzu nur Grundschulen, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel. Denn wann eine Schule „allgemeinbildend“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsprechung des BSG nicht nach landesrechtlichen, sondern nach bundesrechtlichen Regelungen. Danach ist der Begriff der „allgemeinbildenden Schule“ weit auszulegen: Allgemeinbildend ist danach jede Schule, an der ein allgemeiner Schulabschluss – wie hier der Realschulabschluss – angestrebt wird. Deswegen waren dem Kläger, der einen Vorbereitungskurs an der VHS zwecks Erwerbs seines Realschulabschlusses besuchte, Leistungen für seinen persönlichen Schuldbedarf zu bewilligen.

Sozialgericht Kiel, Gerichtsbescheid vom 30.09.2020, S 42 AS 773/17

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Wahlpflicht“ zwischen Grundsicherung und Wohngeld oder: Befreiung vom Rundfunkbeitrag nach § 4 Abs. 6 S. 2 RBStV!

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Mein Berliner Kollege Herr Rechtsanwalt Kai Füsslein weist unter der Überschrift „„Wahlpflicht“ zwischen Grundsicherung und Wohngeld oder: Müssen Armutsrentner noch ärmer werden?“ auf ein interessantes Problem hin: Werden Grundsicherungsbezieher nach dem SGB XII (vor allem Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) auf das nach Meinung vieler SGB XII-Grundsicherungsträger vorrangige Wohngeld verwiesen, weil dieses geringfügig höher als Leistungen der Grundsicherung ist, kann es passieren, dass sich die Betroffenen unter dem Strich mit Wohngeld dennoch schlechter stehen als mit Grundsicherungsleistungen, und zwar dann, wenn das Wohngeld weniger als 17,50 € mehr ist, als es die Grundsicherungsleistungen wären. Der Grund: Wohngeldbezieher können sich – anders als Bezieher von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII – nicht gemäß § 4 Abs. 1 RBStV vom Rundfunkbeitrag befreien lassen – der aktuell bei 17,50 € liegt.

Eine Lösung dieses offensichtlichen Gerechtigkeitsproblems – der Wohngeldbezieher hat durch die Pflicht zur Zahlung des Rundfunkbeitrages weniger als der Grundsicherungsbezieher, oder, mit anderen Worten: Das Existenzminimum des Wohngeldbeziehers ist nicht mehr sichergestellt – verfolgt mein Berliner Kollege, indem er vor Gericht um Grundsicherungsleistungen für seine Mandanten streitet und – zutreffend – darauf hinweist, dass Wohngeld im Regelungsbereich des SGB XII keine vorrangig zu beantragende Sozialleistung ist.

Es gibt für dieses Problem allerdings auch noch eine andere Lösung. Diese findet sich im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV), genauer: In § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 RBStV:

„Unbeschadet der Beitragsbefreiung nach Absatz 1 hat die Landesrundfunkanstalt in besonderen Härtefällen auf gesonderten Antrag von der Beitragspflicht zu befreien. Ein Härtefall liegt insbesondere vor, wenn eine Sozialleistung nach Absatz 1 Nr. 1 bis 10 in einem durch die zuständige Behörde erlassenen Bescheid mit der Begründung versagt wurde, dass die Einkünfte die jeweilige Bedarfsgrenze um weniger als die Höhe des Rundfunkbeitrags überschreiten. In den Fällen von Satz 1 gilt Absatz 4 entsprechend.“

Der Haken liegt hier allerdings in Folgendem: Obwohl § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 RBStV nur ein Beispiel für einen Härtefall benennt („insbesondere“) – übrigens eines, das aufgrund von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den RBStV Eingang gefunden hat (Beschluss vom 30.11.2011, 1 BvR 665/10 und 1 BvR 3269/08) – behandeln die Landesrundfunkanstalten die Härtefallklausel so, als käme eine Befreiung ausschließlich und nur in diesem (Beispiels-) Fall in Betracht und legen diesen zudem maximal streng aus: Sie verlangen die Vorlage eines „durch die zuständige Behörde erlassenen Bescheid“, der Grundsicherungsleistungen „mit der Begründung versagt“, (…) „dass die Einkünfte die jeweilige Bedarfsgrenze um weniger als die Höhe des Rundfunkbeitrags überschreiten“. Dieser Nachweis lässt sich indessen nicht mit dem Wohngeldbescheid führen, sondern nur mit dem (ablehnenden) Grundsicherungsbescheid. Und genau hier liegt das Problem: Die Grundsicherungsämter werden diese fiktive SGB XII-Bedarfsberechnung nur höchst ungern vornehmen (weil die viel Arbeit macht) oder (bei Beziehern von Wohngeld) unter Hinweis auf den Wohngeldbezug schlicht ablehnen.

Allerdings dürfte der Weg über eine Gebührenbefreiung nach der Härtefallregelung in § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 RBStV immer noch der einfachere Weg sein. Es ist zudem auch der finanziell günstigere für Leistungsbezieher, denn bei Wohngeld mit Rundfunkgebührenbefreiung bleibt unter dem Strich mehr als bei den (geringeren) Grundsicherungsleistungen mit Gebührenbefreiung.

Begründung des NDR vom 11.12.2020, mit der ein Rentnerehepaar im Wohngeldbezug (15,- € Wohngeld) heute von der Rundfunkbeitragspflicht befreit wurde:

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Anspruch auf Umschulung trotz Ermessen der Behörde

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Im Einzelfall können Versicherte einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – hier in Form einer Umschulung zur Heilpraktikerin – haben, auch wenn die Leistungsgewährung im Ermessen der Behörde steht. Voraussetzung hierfür ist, dass aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls die begehrte Umschulung die einzige richtige Entscheidung ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null).

Geklagt hatte eine Versicherte, die aus gesundheitlichen Gründen in ihrem erlernten Tischlerberuf nicht mehr arbeiten konnte und deswegen bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) eine Umschulung zur Heilpraktikerin beantragt hatte. Die DRV lehnte die Kostenübernahme für die begehrte Umschulung ab, weil sie keine positive Rehabilitationsprognose abgeben wollte: Die Versicherte könne aus gesundheitlichen Gründen auch nicht als Heilpraktikerin arbeiten, da ihre Arme und Hände nicht hinreichend belastbar seien und sie aufgrund der psychischen Überlastung im bisherigen Tischlerberuf auch für den Beruf der Heilpraktikerin nicht geeignet sei. Beide Annahmen konnten von den gerichtlichen Sachverständigen nicht objektiviert werden. Da die DRV ihrer Versicherten zudem keinerlei Alternativen für eine andere Umschulung aufgezeigt hatte, wurde sie antragsgemäß verurteilt, diese auf ihre Kosten zur Heilpraktikerin umzuschulen.

Sozialgericht Schleswig, Gerichtsbescheid vom 23.09.2019, S 21 R 221/17

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen: Stadt Neumünster ohne „schlüssiges Konzept“

In Sachen Kosten der Unterkunft und Heizung für die Stadt Neumünster weist mein Kollege Herr Rechtsanwalt Bernd Petersen, Neumünster, darauf hin, dass das Sozialgericht Kiel im Rahmen eines Erörterungstermins am 20.10.2020 zum Aktenzeichen S 42 AS 203/16 davon ausgegangen ist, dass die Stadt Neumünster – und damit auch das Jobcenter Neumünster – ab dem 01.01.2017 über kein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen  im Sinne der Rechtsprechung des BSG verfügt.

Wörtlich heißt es im Verhandlungsprotokoll:

„Nach Verwerfung der Satzung aus 2015 durch das LSG Schleswig-Holstein hat der Beklagte in seiner Richtlinie die vom LSG erachtete, rechtswidrige Größe der Quadratmeterzahlen entsprechend neu umgesetzt und ebenfalls auch die ab dem 01. Januar 2015 anstehende Anpassung der Mietpreise. Ab dem 01. Januar 2017 sieht die Kammer jedoch nicht, dass der Beklagte über ein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG verfügt. Schon nach den eigenen Richtlinien bzw. den eigentlichen Vorgaben hätte ab dem 01. Januar 2017 eine Mietpreisanpassung stattfinden müssen. Es wäre hier ohnehin fraglich,  ob der Beklagte nicht eine Neuerhebung  ab dem 01. Januar 2017 hätte durchführen müssen. Das BSG weist in seinem Urteil vom 12. Dezember 2017, Az. B 4 AS 33/16 R, darauf hin, dass ein schlüssiges Konzept für angemessene Kosten der Unterkunft eine regelmäßige Überprüfung nach Ablauf einer Zwei-Jahres-Frist vorsieht und dass dieses fortzuschreiben ist. Das BSG nimmt hierbei auch Bezug auf die Regelung des §558 d Abs. 2 BGB, der nämlich für qualifizierte Mietspiegel eine Neuerstellung nach vier Jahren vorsieht. Die Kammer kann keinen Grund erkennen, warum diese Neuerstellung nicht dann auch für Jobcenter gelten sollte, die ihre Mietobergrenzen im Rahmen von Richtlinien oder Satzungen ohne Kopplung an einen qualifizierten Mietspiegel festlegen, so dass nach Auffassung der Kammer hier nur eine einzige Fortschreibungsmöglichkeit nach zwei Jahren besteht. Für diese Sichtweise spricht auch die Forderung des BSG, dass durch das schlüssige Konzept immer die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarktes zeit- und realitätsgerecht erfasst werden sollten. Entsprechend sieht es auch das Hessische LSG, Beschluss vom 11.03.2020, Az. L 6 AS 605/19 B ER, wonach eine Fortschreibungsmöglichkeit nur einmalig besteht.“

In der Sache selbst und in Folgesachen wurde ein Vergleich geschlossen.

Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sozialgerichts Kiel sind nach ständiger Rechtsprechung des BSG damit in Neumünster für die Bestimmung der Angemessenheit der Unterkunftskosten ab dem 01.01.2017 bis auf weiteres die Tabellenwerte der Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitsaufschlages von 10 % maßgeblich.


Geld auf dem Konto gehört nicht immer dem Kontoinhaber

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Immer wieder „entdecken“ Jobcenter durch Datenabgleich Geld auf Konten von Leistungsberechtigten, welches dem ersten Anschein nach ihren „Kunden“ gehört. Liegt solches Vermögen über den zulässigen Freibetragsgrenzen, kann dies zur Ablehnung des Leistungsanspruches führen. Nicht selten wird den Betroffenen auch „Sozialleistungsbetrug“ oder „ordnungswidriges Verhalten“ vorgeworfen. Doch nicht immer gehört das Geld auf einem Konto auch dem Kontoinhaber. Entscheidend ist, wem das Kontoguthaben zivilrechtlich zuzuordnen ist.

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte einen Fall zu entscheiden, in dem ein Leistungsberechtigter vor vielen Jahren einmal ein Tagesgeldkonto nur deswegen eröffnet hatte, weil ihm für die Einrichtung als Werbegeschenk Aktien eines Internetunternehmens im Wert von 100 DM gutgeschrieben wurden. Anschließend hatte er das Konto seinem Vater zur Benutzung überlassen. Nach der Rechtsprechung des BSG genügt der bloße äußere Anschein, nach der der Leistungsberechtigte als Kontoinhaber Gläubiger des Kontoguthabens gegenüber der Bank ist, nicht, um diesem das Kontoguthaben auch als sein Vermögen zuzuordnen. Vielmehr sei der Leistungsberechtigte in diesem Fall in Bezug auf das Kontoguthaben wie ein „Treuhänder“ zu bewerten gewesen: Zwar hatte er gegenüber der Bank grundsätzlich die Rechtsmacht, sich das Guthaben auszahlen zu lassen. In der Ausübung dieses Rechts sei er jedoch im „Innenverhältnis“ gegenüber seinem Vater (Treuegeber) als dem wirtschaftlichen Eigentümer schuldrechtlich beschränkt gewesen. Das Kontoguthaben war daher nicht dem Vermögen des Leistungsberechtigten zuzuordnen.

(BSG, Urteil vom 24.11.2010, B 11 AL 35/09 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2011

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Anspruch auf Zinsen bei Nachzahlung von Sozialhilfe

(c) Marko Greitschus / pixelio.de

Behörden müssen Nachzahlungen von Sozialleistungen grundsätzlich gemäß § 44 SGB I verzinsen. Der Verzinsungsanspruch entsteht nach sechs Kalendermonaten ab Abgabe des vollständigen Antrags auf Sozialleistungen.

Im Streitfall hatte die Klägerin von August 2015 bis Juli 2016 Grundsicherung im Alter erhalten. Sie hielt jedoch die vom Sozialhilfeträger gezahlten Unterkunftskosten für zu niedrig und bat deswegen um Überprüfung des bestandskräftig gewordenen Leistungsbescheides. Als die Behörde den Antrag auf Überprüfung ablehnte, zog die Frau vor Gericht.

Das Sozialgericht sprach ihr im Juli 2018 schließlich eine Nachzahlung in Höhe von 1.380 Euro zu, lehnte aber einen Zinsanspruch mit der Begründung ab, der Nachzahlungsbetrag sei erst durch den die Nachzahlung letztendlich gewährenden „Zugunstenbescheid“ entstanden.

Dem widersprach das BSG. Die Klägerin könne für die erhaltene Nachzahlung Zinsen verlangen. Dem stehe auch die Bestandskraft des ursprünglich höhere Leistungen ablehnenden Bescheids nicht entgegen. Denn werde eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, könne der Anspruch zwar nicht durchgesetzt werden, solange die Bestandskraft des Bescheids fortwirke, er sei aber gleichwohl entstanden.

Bundessozialgericht, Urteil vom 03.07.2020, B 8 SO 15/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


SG Kiel: 150 € netto für eine durchschnittliche Untätigkeitsklage

SG Kiel, Kostenbeschluss vom 09.10.2020, S 31 AS 201/20

Nach der Gebührenreform zum 01.01.2021 180,00 € (50 % der Mittelgebühr von 360,00 €) für ab dem 01.01.2021 erhobene Untätigkeitsklagen.


Kostenlose Rechtsberatung durch (anwaltlichen) Berufsbetreuer?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Immer wieder berichten mir Betreuer, dass sie Probleme haben, für ihre Betreuten Beratungshilfe zu erhalten. So wurde etwa in jüngster Zeit ein (nicht anwaltlicher) Betreuer, der für die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens beim Amtsgericht Kiel um Beratungshilfe für seinen Betreuten nachgesucht hatte, aufgefordert darzulegen, inwieweit dieser sich als Betreuer „- vor Beauftragung eines Anwaltes – eigenständig um Klärung der Angelegenheit bemüht“ habe. Diese Erfahrungen waren für mich der Anlass, zum Stichwort „Beratungshilfe“ für die 31. Auflage 2020/2021 des „Leitfaden ALG II / Sozialhilfe“ unter 3.2.6. nachfolge Hinweise aufzunehmen:

„In der Praxis der Amtsgerichte kommt es immer wieder vor, dass betreuten Rechtsuchenden Beratungshilfe mit der Begründung verwehrt wird, ihr (anwaltlicher oder auch nicht anwaltlicher) Berufsbetreuer könne sie rechtlich beraten oder vertreten – etwa indem er Widerspruch bei einer Behörde für sie einlegt. Diese Praxis ist evident rechtswidrig. Der nicht anwaltliche Berufsbetreuer darf bereits keine Rechtsdienstleistungen erbringen. Aber auch der anwaltliche Berufsbetreuer ist nicht zu einer kostenlosen rechtlichen Beratung seines Betreuten verpflichtet. Er kann diese gemäß § 1835 Abs. 3 BGB nach anwaltlichem Gebührenrecht abrechnen (BGH, Beschluss vom 14.05.2014, XII ZB 683/11). Deswegen stellte die Beratung durch den anwaltlichen Berufsbetreuer keine „andere zumutbare Hilfsmöglichkeit“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG dar. Ein Rechtsanwalt als Berufsbetreuer muss nach den Grundsätzen der kostensparenden Amtsführung für den Betreuten deswegen sogar Beratungshilfe in Anspruch nehmen (AG Tempelhof-Kreuzberg, Beschluss vom 07.11.2013, 70a II 3276/13) und kann mit der Beratung oder Vertretung seines Betreuten auch einen fachkundigen Kollegen beauftragen.“

Es wäre im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege wünschenswert, wenn diese Grundsätze an den Amtsgerichten zukünftig stärker als bisher Beachtung finden würden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Beratungshilfe für die Einlegung eines Widerspruches nach Ablauf der Monatsfrist?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 30.06.2020 hat das AG Kiel in der Beratungshilfeangelegenheit 7 II 1974/19 entschieden, dass ein Rechtsuchender mit geringem Einkommen, der gegen den Bescheid einer Behörde innerhalb der Monatsfrist keinen Rechtsbehelf einlegt, wohl aber innerhalb der Jahresfrist gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG wegen nicht ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung (zu dieser Problematik siehe Rechtsmittelbelehrung muss auf elektronische Form hinweisen), auch für ein Widerspruchsverfahren keinen Anspruch auf Beratungshilfe hat. Zum Tatbestand und zur Begründung hat das AG Kiel ausgeführt:

I.) Die Antragstellerseite begehrt nachträglich Beratungshilfe. Als Angelegenheit ist im Antragsformular (Buchstabe A) benannt: „_________ _________________ – Widerspruch gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid 02.05.18 (01-02/18)“. Die Bevollmächtigte lege gegen den Bescheid unter der Annahme, die Widerspruchsfrist sei aufgrund einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung gewahrt, Widerspruch ein.

Das Amtsgericht hat durch den angefochtenen Beschluss die Bewilligung von Beratungshilfe ablehnt, da die Inanspruchnahme von Beratungshilfe aufgrund des mit dem Zeitablaufs verbundenen Kostenrisikos mutwillig sei.

Hiergegen richtet sich die Erinnerung. Wegen der Begründung wird Bezug genommen auf den Schriftsatz vom 19.08.2019.

II.) Die Erinnerung hat keinen Erfolg.

1.) Die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Beratungshilfe liegen für die Antragstellerseite nicht vor.

Auf Antrag ist Beratungshilfe zu bewilligen, wenn die Voraussetzungen des § 1 und § 2 BerHG vorliegen. Zudem muss das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis vorliegen (vgl. Büttner/Wrobel-Sachs/Gottschalk/Dürbeck, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 6. Aufl., Rn. 960).

Diese Voraussetzungen liegen bei dem Antrag der Antragstellerseite nicht vollständig vor. Der Antragstellerseite steht nämlich kein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Denn ihr oblag es – als Voraussetzung für eine Bewilligung von Beratungshilfe –, zunächst Eigenmaßnahmen im Rahmen von Beratungshilfe zu ergreifen.

Für das BVerfG ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn dem unbemittelten Rechtsuchenden die Bewilligung von Beratungshilfe wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten versagt wird (vgl. z.B. BVerfG NZS 2011, 462). Denn auch ein bemittelter Rechtsuchender würde bei ausreichend bestehenden Selbsthilfemöglichkeiten die Einschaltung eines Rechtsanwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen (vgl. BVerfG NJW 2009, 2417; BVerfG NZS 2011, 462). Der unbemittelte Rechtsuchende ist nämlich nur einem solchen bemittelten Rechtsuchenden gleichzustellen, bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (BVerfGE NJW 2009, 209; BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Rechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist (BVerfG NZS 2011, 462).

Einfachrechtlich ist die Einordnung Selbsthilfe als Voraussetzung für die Bewilligung von Beratungshilfe zwar streitig. Das Gericht teilt indes die Ansicht, dass die Selbsthilfe im Rahmen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses einzuordnen ist.

Ob ausreichende Selbsthilfemöglichkeiten bestehen, hängt insbesondere davon ab, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und der Rechtsuchende über besondere Rechtskenntnisse verfügt (vgl. BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Ein pauschaler Verweis auf die Beratungspflicht der Behörde stellt indes keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit dar, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind (BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Abgestellt werden kann aber – ungeachtet der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage – darauf, dass der unbemittelte Rechtsuchende im konkreten Fall in der Lage ist, einen Widerspruch persönlich, das heißt ohne anwaltliche Hilfe einzulegen (BVerfG NZS 2011, 462). Das Bundesverfassungsgericht hat zu der Frage, im welchem Maße Eigenbemühungen im Rahmen des § 44 SGB X zumutbar sind, in seiner Entscheidung vom 19.08.2010 (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. August 2010 – 1 BvR 465/10 –, Rn. 15, juris) Folgendes ausgeführt:

„Die Rechtswahrnehmungsgleichheit fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3417). Dabei ist der Unbemittelte einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt. Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

(10) Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl. 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/ Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist aber jedenfalls kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter deshalb die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde.

(11) Bei der Bewertung dieser Frage, hat das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist insbesondere, wenn ein Rechtsuchender für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3419).

(12) Die Entscheidung des Amtsgerichts überschreitet dagegen die von der Rechtswahrnehmungsgleichheit gesetzten Grenzen nicht, wenn es hier vom Beschwerdeführer zunächst eigene Schritte zur Einleitung eines Überprüfungsverfahrens erwartet.

(13) Ein vernünftiger bemittelter Rechtsuchender müsste die Kosten der Rechtsverfolgung für ein Überprüfungsverfahren (§ 44 SGB X) selbst tragen, weil es ein neues Verwaltungsverfahren darstellt, das auf seinen Antrag ergeht und würde damit seine vorhandenen Mittel auf jeden Fall schmälern. Aufwendungen für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts können im Erfolgsfall erst für ein Widerspruchsverfahren (§ 63 Abs. 2 SGB X), nicht aber für den Überprüfungsantrag erstattet werden (vgl. BSGE 55, 92). Insoweit kommt es auf die Bedeutung der Angelegenheit für den Rechtsuchenden an, die für die Vergangenheit nicht allein mit dem Hinweis auf die existenzsichernde Bedeutung der Leistungen begründet werden kann.

(14) Grundsätzlich ist es einem kostenbewussten Rechtsuchenden auch zumutbar, die Tatsachenklärung innerhalb der Widerspruchsfrist (§ 84 Sozialgerichtsgesetz) in Angriff zu nehmen. Unterbleibt dies ohne ersichtlichen Grund, so lässt sich die Notwendigkeit fremder Hilfe jedenfalls nicht mit den Schwierigkeiten begründen, die sich bei der Aufklärung länger zurückliegender Zeiträume wegen des Aktenumfangs und der Änderungen im Laufe der Zeit nahezu zwangsläufig ergeben. Eine verzögerte Überprüfung ohne konkrete Anhaltspunkte nimmt nur derjenige vor, für den Kosten keine Rolle spielen.

(15) Erfährt der Rechtsuchende nachträglich konkrete Anhaltspunkte, die aus seiner Sicht für die vergangene Leistungsgewährung von Bedeutung sein könnten, so ist es ihm grundsätzlich zumutbar, die Behörde zunächst selbst darauf aufmerksam zu machen. Dies gilt für Umstände zu seinen Lasten nicht anders als zu seinen Gunsten. Dem Rechtsuchenden bleibt es dabei unbenommen, nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens ein Widerspruchsverfahren durchzuführen.“

Nach diesen Grundsätzen bestand für die Antragstellerseite die Möglichkeit, selbst bei der Behörde um eine Überprüfung des Bescheides nachzusuchen. Dies gilt in Fällen wie diesen unabhängig davon, ob für den Widerspruch die Monatsfrist oder aufgrund einer fehlerhaften Belehrung eine Frist von einem Jahr gilt. Denn ein kostenbewusster Rechtsuchender hätte sich aufgrund des Kostenrisikos innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist um die Überprüfung des Bescheides bemüht. Da dies ohne erkennbaren Grund unterblieben ist, hat sich die Antragstellerseite nach Ablauf der benannten Frist zunächst selbst um die Überprüfung des Bescheides zu bemühen. Hierzu war sie auch in der Lage. Rechtliche oder tatsächliche Probleme sind insoweit weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Daher hätte auch eine Partei, die selbst für die Kosten anwaltlicher Hilfe aufkommen muss, zunächst davon abgesehen, anwaltliche Hilfe zu suchen. Sonstige konkrete Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit von Eigenbemühungen sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

2.)

Eine Kostengrundentscheidung ist nicht angezeigt. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Diese Entscheidung ist gemäß § 7 BerHG („… nur Erinnerung …“) nicht anfechtbar (so auch: OLG Schleswig v. 05.01.2011 – 2 W 271/10; OLG Schleswig v. 18.01.2011 – 2 W 8/11; LG Kiel v. 16.12.2009 – 3 T 364/09 OLG Hamm NJOZ 2011, 649 OLG Celle NJOZ 2011, 410 OLG Brandenburg NJOZ 2011, 409; OLG Naumburg NJOZ 2011, 1097 zu § 6 Abs. 2 BerHG a.F.). Die Zulassung der Beschwerde ist gesetzlich nicht vorgesehen.

Nach diesseitiger Rechtsauffassung wird in dem Beschluss des AG Kiel nicht hinreichend zwischen Widerspruchsverfahren und Überprüfungsverfahren differenziert: Für ein Widerspruchsverfahren ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG Beratungshilfe zu gewähren, eine Ablehnung verletzt einen Rechtsuchenden in seinem Grundrecht auf Rechtswahrnehmungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 11.05.2009, 1 BvR 1517/08; dem folgend: Beschlüsse vom 29.04.2015, 1 BvR 1849/11, 30.06.2009, 1 BvR 470/09, 31.8.2010, 1 BvR 2318/09, 14.9.2009, 1 BvR 40/09; 06.08.2009, 1 BvR 1554/08, 1 BvR 321/09, 1 BvR 320/09, 1 BvR 319/09, 1 BvR 281/09, 1 BvR 1550/08, 1 BvR 1551/08, 1 BvR 1552/08, 1 BvR 322/09), für ein Überprüfungsverfahren demgegenüber stellt die Ablehnung von Beratungshilfe jedenfalls keine Grundrechtsverletzung dar, d.h. Beratungshilfe kann, sie muss aber jedenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gewährt werden.

Die vom AG Kiel in seinem Beschluss angeführte Entscheidung des BVerfG vom 19.08.2010, 1 BvR 465/10, betrifft nun aber gerade kein Widerspruchsverfahren, sondern ein Überprüfungsverfahren, während es in dem Beschluss des AG Kiel um Beratungshilfe für ein Widerspruchsverfahren – und das ist hier die einzige Besonderheit – innerhalb der Jahresfrist nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGG geht.

Der zentrale Satz im Beschluss des AG Kiel, mit dem das Gericht die Argumentation des BVerfG zu Überprüfungsverfahren auf Widerspruchsverfahren nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGG überträgt, lautet: „Denn ein kostenbewusster Rechtsuchender hätte sich aufgrund des Kostenrisikos innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist um die Überprüfung des Bescheides bemüht.“ Einmal abgesehen davon, dass ein Rechtsuchender innerhalb der Monatsfrist natürlich gerade keine „Überprüfung“ beantragt, sondern Widerspruch erhoben hätte (und die Behörde selbst einen explizit gestellten „Überprüfungsantrag“ innerhalb der Monatsfrist vom Amts Wegen als „Widerspruch“ gedeutet und behandelt hätte), ist auch kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, warum ein „kostenbewusster“ Selbstzahler bei einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung „innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist“ – also der Monatsfrist – hätte Widerspruch erheben sollen. Denn das vom AG Kiel vermutete „Kostenrisiko“ besteht für den Rechtsuchenden tatsächlich schließlich gerade nicht, wenn er bei unrichtiger Rechtsmittelbelehrung den Widerspruch nicht innerhalb eines Monats, sondern erst innerhalb der Jahresfrist einlegt.

Gegen den Beschluss des Amtsgericht Kiel ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, § 7 BerHG.. 

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialhilfe: Keine Anrechnung von freiwilligen Motivationszulagen

Bundessozialgericht in Kassel

Motivationszuwendungen für die Teilnahme an einer tagesstrukturierenden Maßnahme sind nicht auf die Sozialhilfe anzurechnen.

Geklagt hatte ein Bezieher von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, der die Integrierte Angebotswerkstatt (IAW) Schleswig besuchte und von dieser freiwillige Zuwendungen in Höhe von 1,60 Euro für jede Stunde seiner Anwesenheit als Anreiz für seine Teilnahme erhielt. Diese Zuwendungen berücksichtigte der zuständige Grundsicherungsträger abzüglich eines monatlichen Freibetrages von 63 Euro als Einkommen.

Rechtswidrig, entschied das Bundessozialgericht. Denn bei den Motivationszulagen der IAW handelte es sich um Zuwendungen im Sinne von § 84 Abs. 2 SGB XII, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben. Solche Zuwendungen sollen als Einkommen außer Betracht bleiben, soweit ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten im Einzelfall eine besondere Härte bedeuten würde. Mit dem Begriff der „besonderen Härte“ lässt sich – entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Schleswig – keine feste Obergrenze in Anlehnung an bestimmte Einkommensgrenzen vereinbaren, bis zu der eine Zuwendung berücksichtigungsfrei wäre. Wird mit der Zuwendung ein Anreiz gesetzt, durch regelmäßige Teilnahme an der Maßnahme die bestehenden behinderungsbedingten Einschränkungen in Bezug auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft aktiv zu mindern oder zu überwinden und wird – wie hier – schon aus der Höhe der Zuwendung deutlich, dass kein Zusammenhang mit einem Erfolg bei einer Tätigkeit besteht, wäre es eine besondere Härte, würde auch nur ein Teil dieser Zuwendung als Einkommen berücksichtigt.

Bundessozialgericht, Urteil vom 12.07.2020, B 8 SO 27/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2020

Siehe aber auch BSG, Urteil vom 17.09.2020, B 4 AS 3/20 R zum Regelungsbereich SGB II, wonach diese Frage aufgrund der „Erwerbszentriertheit des SGB II“ dort anders zu beantworten ist (Terminbericht im Kommentarbereich).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


1.222 Kieler Hartz IV Familien müssen zu ihrer Miete zuzahlen

Auf eine kleine Anfrage des Ratsherrn Burkhardt Gernhuber (Ratsfraktion DIE LINKE) hat die Stadt Kiel nach 2017 im Mai 2020 erneut Angaben zu der Zahl der Bedarfsgemeinschaften im ALG II Bezug gemacht, die aus ihrem Regelsatz zu ihrer Miete dazuzahlen müssen, weil das Jobcenter Kiel ihre Unterkunftskosten nicht in voller Höhe anerkennt. Im Leistungsbereich des Jobcenters Kiel sind danach bei 1.222 von 16.705 Bedarfsgemeinschaften (= 7,32 %) die tatsächlichen Kosten der Unterkunft höher als die angemessenen Kosten der Unterkunft.

Im Jahr 2017 hatte die Stadt Kiel zu dieser Frage folgende Auskunft erteilt (Drs. 0895/2017): Im Leistungsbereich des Jobcenters Kiel sind bei 1.461 von 18.778 Bedarfsgemeinschaften (= 7,78 %) die tatsächlichen Kosten der Unterkunft höher als die angemessenen Kosten der Unterkunft. Der Anteil wäre damit in den letzten zweieinhalb Jahren gesunken.

Diese Ergebnis erstaunt, weil die Landeshauptstadt Kiel selbst in ihren wöchentlichen „Wohnraumberichten“ praktisch keine Wohnungsangebote innerhalb der gültigen Mietobergrenzen findet: In der 39. Kalenderwoche 2020 waren es genau zwei Wohnungen für alleinstehende Personen mit einer Wohnfläche von 25 qm bzw. 34 qm innerhalb der Mietobergrenze von 374,50 € bruttokalt. Für Zwei- oder Mehrpersonenhaushalte wurde gar kein Wohnraum innerhalb der gültigen Mitobergrenzen angeboten. Und so sieht es seit einigen Jahren aus.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Für die Beratung über die Erfolgsaussichten einer Klage gegen einen Widerspruchsbescheid ist gesondert Beratungshilfe zu bewilligen

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Für die Beratung über die Erfolgsaussichten einer Klage gegen einen Widerspruchsbescheid ist gesondert Beratungshilfe zu bewilligen. Insbesondere bildet diese Beratungstätigkeit gebührenrechtlich keine einheitliche Angelegenheit mit dem vorausgegangenen Widerspruchsverfahren. Zur Begründung hat das AG Kiel, Beschluss vom 10.09.2020, 7 UR II 21/20 ausgeführt:

„Die Erinnerung hat in der Sache Erfolg. Denn das der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienen­de weitere Verwaltungsverfahren im Sinne des § 17 Nr. 1a Alt. 1 RVG endet mit einer Entschei­dung der für die Nachprüfung zuständigen Behörde oder mit Erhebung einer Untätigkeitsklage (Mock/Schneider/Wahlen in: Anwaltkommentar RVG, 6. Auflage 2012, § 17, Rn. 6; Mayer, Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, RVG § 17 Rn. 5, beck-online). Ist ein Widerspruchsverfahren ohne Erfolg geblieben bzw. ist ein solches Vorverfahren nicht vorgesehen, ist dem Rechtssuchen­den regelmäßig für die Beratung zum weiteren Vorgehen, insbesondere ob Klage erhoben wer­den soll, {Ergänzung von mir: Beratungshilfe} zu bewilligen (Groß in: Groß, Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe, 14. Aufl. 2018, § 1 [Voraussetzungen], Rn. 74). So liegt es jedenfalls hier, da inhaltlich über die Er­folgsaussicht und Zweckmäßigkeit der Klageerhebung beraten worden ist.“

Das hiesige Erinnerungsschreiben vom 27.04.2020 findet sich im Kommentarbereich.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hilfe zum Lebensunterhalt darf nicht so einfach versagt werden

Schleswig-Holsteinisches LSG

Wirkt ein Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt (HzL) nach dem SGB XII bei seiner Rentenantragstellung nicht hinreichend mit oder weist diese dem Sozialleistungsträger nicht genügend nach, so darf dieser die Leistungen der HzL dennoch nicht – auch nicht teilweise – versagen.

In vorliegendem Fall hatte die Stadt Neumünster als Sozialleistungsträger einem Sozialleistungsbezieher unter Hinweis auf dessen Mitwirkungspflichten sowie den sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz aufgefordert, seinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) weiter zu verfolgen und ihr entsprechende Nachweise hierüber vorzulegen. Als dies nicht geschah, kürzte die Stadt Neumünster dem Hilfebedürftigen die Regelleistungen kurzerhand um die Hälfte.

Rechtswidrig, entschied das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht in zweiter Instanz unter Aufhebung der Vorentscheidung des Sozialgerichts Kiel.

Entgegen der Auffassung des SG Kiel lässt sich die Teilversagung nicht auf § 66 Abs. 1 SGB I stützen. Soweit der Hilfebedürftige im Rahmen seiner Rentenantragstellung nicht hinreichend gegenüber der DRV mitgewirkt haben sollte, würde dies lediglich die DRV ermächtigen, die Rentenleistungen zu versagen, nicht aber die Stadt Neumünster, die Leistungen der HzL teilweise einzustellen.

Soweit das SG Kiel darauf abgestellt hat, Gegenstand der Versagungsentscheidung sei nicht die Mitwirkungspflichtverletzung im Rentenverfahren, sondern die unterbliebene Einreichung von Nachweisen über Mitwirkungshandlungen gegenüber der DRV bei der Stadt Neumünster, trägt auch dies eine auf § 66 Abs. 1 SGB I gestützte Versagungsentscheidung nicht. Denn die Mitwirkungshandlungen gegenüber der DRV sind nicht im engeren Sinne leistungsrelevant für den Anspruch auf HzL des Hilfebedürftigen.

Zuletzt war die Mitwirkung im Verwaltungsverfahren bei der DRV auch nicht Voraussetzung für den Anspruch auf HzL. Zwar sind die HzL-Leistungen grundsätzlich nachrangig gegenüber einem Rentenanspruch, aber die Ablehnung vorrangiger Leistungen wie einer Erwerbsminderungsrente ist grundsätzlich nicht Voraussetzung für einen Leistungsanspruch auf HzL.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06.04.2020, L 9 SO 48/20 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2020

Siehe auch: Jobcenter muss nahtlosen Übergang in die Grundsicherung sicherstellen

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ausländer: Anspruch auf ALG II nach 5 Jahren in Deutschland

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Arbeitsfähige arbeitslose Ausländer ohne Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht haben in Deutschland keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II). Hiervon gibt es aber eine Ausnahme: Auch diese Ausländer können ALG II erhalten, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II). Der Aufenthalt muss ohne wesentliche Unterbrechungen über fünf Jahre bestehen und vom Ausländer nachgewiesen werden.

Grundsätzlich ist zum Nachweis diese Aufenthalts zwar eine fortwährende und überdies melderechtskonforme Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde das geeignetste Mittel, aber nicht das einzige. Denn das ist weder dem Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II, der lediglich für den Fristbeginn auf eine Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde abstellt, noch der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10211, S. 13 ff.) oder dem Sinn und Zweck der Vorschrift zu entnehmen. Es kann vielmehr ergänzend auf die allgemeinen Mittel der Beweisführung bzw. Glaubhaftmachung zurückgegriffen werden. So können neben Meldebescheinigungen etwa von Personen ohne festen Wohnsitz Nachweise über den Aufenthalt in Obdachlosenunterkünften, Klinikaufenthalten oder Aufenthalten bei Verwandten oder Bekannten vorgelegt werden. Weiter kommen dokumentierte Vorsprachen bei Behörden, Betreuern oder Hilfseinrichtungen als schriftliche Nachweise in Betracht. Der Aufenthaltsnachweis kann für Zeiten ohne melderechtskonforme Anmeldung zuletzt auch über Zeugen erbracht werden, die den Ausländer regelmäßig gesehen haben.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 09.12.2019, L 6 AS 152/19 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte informiert: Zuschüsse für Studierende in akuten Notlagen

Seit gestern können Studierende, die infolge der Corona-Pandemie akut auf finanzielle Hilfe angewiesen sind, Unterstützung in Form eines nicht rückzahlbaren Zuschusses bei ihrem Studierendenwerk beantragen. „Die Überbrückungshilfe ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung und allerhöchste Zeit“, sagte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samiah El Samadoni, dazu heute (Mittwoch) in Kiel. Studierende seien aktuell in besonderem Maße auf eine Unterstützung angewiesen, da ihnen die dringend benötigten Einkünfte z. B. aus Minijobs zurzeit schlicht fehlen.

Antragsberechtigt sind Studierende, die an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule in Deutschland immatrikuliert und nicht beurlaubt sind. Studierende an Verwaltungsfachhochschulen oder Bundeswehrhochschulen, im berufsbegleitenden Studium bzw. dualen Studium sowie Gasthörer*innen erhalten dagegen keine Zuschüsse. Die Überbrückungshilfe ist bislang nur für die Monate Juni, Juli und August 2020 vorgesehen und beträgt – abhängig vom nachzuweisenden Kontostand der Studierenden – zwischen 100,00 € und 500,00 € pro Monat. „Ich empfehle allen Studierenden, die einen Anspruch auf Zuschüsse haben können, separat und in jedem der drei Monate einen Antrag zu stellen“, so die Bürgerbeauftragte. Nach den rechtlichen Vorgaben müsse die Antragstellung für jeden Monat gesondert erfolgen, rückwirkende Anträge seien nicht möglich.
Um die Überbrückungshilfe zu erhalten, müssen Studierende allerdings zahlreiche Unterlagen und Nachweise einreichen: Sie haben neben verschiedenen Dokumenten u. a. eine chronologisch lückenlos nach Datum sortierte Darstellung der finanziellen Notsituation anhand des aktuellen Kontostandes und der Kontenbewegungen der letzten Monate einzureichen. Zusätzlich müssen Studierende eine Erklärung über ihre pandemiebedingte Notlage unter Angabe des Grundes abgeben und diesen mittels geeigneter Dokumente darlegen. „Geeignete Nachweise für eine Notlage können z. B. die Kündigung eines Minijobs, aber auch Selbsterklärungen zum Wegfall von Einnahmen aus einer Selbständigkeit oder zum Wegfall von Unterhaltszahlungen der Eltern sein“, erklärte El Samadoni. 2

Die Bürgerbeauftragte kritisierte den späten Zeitpunkt der Maßnahmen: „Vielen Studierenden fehlen schon seit März die finanziellen Mittel, um ihre Miete zu zahlen und den Lebensunterhalt zu bestreiten.“ Sie habe angesichts der geringen Dauer und Höhe der Überbrückungshilfe auch große Zweifel daran, dass die Maßnahmen ausreichend seien. „Wir müssen in unsere Zukunft investieren und Studienabbrüche wegen finanzieller Notlagen unbedingt verhindern“, mahnte El Samadoni.

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und ihr Team beraten zur Überbrückungshilfe und zu weiteren möglichen Sozialleistungen gerne telefonisch von Montag bis Freitag zwischen 9:00 und 15:00 Uhr unter 0431/988-1240.

Pressemitteilung Nr. 22 vom 17. Juni 2020


Es eilt nicht erst bei einer Räumungsklage

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter anderem zu prüfen, ob die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Wenn Jobcenter Leistungen für die Unterkunft gar nicht oder nicht in der tatsächlichen Höhe gewährten, haben viele Sozial- und Landessozialgerichte in der Vergangenheit die für einen erfolgreichen Eilantrag notwendige Eilbedürftigkeit pauschal davon abhängig gemacht, ob der Vermieter bereits eine Räumungsklage erhoben hatte. Andernfalls drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit, die zu vermeiden der einzige Zweck unterkunftsichernder Leistungen sei.

Diese Rechtsprechung, die in erheblichem Umfange zu Räumungsklagen und folgender Obdachlosigkeit von Leistungsberechtigten geführt hat, hat das BVerfG bereits im Jahr 2017 für mit dem in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz unvereinbar erklärt. Relevante Nachteile sind nämlich, so das Bundesverfassungsgericht, nicht nur Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Die Regelung zu den Kosten der Unterkunft in § 22 SGB II soll nicht nur die bloße Obdachlosigkeit verhindern, sondern darüber hinaus auch das Existenzminimum sichern, wozu es gehört, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben. Daher muss bei der Prüfung des Anordnungsgrundes berücksichtigt werden, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Leistungsberechtigten hätte.

BVerfG, Beschluss vom 01.08.2017, 1 BvR 1910/12

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Corona-Krise: Wohnungsloser EU-Bürger hat Anspruch auf existenzsichernde Leistungen

Das Sozialgericht Düsseldorf hat einem wohnungslosen Portugiesen, der sich in Deutschland aufhält, vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie im Wege des sozialgerichtlichen Eilrechtsschutzes existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II (ALG II) zugestanden.

Der Antragsteller hält sich seit 1994 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Er beantragte Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) beim Jobcenter Wuppertal. Das Jobcenter lehnte den Leistungsantrag ab, da sich der Antragsteller nur zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Ein Daueraufenthaltsrecht habe er nicht nachgewiesen, da unklar sei, ob er sich ununterbrochen in Deutschland aufgehalten habe. Der Antragsteller stellte am 27.03.2020 einen Antrag auf sozialgerichtlichen Eilrechtsschutz mit dem Ziel vorläufiger Leistungsgewährung.

Die 25. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf sprach dem Antragsteller vorläufige Leistungen in Höhe des Regelbedarfs zu. Unabhängig vom Vorliegen eines Daueraufenthaltsrechts müsse das Existenzminimum des Antragstellers in Deutschland gesichert werden. Dieser sei unstreitig hilfebedürftig. Hätte der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, so hätte er einen Leistungsanspruch nach dem SGB XII (Sozialhilfe). Das Jobcenter müsse zunächst als zuerst angegangener Träger die existenzsichernden Leistungen erbringen, zumal die Einschränkungen des öffentlichen Lebens die Situation von Wohnungslosen besonders erschweren. Dabei könne der Antragsteller wegen der COVID-19-Pandemielage nicht darauf verwiesen werden, in sein Heimatland zurückzureisen und dort Leistungen zu beantragen.

Quelle: Pressemitteilung des Sozialgericht Düsseldorf vom 16.04.2020

Volltext: Sozialgericht Düsseldorf, Beschluss vom 14.04.2020, S 25 AS 1118/20 ER


Die Bürgerbeauftragte: „Schutz von Kindern und Jugendlichen auch in Zeiten der Corona-Bekämpfung gewährleisten!“

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, stieß in den letzten Tagen auf Verunsicherungen bei Bürger*innen, ob Hilfen nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) auch in Zeiten der Corona-Bekämpfung beantragt und gewährt werden können. „Diese Hilfen können grundsätzlich weiterhin gewährt werden“, so El Samadoni am 9. April 2020.

Insbesondere stationäre Einrichtungen und ambulante sowie teilstationäre Angebote der Jugendhilfe gehören als notwendige Voraussetzung für die Gewährleistung des Kindeswohls nach dem Kinder- und Jugendhilferecht zu den kritischen Infrastrukturen im Sinne der derzeit gültigen Landesverordnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Schleswig-Holstein (§ 10 Abs. 1 Nr. 12 SARS-Cov-2-BekämpfVO in der Fassung vom 8. April 2020). Diese kritischen Infrastrukturen werden auch während der Corona-Bekämpfung aufrechterhalten. Dennoch gilt nach Angaben des Landesjugendamtes im Einzelfall unter Beachtung des konkreten Hilfebedarfes und einer Gefahrenanalyse unter Berücksichtigung des Kinderschutzes zu entscheiden, ob und wie eine Hilfe gewährt werden soll. „Ich appelliere hier an die Jugendämter, auch unter den momentan erschwerten Bedingungen über Anträge und Hilfen weiterhin zügig zu entscheiden und insbesondere auch für die Menschen erreichbar und ansprechbar zu bleiben, damit im Hinblick auf das Kindeswohl präventiv gehandelt werden kann“, führte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten weiter aus. Den Rest des Beitrags lesen »


Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zum „Sozialschutz-Paket“ sind veröffentlicht

Soweit hier ersichtlich heute hat die Bundesagentur für Arbeit ihre Weisungen vom 01.04.2020 zum neuen § 67 SGB II (Sozialschutz-Paket aufgrund der Corona-Pandemie) veröffentlicht. Zudem hat das Land Schleswig-Holstein eine Tabelle mit Antworten auf häufige Fragen zum Programm des Landes zur Corona-Soforthilfe erstelle. Beide Dokumente habe ich hier hinterlegt:

Weisungen zum Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund der Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) sowie ergänzender Regelungen

Soforthilfeprogramm des Landes Schleswig-Holstein mit finanzieller Unterstützung des Bundes (Soforthilfe-Corona) Antworten auf häufig gestellte Fragen Stand: 02.04.2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II „ohne Vermögensberücksichtigung“ während der Corona-Pandemie?

Vielerorts war und ist zu lesen und im Rundfunk auch heute noch zu hören (Deutschlandfunk, Marktplatz Corona – Hilfe für Kleinunternehmer), während der Dauer der Corona-Pandemie könnten wirtschaftlich von der Pandemie betroffene Menschen ALG II „ohne Berücksichtigung ihres Vermögens“ beantragen. Die Lektüre des § 67 SGB II n.F. hat in der Folge bei vielen potentiellen Antragstellern zu erheblicher Verunsicherung und Nachfragen – auch in der anwaltlichen Beratung – geführt.

Was regelt das Gesetz – und was nicht?

Für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 01.03.2020 bis zum 30.06.2020 beginnen, gilt nach § 67 Abs. 2 SGB II n.F.:

„Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt. Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“

Die Bestimmung des Zeitraumes der abweichenden Vermögensberücksichtigung nach Satz 1 ist unproblematisch. Problematischer ist Satz 2. Nach diesem findet eine Vermögensberücksichtigung nämlich doch statt, wenn das Vermögen „erheblich“ ist. Wann Vermögen „erheblich“ im Sinne von § 67 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. ist, hat der Gesetzgeber weder geregelt noch ergibt sich dies aus der amtlichen Begründung (der dortige Hinweise, es solle die nach dem SGB II grundsätzlich vorzunehmende Prüfung, ob „erhebliches verwertbares Vermögen“ vorliegt, in der Zeit der Pandemie nicht vorgenommen werden, deutet noch am ehesten darauf hin, dass der Gesetzgeber von „erheblichem“ Vermögen bereits bei Barvermögen oberhalb der Freigrenzen nach § 12 Abs. 2 SGB II ausgegangen ist).

„Erhebliches Vermögen“ bei über 60.000 € und über 30.000 € je Mitglied der BG

Die Bundesagentur für Arbeit hat jetzt – wohl in Anlehnung an die Definition von „erheblichem Vermögen“ im Wohngeldrecht (vgl. § 21 Nr. 3 WoGG i.V.m. Nr. 21.37 der WoGG VwV) – die Antwort darauf gegeben, wann „erhebliches Vermögen“ vorliegt (vgl. Vereinfachter Antrag für Bewilligungszeiträume mit Beginn vom 01.03.2020 bis zum 30.06.2020):

„Erheblich ist sofort für den Lebensunterhalt verwertbares Vermögen der Antragstellerin/des Antragstellers über 60.000 Euro sowie über 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft. Beispiele: Girokonten, Sparbücher, Schmuck, Aktien, Lebensversicherungen.“

Was bedeutet die „Vermutungsregelung“?

Welche rechtliche Bedeutung hat nun aber der Satz, „es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“?

Klar ist, dass die Angaben zum Vermögen im „vereinfachten Antrag“ wahrheitsgemäß erfolgen müssen. Falsche Angaben zum Vermögen führen bei Kenntniserlangung durch das Jobcenter nicht nur zu einer Rückforderung bewilligter Leistungen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer Strafanzeige wegen Sozialleistungsbetrugs.

Nimmt man die Ausführungen des Gesetzgebers ernst, so soll sich die Vermögensprüfung allerdings auf die „Eigenerklärung der Antragstellerinnen und Antragsteller, nicht über erhebliche Vermögenswerte zu verfügen“, beschränken. Das allerdings wäre keine „beschränkte“ Vermögensprüfung, sondern ein Verzicht auf jedwede Prüfung.

Auf eine solche Auslegung durch Verwaltung und Gerichte sollte jedoch kein Antragsteller bauen. Denn eine gesetzliche Vermutung (die das SGB II auch an anderer Stelle kennt, etwa in § 7 Abs. 3a SGB II), ist grundsätzlich widerlegbar. Dies gilt genauso für die gesetzliche Vermutung in § 67 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 SGB II, dass die Angabe des Antragstellers, es läge kein erhebliches Vermögen vor, zutreffend ist. Grundsätzlich löst die entsprechende Angabe eines Antragstellers – auch im vereinfachten Antragsverfahren – Amtsermittlungspflichten für die Jobcenter aus, so dass im Ergebnis eine Prüfung  – mag diese auch auf bloße Anhaltspunkte der Unrichtigkeit der Angaben beschränkt bleiben – durch das Jobcenter zu erfolgen hat und auch erfolgen wird (so auch Deutscher Sozialgerichtstag e.V., Wortmeldung an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 25.03.2020 zum neuen § 67 Abs. 3 SGB II.)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Änderungen im Zivilrecht zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie

Der Bundestag hat am 25.03.2020 einstimmig einen Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Abmilderung der Folgen der Covid-19- Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (BT-Drs. 19/18110) angenommen.

Im Bereich des Zivilrechts sind im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EG BGB) zeitlich befristet bis zum 30.06.2020 in Artikel 240 BGB-EG besondere Regelungen eingeführt werden, die Schuldnern, die wegen der Covid-19-Pandemie ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen können, die Möglichkeit einräumen, die Leistung einstweilen zu verweigern. Auf diese Weise soll für Verbraucher und Kleinstunternehmen gewährleistet werden, dass sie insbesondere von Leistungen der Grundversorgung wie Strom, Gas und Telekommunikation nicht abgeschnitten werden. Für Mietverhältnisse über Grundstücke oder über Räume ist das Recht der Vermieter zur Kündigung von Mietverhältnissen eingeschränkt worden. Bei Verbraucherdarlehensverträgen ist eine gesetzliche Stundungsregelung und eine Vertragsanpassung nach Ablauf der Stundungsfrist eingeführt worden. Sollte der Zeitraum bis Juni 2020 nicht ausreichen, hat die Bundesregierung die Möglichkeit, die vorgesehenen Befristungen im Weg einer Verordnung zu verlängern.

240 BGB-EG n.F. lautet wie folgt: Den Rest des Beitrags lesen »


Grundsicherungsträger muss genau über die Art und Weise der Suchbemühungen nach kostenangemessenem Wohnraum informieren

Sozialgericht Kiel

Liegt die Miete von Leistungsberechtigten nach dem SGB II (ALG II bzw. Hartz IV) oder SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt) mehr als 10 % über der jeweils maßgeblichen sog. Mietobergrenze, fordern Jobcenter Kiel bzw. Landeshauptstadt Kiel ihre Leistungsberechtigten in Textbausteinschreiben dazu auf, ihre Mietkosten auf die jeweilige Mietobergrenze zu senken. Die 26. Kammer am SG Kiel hat nun mit Beschluss vom 26.03.2020 zum Aktenzeichen S 26 SO 8/20 ER entschieden, dass die Landeshauptstadt Kiel einen Leistungsberechtigten nicht hinreichend über die Art und Weise der Nachweiserbringung für seine Suchbemühungen um kostenangemessenen Wohnraum informiert hat. Gleichzeitig hat das Gericht den Leistungsberechtigten zur Dokumentation seiner Suchbemühungen wie folgt verpflichtet:

„a. Zum Zwecke der Dokumentation dieser Bemühungen hat der Antragsteller eine tabellarische Aufstellung über die Herkunft des Angebotes, die Lage der Wohnung, die Größe der Wohnung, die Kaltmiete, die Nebenkosten, die Heizkosten und den Weg der Kontaktaufnahme zu führen.

b. Soweit der Kontakt mit dem Vermieter/ der Wohnungsverwaltungsgesellschaft schriftlich (per Post oder elektronisch) geführt wurde, hat der Antragsteller den Schriftwechsel aufzubewahren. Soweit die Kontaktaufnahme per Telefon erfolgt, hat der Antragsteller die Telefonnummer, den Namen des Ansprechpartners, den Zeitpunkt des Telefonats und die Länge des Telefonates in der Tabelle zu notieren und durch entsprechende Verbindungsnachweise die Möglichkeit des Nachweises zu schaffen.

c. Außerdem hat der Antragsteller schriftlich zu dokumentieren, wann er welche Medien zum Zwecke der Wohnungssuche eingesehen hat, auch wenn kein angemessener Wohnraum verfügbar war.“

Da die Mietsenkungsaufforderungen sowohl der Landeshauptstadt Kiel als auch des Jobcenters Kiel dieser Informationen bislang nicht enthalten, sind nach dieser Entscheidung alle bisherigen Mietsenkungen rechtswidrig.

Nachweiserbringung über Einzelverbindungsnachweise?

Deutlich zu kritisieren ist die Forderung des Gerichts nach einer Nachweisführung über Einzelverbindungsnachweise. Viele gerade ältere Leistungsberechtigte nach dem SGB XII werden damit erhebliche Probleme haben, wenn sie die Einzelverbindungsnachweise nicht noch auf dem Postwege erhalten. Da selbst in diesem Fall regelmäßig die Endziffern unkenntlich gemacht sind, wird diese Anforderung des Gerichts zu unnötiger Rechtsunsicherheit und damit erheblicher Verunsicherung gerade bei älteren Leistungsberechtigten führen.

Corona-Pandemie „nicht zu beachten“?

Die vom Gericht in eigenwillig apodiktischer Entschlossenheit zu Papier gebrachte Feststellung, die aktuelle Corona-Pandemie sei „bei der Entscheidung nicht zu beachten“, denn durch die aktuelle Lage werde die Suche „jedenfalls nicht grundsätzlich unmöglich“, erstaunt. So kritisiert etwa der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. in seiner Wortmeldung an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 25.03.2020 zum neuen § 67 Abs. 3 SGB II, dass für den Zeitraum der Corona-Pandemie die Angemessenheitsprüfung nicht für alle Leistungsberechtigten ausgesetzt wird, weil „auch Leistungsberechtigte, die sich in der Vergangenheit nicht gegen die Kürzung der Wohnkosten gewandt haben, (…) in der aktuellen Situation keine neue Wohnung suchen und beziehen [können]. Auch der Gedanke eines früheren Fehlverhaltens (Verweigerung der Kostensenkung trotz bestandskräftige Kostensenkungsaufforderung) [könne] die Regelung nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn. 131).“ Einmal abgesehen davon, dass eine Kostensenkungsaufforderung nicht „bestandskräftig“ werden kann, weil es sich bei einer solchen nicht um einen Verwaltungsakt handelt (BSG, Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 36/15 R), dürfte die empirische Einschätzung, dass die Anmietung von Wohnraum in Zeiten, in denen „Kontakte zu anderen Personen auf ein absolut notwendiges Minimum zu reduzieren und, wo immer möglich, ein Mindestabstand von mindestens 1,5 m einzuhalten“ ist (Allgemeinverfügung Kiel vom 23.03.2020), praktisch unmöglich ist, zutreffend sein.

Umzug im Sozialleistungsbezug während der Corona-Pandemie?

Vom Gericht nicht geprüft wurde zudem, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen während der Corona-Pandemie ein Umzug im Sozialleistungsbezug rechtlich überhaupt möglich ist. Grundsätzlich verlangen die Grundsicherungsträger einen Umzug in Eigenregie, also ohne ein gewerbliches Umzugsunternehmen. Private Umzüge dürfen in Kiel aber nur noch stattfinden, „wenn ausschließlich Personen aus demselben Haushalt (auch Wohngemeinschaft) mithelfen. Ansonsten dürfen private Umzüge nur stattfinden, wenn zwingend eine mietrechtliche Pflicht zur Räumung besteht (zum Beispiel wenn das Mietverhältnis am 31. März 2020 endet). Diese Pflicht ist im Einzelfall nachzuweisen. Alle anderen bis zum 19. April 2020 nicht zwingend notwendigen Umzüge müssen verschoben werden“ (Kiel.de). Da die Pflicht zur Mietsenkung im Sozialleistungsbezug kein anerkannten Umzugsgrund (vorläufig) bis zum 19.04.2020 ist, müssten Sozialleistungsträger in der aktuellen Pandemie-Situation vor Mietvertragsschluss die Übernahme der Kosten für eine gewerbliches Umzugsunternehmen zusichern.

Anordnungszeitraum bis 15. April 2020?

Ungewöhnlich und wenig praxistauglich ist zuletzt der vom Gericht festgelegte Anordnungszeitraum bis 15.04.2020. In hiesiger Praxis ist kein Beschluss eines Sozialgerichts bekannt, in dem ein Anordnungszeitraum für den Teil eines Monats beschlossen wurde. Die Landeshauptstadt Kiel ist dem Beschluss des SG Kiel insoweit auch nicht gefolgt und hat dem Antragsteller – vernünftigerweise – Leistungen zunächst bis 30.04.2020 bewilligt.

Vgl. zu dieser Entscheidung auch die teilweise kritische Besprechung von Lehmann in NZS 2020, Seite 436, SG Kiel: Ist ein Umzug während der Corona-Pandemie möglich und zumutbar? Entscheidungsbesprechung zum Beschluss v. 26.03.2020 – S 26 SO 8/20 ER, abrufbar hier: NZS 2020, 436

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Änderungen im SGB II aufgrund der COVID-19-Pandemie

Der Bundesrat hat am 27. März 2020 beschlossen, dem vom Deutschen Bundestag am 25. März 2020 verabschiedeten „Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket)“, BT-Drucks. 19/18107 gemäß Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes zuzustimmen. Der neue § 67 SGB II, der am Tag nach seiner Verkündung in Kraft treten wird, lautet wie folgt:

„§ 67 SGB II (Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2; Verordnungsermächtigung)

(1) Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. Juni 2020 beginnen, werden nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 erbracht.

(2) Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt. Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.

(3) § 22 Absatz 1 ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Nach Ablauf des Zeitraums nach Satz 1 ist § 22 Absatz 1 Satz 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass der Zeitraum nach Satz 1 nicht auf die in § 22 Absatz 1 Satz 3 genannte Frist anzurechnen ist. Satz 1 gilt nicht in den Fällen, in denen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt wurden.

(4) Sofern über die Leistungen nach § 41a Absatz 1 Satz 1 vorläufig zu entscheiden ist, ist über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abweichend von § 41 Absatz 3 Satz 1 und 2 für sechs Monate zu entscheiden. In den Fällen des Satzes 1 entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abweichend von § 41a Absatz 3 nur auf Antrag abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch.

(5) Für Leistungen nach diesem Buch, deren Bewilligungszeitraum in der Zeit vom 31. März 2020 bis vor dem 31. August 2020 endet, ist für deren Weiterbewilligung abweichend von § 37 kein erneuter Antrag erforderlich. Der zuletzt gestellte Antrag gilt insoweit einmalig für einen weiteren Bewilligungszeitraum fort. Die Leistungen werden unter Annahme unveränderter Verhältnisse für zwölf Monate weiterbewilligt. Soweit bereits die vorausgegangene Bewilligung nach § 41a vorläufig erfolgte, ergeht abweichend von Satz 3 auch die Weiterbewilligungsentscheidung nach § 41a aus demselben Grund für sechs Monate vorläufig. § 60 des Ersten Buches sowie die §§ 45, 48 und 50 des Zehnten Buches bleiben unberührt.

(6) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates den in Absatz 1 genannten Zeitraum längstens bis zum 31. Dezember 2020 zu verlängern.“

Amtliche Begründung: Den Rest des Beitrags lesen »


Telefonnetz überlastet – Anrufe bei Arbeitsagenturen und Jobcentern auf Notfälle beschränken

Bundesagentur für Arbeit | 17.03.2020 | Presseinfo Nr. 12
Aufgrund des hohen Anrufaufkommens sind die Arbeitsagenturen und Jobcenter derzeit telefonisch nur eingeschränkt erreichbar. Das Telefonnetz unseres Providers ist derzeit überlastet. Wir bitten darum, Anrufe auf Notfälle zu beschränken.
  • Für alle Termine gilt: Kundinnen und Kunden müssen den Termin NICHT absagen. Es gibt keine Nachteile. Es gibt keine Rechtsfolgen und Sanktionen.
  • Fristen in Leistungsfragen werden vorerst ausgesetzt. Die Kundinnen und Kunden erhalten rechtzeitig eine Nachricht, wenn sich diese Regelungen ändern.
  • Die Arbeitsagenturen und Jobcenter schalten derzeit auch lokale Rufnummern. Diese werden örtlich bekannt gemacht.

Das Anrufaufkommen ist in den letzten Tagen auf das zehnfache des üblichen Niveaus gestiegen. Durch die vielen Anrufe ist das Telefonnetz unseres Providers überlastet.


Sonderregelungen für Gerichte und Staatsanwaltschaften für die Dauer der Pandemie des Coronavirus (SARS-CoV-2)

Das Ministerium für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein hat zur Eindämmung der Corona-Pandemie Regelungen zur Beschränkung des Zugangs zu Gerichten und Staatsanwaltschaften erlassen. Für Rechtsuchende, die im Sozialrecht Rechtsschutz suchen, sind vor allem Nachfolgende Beschränkungen relevant:

1. Beratungshilfeanträge nur noch schriftlich

Beratungshilfe wird im Regelfall von den Amtsgerichten durch Ausstellung eines sog. Berechtigungsscheins gewährt, § 6 Abs. 1 BerHG. Hierzu ist in Kiel unter den Telefonnummern 604 – 2001 oder 604 – 2005 vorab ein Termin bei einem Rechtspfleger am Amtsgericht Kiel zu vereinbaren.

Rechtssuchende, die einen Berechtigungsschein beantragen wollen, werden zukünftig bis auf Weiteres auf die schriftliche Antragstellung verwiesen. Das schriftliche Verfahren bis zur Ausstellung eines Berechtigungsscheins dürfte absehbar länger dauern als die persönliche Antragstellung, da insbesondere direkt Nachfragen nicht mehr möglich sind. Es ist damit zu rechnen, dass hierdurch in noch größerem Maße als ohnehin schon etwa Widerspruchsfristen verstreichen werden, weil es von der Entscheidung, Widerspruch einlegen zu wollen, der Vereinbarung eines Termins am Amtsgericht Kiel, der Abgabe der Unterlagen beim Gericht, der Beantwortung etwaiger Nachfragen des Gerichts, der postalischen Übersendung des Berechtigungsscheins sowie der Vereinbarung eines Termins bei einem Rechtsanwalt länger als einen Monat dauern wird.

In Beratungshilfeangelegenheiten, in denen mit einer gewissen Sicherheit Beratungshilfe gewährt werden dürfte (etwa für Widerspruchsverfahren, vgl. grundlegend BVerfG 11.5.2009 – 1 BvR 1517/08; weiter Nachweise hier unter 3.3.3), sollte in der Zeit der Geltung des Erlasses der Weg über die sog. nachträgliche Beratungshilfe nach § 6 Abs. 2 BerHG gewählt werden und sich Rechtsuchende direkt an einen Anwalt ihrer Wahl wenden.

2. Fragebogen

Vor dem Zugang zu Gerichten und Staatsanwaltschaften ist zukünftig dieser Fragebogen auszufüllen.

3. Zutrittsverbot für bestimmte Personengruppen

Personen, die keine Justizbediensteten sind (einschließlich Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie anderen externen Organen der Rechtspflege), ist der Zutritt zu den Gerichten und Staatsanwaltschaften zu untersagen, wenn sie innerhalb der letzten 14 Tage

a) in einem internationalen Risikogebiet oder einem besonders betroffenen Gebiet in Deutschland entsprechend der Festlegung durch das Robert Koch-Institut (RKI) (tagesaktuell abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuarti-ges_Coronavirus/Risikogebiete.html) waren,

b) in Österreich, der Schweiz oder der französischen Alpenregion waren, oder

c) Kontakt zu einer am Coronavirus erkrankten Person oder zu jemandem hatten, bei dem der Verdacht auf eine Coronavirus-Erkrankung besteht.

Gleiches gilt, soweit diese Personen unspezifische Allgemeinsymptome oder Atemwegsprobleme – gleich welcher Schwere oder Ausprägung – aufweisen und in den letzten vierzehn Tagen vor Erkrankungsbeginn eine der unter a) bis c) genannten Fallkonstellationen vorlag.

Soweit es sich um Personen, die zu einem Termin geladen wurden, oder deren Vertreterin oder Vertreter handelt, sind die für die Ausrichtung des Termins Verantwortlichen über die Zutrittsuntersagung unverzüglich zu informieren.

4. Nachtrag 21.04.2020: Mund-Nasen-Bedeckung erforderlich

Ab Mittwoch, den 22.042020 ist für alle externen Nutzer, zu denen auch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gehören, die Nutzung einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Räumen des Amtsgerichts Kiel grundsätzlich erforderlich ist. Dies gilt im Übrigen auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gerichtes, sofern diese sich auf öffentlich zugänglichen Flächen des Gerichtes aufhalten. Externe Nutzer sollen eigenen eigenen Mundschutz mit bringen. Ein medizinischer Mundschutz wird nicht verlangt, ausreichend sind auch etwa selbstgenähte Mund-Nasen-Bedeckungen. Für Notfälle hält das Amtsgericht Kiel Einmal-Mund-Nasen-Bedeckungen vor.

Anträge auf Bewilligung von Beratungshilfe sind bis auf weiteres weiterhin schriftlich einzureichen. Anträge können unter https://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/AGKIEL/05_Service/_documents/05_9_Formulare/formulare.html heruntergeladen und ausgedruckt werden. Auf Nachfrage werden Anträge auf dem Postweg übersandt. Termine werden nur im Einzelfall vergeben.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialamt muss nahtlosen Übergang in den ALG II-Bezug sicherstellen

Im Januar 2018 hatte ich an dieser Stelle darüber berichtet, dass Jobcenter bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit ihrer Kunden die Bewilligung von ALG II nicht einfach ablehnen und diese auf Leistungen nach dem SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, Hilfe zum Lebensunterhalt) verweisen dürfen, sondern so lange weiter ALG II gewähren müssen, bis der gegebenenfalls zuständige Leistungsträger die Leistungsgewährung tatsächlich aufgenommen hat. Denn kein Hilfebedürftiger darf allein wegen ungeklärter Zuständigkeitsfragen ohne existenzsichernde Leistungen verbleiben.

Das Sozialgericht Kiel hat die Verpflichtung zur nahtlosen Leistungserbringung nun auch für den umgekehrten Fall bestätigt: Hält ein SGB XII-Sozialleistungsträger (hier die Stadt Kiel) einen Leistungsberechtigten für erwerbsfähig, darf er diesem nicht einfach die SGB XII-Leistungen verweigern, sondern muss diese so lange weitergewähren, bis das gegebenenfalls zuständige Jobcenter die ALG II-Zahlungen tatsächlich aufnimmt. Dabei trifft die Verpflichtung zur Einleitung der Feststellung der Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger insbesondere auch nicht das Jobcenter, sondern gemäß § 45 SGB XII den SGB XII-Träger. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II, da diese Regelung nicht den Fall betrifft, in dem ein Hilfebedürftiger bereits Leistungen nach dem SGB XII erhält. Zuletzt weist das Sozialgericht darauf hin, dass für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit auch nicht zwingend ein Gutachten des Rentenversicherungsträgers einzuholen ist, wenn kein Widerspruchsberechtigter nach § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II den Feststellungen des medizinischen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit widerspricht.

SG Kiel, Beschluss vom 16.10.2019, S 26 SO 23/19 ER (rechtskräftig)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 02/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wohngeld ist im Zuflussmonat auf ALG II anzurechnen

Bundessozialgericht in Kassel

Grundsätzlich gilt im ALG II-Bezug: Alle Einkünfte sind in dem Monat anzurechnen, in dem sie zufließen – also im Regelfall auf dem Konto des Leistungsempfängers eingehen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt für den Kinderzuschlag: Der Kinderzuschlag soll Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II vermeiden und dies kann er aufgrund des Monatsprinzips im SGB II nur, wenn er in dem jeweiligen Monat, für den er bestimmt ist, zufließt und auch in diesem berücksichtigt wird (BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 35/16 R).

In dem vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Fall hatte die Familienkasse einer Familie, die von Erwerbseinkommen, Kindergeld und Wohngeld lebte, für den Monat April 2016 Kinderzuschlag verwehrt, weil das im April für März nachgezahlte Wohngeld in Höhe von 180,00 € nicht im Monat April (sondern im Monat März) zu berücksichtigen sei und deswegen auch bei Gewährung von Kinderzuschlag von hier 700,00 € im Monat April 2016 Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II nicht vermieden werden könne (vgl. § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG).

Rechtswidrig, entschied das BSG: Für nachgezahltes Wohngeld ist im Unterschied zu nachgezahltem Kinderzuschlag keine Ausnahme von der Berücksichtigung im Zuflussmonat zu machen, weil es an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage hierfür fehlt und auch systematische Gründe nicht für eine Ausnahme sprechen.

BSG, Urteil vom 30.10.2019, B 4 KG 1/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X!

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Das LG Kiel hat mit Beschluss vom 24.01.2020 zum Aktenzeichen 5 T 53/19 die Entscheidung des AG Kiel bestätigt, wonach für ein erfolgreiches Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 (1) VV RVG zur Entstehung gelangt.

Zum Thema siehe auch schon: Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag?

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kindergeldrückforderung: Zweifel an der Zuständigkeit der Familienkasse NRW-Nord zur zentralen Entscheidung über Stundungs- und Erlassanträge

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Derzeit sind unter den Aktenzeichen III R 36/19 und III R 21/18 zwei Verfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) zu der Frage anhängig, ob dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit trotz der Konzentrationsermächtigung des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 Finanzverwaltungsgesetz (FVG) die Befugnis fehlte, die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des sog. Regionalen Inkasso Services im Bereich des steuerlichen Kindergeldes bei der Familienkasse NRW-Nord zu zentralisieren.

Das FG Düsseldorf (Urteil vom 14.05.2019, 10 K 3317/18) hatte zuvor entschieden, dass die für den Wohnort zuständige Familienkasse, welche Kindergeld zurückgefordert hat, auch für die Entscheidung über den Antrag auf Stundung der Kindergeldrückforderung zuständig sei. Ein Bescheid, mit dem der Inkasso-Service der Bundesagentur für Arbeit (Agentur für Arbeit Recklinghausen) den Antrag auf Stundung des Rückzahlungsbetrages ablehnt, sei bereits wegen sachlicher Unzuständig rechtswidrig.

Auch das Sächsische Finanzgericht (Urteil vom 07.03.2018, 8 K 1527/17 (Kg)) entschied, dass die isolierte Übertragung von Entscheidungen im Erhebungsverfahren auf eine Familienkasse, die den Kindergelderstattungsanspruch nicht festgesetzt hat, unzulässig sei.

Für Betroffene, welche sich Kindergeldrückforderungen ausgesetzt sehen, bedeutet die aktuelle Rechtsprechungslage:

(1) Für Klagen gegen Widerspruchsentscheidungen des Regionalen Inkasso Services der Familienkasse NRW-Nord, mit denen eine Stundung oder der Erlass einer Kindergeldrückforderung abgewiesen wurde, wird derzeit im Regelfall Prozesskostenhilfe für ein gerichtliches Verfahren bewilligt.

(2) Das FG Kiel regt die Ruhendstellung der Verfahren bis zu einer Entscheidung des BFH in den Verfahren III R 36/19 und III R 21/18 an, was vernünftig ist.

(3) FG, die von einer Unzuständigkeit der Familienkasse NRW-Nord ausgehen, können die Ablehnungsentscheidungen des Inkasso Service der Familienkasse NRW-Nord lediglich aufheben. Denn da der ablehnende Bescheid nach dieser Rechtsauffassung von einer unzuständigen Behörde erlassen wurde, können diese FG die Familienkasse NRW-Nord weder gemäß § 101 Satz 1 FGO verpflichten, die von den jeweiligen Klägern begehrte Stundung oder den begehrten Erlass vorzunehmen, noch gemäß § 101 Satz 2 FGO die Verpflichtung der Familienkasse NRW-Nord aussprechen, den jeweiligen Stundungs- oder Erlassantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Das bedeutet für Kläger, dass über ihr eigentliches Begehren – Stundung oder Erlass einer Kindergeldrückforderung – von diesen Gerichten aktuell nicht entschieden wird.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Doppelmieten können Unterkunftskosten sein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

In der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass Jobcenter bei einem Umzug anfallende doppelte Mietaufwendungen übernehmen müssen. Solche Überschneidungskosten können etwa entstehen, wenn ein Umzug – etwa zur Senkung der Unterkunftskosten – erforderlich ist, die neue Wohnung in zwei Monaten angemietet werden muss, für die bisherige Wohnung aber die gesetzliche Kündigungsfrist von 3 Monaten einzuhalten ist. Höchstrichterlich noch nicht geklärt war, ob es sich bei derartigen Doppelmieten um Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II oder um Umzugskosten nach § 22 Abs. 6 SGB II handelt. Diese Frage ist deswegen von Relevanz, weil Umzugskosten nur nach vorheriger Zusicherung durch das bis zum Umzug zuständige Jobcenter anerkannt werden können, also ein Antrag auf Zusicherung beim zuständigen Jobcenter gestellt werden muss, bevor die Kosten – in der Regel durch Vertragsschluss – ausgelöst werden. Zudem kann die Qualifizierung als Unterkunftskosten bzw. Umzugskosten unterschiedliche Zuständigkeiten zur Folge haben: So ist für die Kosten der neuen Unterkunft an einen anderen Ort das Jobcenter zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich die neue Wohnung gelegen ist, während für Umzugskosten das Jobcenter am bisherigen Wohnort zuständig ist.

Das Bundessozialgericht hat nun entschieden, dass Doppelmieten als Unterkunftskosten angesehen werden können. Denn die Regelungen nach § 22 Abs. 1 und Abs. 6 SGB II stünden nicht in einem „Entweder-Oder-Verhältnis“. Dies dürfte so zu verstehen sein, dass Doppelmieten sowohl als Mietkosten als auch als Umzugskosten geltend gemacht werden können. Für Betroffene bedeutet dieses Urteil, dass doppelte Mietaufwendungen für eine neue Wohnung auch beantragt werden können, wenn zu deren Übernahme nicht vor Abschluss des neuen Mietvertrages die Zusicherung beantragt worden ist.

BSG, Urteil vom 30.10.2019, B 14 AS 2/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2019

Nachtrag: Aus der zwischenzeitlich vorliegenden Urteilsbegründung ergibt sich, dass eine Übernahme doppelter Mietaufwendung als Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur in Betracht kommt, wenn beide Unterkünfte tatsächlich genutzt werden. Das ist etwa der Fall, wenn die alte Wohnung noch bewohnt und die neue Wohnung vor einem Einzug noch renoviert werden muss. Die Übernahme der vertraglich noch geschuldeten Mietkosten einer nicht mehr oder noch nicht genutzten Wohnung kommt nach vorheriger Zusicherung bzw. vorherigem Antrag auf Zusicherungserteilung und rechtswidriger Ablehnung der Zusicherung nur als Umzugskosten nach § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II in Betracht.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Arbeitsplatzaufgabe im Ausland vor Rückzug nach Deutschland nicht sozialwidrig

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Gemäß § 34 SGB II ist derjenige, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für einen ALG-II-Anspruch ohne wichtigen Grund herbeiführt, zum Ersatz des deswegen gezahlten ALG II verpflichtet. In dem vom BSG entschiedenen Fall war eine Familie mit deutscher Staatsbürgerschaft unter Kündigung ihrer Arbeitsverhältnisse in Polen nach Deutschland gezogen. Das Jobcenter stellte mit sogenannten Grundlagenbescheiden fest, die Eheleute hätten durch die Aufgabe ihrer Arbeitsplätze zum Zwecke der Einreise nach Deutschland „sozialwidrig“ gehandelt und sie zum Ersatz des an sie ausgezahlten ALG II verpflichtet. Denn sie hätten sich von Polen aus um neue Arbeitsstellen in Deutschland bemühen können. Mit darauffolgenden sogenannten Leistungsbescheiden setzte das Jobcenter Ersatzansprüche in Höhe von rund 32.000 Euro gegen die Familie fest.

Hatte das SG die Klage der Familie gegen die Grundlagenbescheide noch abgewiesen, gab das LSG der Familie Recht: Ihr Verhalten sei vom Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG gedeckt. Das BSG bestätigte diese Entscheidung. Die Familie habe bereits nicht „sozialwidrig“ gehandelt. § 34 SGB II erfordere eine nach den Wertungen des SGB II besonders zu missbilligende Verhaltensweise. Eine solche liege nicht vor, wenn deutsche Staatsangehörige eine im Ausland ausgeübte Beschäftigung aufgeben und mit ihren Kindern nach Deutschland ziehen, ohne sich zuvor um eine Existenzgrundlage im Bundesgebiet bemüht zu haben.

(BSG, Urteil vom 29.08.2019, B 14 AS 50/18 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


80.000 Kinder waren Ende 2018 von Hartz-IV-Sanktionen betroffen

(c) Günter Havlena / pixelio.de

Wie aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums vom 13.11.2019 auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag hervorgeht, gab es im Dezember 2018 rund 123.600 Bedarfsgemeinschaften, in denen mindestens ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter mit mindestens einer Sanktion belegt war. Rund 79.900 minderjährige Kinder waren in ihrem Familien von den Sanktionen mit betroffen. Bei 5.300 minderjährigen Kindern war ein Elternteil voll sanktioniert, d.h. einer der Eltern bekam gar keine Regelleistungen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Beratungshilfe für die Vertretung in einem Mietsenkungsverfahren – manchmal

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 18.11.2019, Aktenzeichen 7 UR II 2226/19, hat das Amtsgericht Kiel in einem Richterbeschluss die nachträgliche Beratungshilfegewährung für die anwaltliche Beratung und Vertretung im Rahmen eines laufenden Mietsenkungsverfahren abgelehnt. Zur Begründung führt das Gericht aus, es fehle in diesen Fällen noch an einer rechtlichen Betroffenheit der Rechtsuchenden, weil eine „belastende Entscheidung“ der Behörde – in diesen Fällen der Bewilligungsbescheid, mit dem nur noch die abgesenkte Miete anerkannt wird – noch nicht vorliegt. Eine kostenbewusste Rechtsuchende hätte in dieser Situation die Entscheidung des Sozialleistungsträgers abgewartet, um sodann Widerspruch gegen die Entscheidung einzulegen und im Erfolgsfall ihre Kosten gegenüber dem Sozialleistungsträger geltend machen zu können, § 64 SGB X (so etwa BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012, 1 BvR 804/11, Rn. 13).

Diese Entscheidung verwundert, weil es in dem vorliegenden Fall (anders als in der vom AG Kiel zitierten Entscheidung BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.01.2012, 1 BvR 2852/11, wo zudem die Prüfung behördenseitig noch gar nicht abgeschlossen war) um relativ schwierige rechtliche Fragen gegangen ist, die ohne fachkundigen juristischen Rat von den Rechtsuchenden nicht hätten beantwortet werden können (siehe das hiesige Schreiben an das Jobcenter Kiel in den Kommentaren). Zudem verkennt das Gericht, dass anwaltliche Beratung auch in einem laufenden Mietsenkungsverfahren erforderlich sein kann, um später nicht mehr zu reparierende Fehler – etwa bei der Dokumentation von Suchbemühungen – zu vermeiden. Zudem ließe sich füglich darüber streiten, ob Beratungshilfe schon immer dann abgelehnt werden sollte, wenn deren Ablehnung gerade noch keine Grundrechtsverletzung ist (Grundrecht auf Rechtswahrnehmungsgleichheit, Art. 3 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) – und nichts anderes prüft das BVerfG ja.

Für die anwaltliche Praxis bedeutet diese Entscheidung, dass der Anwalt Rechtsuchenden in Mietsenkungsverfahren raten muss, bei dem zuständigen Amtsgericht vor dem Aufsuchen eines Rechtsanwalts einen Berechtigungsschein zu beantragen (§ 6 Abs. 1 BerHi). Wird dieser erteilt, was durchaus vorkommt, kann das Amtsgericht im Rahmen der Kostenfestsetzung später die Festsetzung von Beratungshilfe nicht mehr ablehnen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.5.2007, 8 W 169/07). Wird der Berechtigungsschein nicht erteilt, hat der Rechtsuchende die Wahl, entweder den Anwalt selbst zu bezahlen oder den Bewilligungsbescheid, mit dem nur noch die Mietobergrenze anerkannt wird, abzuwarten, und alsdann einen Anwalt aufzusuchen. Im Sinne einer vernünftigen Rechtspflege ist das alles nicht, aber offenbar so gewollt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Zu einer umstrittenen Frage im anwaltlichen Gebührenrecht gehört, ob die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG (hier bei Beratungshilfe nach Nr. 2508 (1) VV RVG) zur Entstehung gelangt, wenn die Behörde aufgrund anwaltlicher Tätigkeit einen zuvor abgelehnten Bescheid erlässt. Vielfach wird dies – mit nie überzeugenden Begründungen, siehe dazu meinen Kommentar in den Kommentaren mit der Begründung meiner Erinnerung im konkreten Fall – abgelehnt.

Das AG Kiel hat mit Beschluss vom 12.11.2019, 7 UR II 2126/17 nun entschieden, dass in diesen Fällen die Erledigungsgebühr festzusetzen ist. Zur Begründung führt das Gericht eher knapp aus:

Dem Bevollmächtigten steht die geltend gemachte Erledigungsgebühr zu. Nr. 1002 VV-RVG ist jedenfalls entsprechend anwendbar, da die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift, nämlich eine planwidrigen Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage, vor­liegen. Hierzu findet sich in der Kommentarliteratur (BeckOk RVG/Hofmann, 45. Ed. 1.12.2018, RVG W 1002 Rn. 10-8) Folgendes:

„Dennoch ist entgegen des Gesetzeswortlautes VV 1002 ergänzend auch auf die Fälle anwendbar, in denen es außerhalb des sonst üblichen Widerspruchsverfahrens gelingt, vor Einreichung der Klage die Behörde zur Aufhebung oder Änderung ihres Verwaltungsaktes zu bewegen.

VV 1002 soll iErg den Anwendungsbereich der Erfolgsgebühr des VV 1000 ergänzen, sodass auch dort, wo kein Vertrag geschlossen werden kann, für die Vermeidung eines Gerichtsverfahrens oder die Erledigung eines Gerichtsverfahrens de Belohnungsgebühr gezahlt werden kann. Daher muss hier ei­ne Auslegung erfolgen: dem Gesetzgeber kam es auf das Ergebnis der Erledigung ohne die Durchfüh­rung eines Gerichtsverfahrens an. Wenn dieses Ergebnis erreicht wird, soll umfassend eine Beloh­nungsgebühr anfallen.

Der Gesetzgeber hat, wie die beratenden Gremien zuvor, das Problem schlicht übersehen.“

Dem schließt sich das Gericht an. Der erkennbare Zweck der Honorierung in Form der Einigungs- und Erledigungsgebühren liegt in der vorgerichtlichen Klärung der Rechtsverhältnisse.

Um der Landeskasse die Möglichkeit zu geben, die Reichweite des Gebührentatbestandes der Nr. 1002 VV RVG zu klären, hat das Amtsgericht die Beschwerde zum Landgericht zugelassen. Mit Schriftsatz vom 21.11.2019 ist Landeskasse gegen den Beschluss des AG Kiel in die Beschwerde gegangen.

Nachtrag 29.01.2020: Das LG Kiel hat mit Beschluss vom 24.01.2020 zum Aktenzeichen 5 T 53/19 die Entscheidung des AK Kiel bestätigt, wonach für ein erfolgreiches Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 (1) VV RVG zur Entstehung gelangt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kostenfreiheit nach § 64 SGB X für die Beurkundung eines Erbauseinandersetzungsvertrages

Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X besteht für Geschäfte und Verhandlungen, die aus Anlass der Beantragung, Erbringung oder der Erstattung einer Sozialleistung nötig werden, Kostenfreiheit. Dies gilt auch für die im Gerichts- und Notarkostengesetz bestimmten Gerichtskosten. Von Beurkundungs- und Beglaubigungskosten bei einem Notar sind unter anderem Urkunden befreit, die im Sozialhilferecht, im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende, im Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, im Kinder- und Jugendhilferecht sowie im Recht der Kriegsopferfürsorge aus Anlass der Beantragung, Erbringung oder Erstattung einer nach dem SGB XII, dem SGB II und dem SGB IIX oder dem Bundesversorgungsgesetz vorgesehenen Leistung benötigt werden.

Zu dieser Vorschrift hat das LG Kiel, Beschluss vom 14.10.2019, 3 OH 65/18 entschieden:

1. „Benötigt“ im Sinne von § 64 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X wird eine Erbauseinandersetzungsurkunde dann, wenn ein Sozialleistungsträger seine Ansprüche aufgrund darlehensweise erbrachter Sozialleistungen nach § 91 SGB XII dinglich sichern will und hierfür zunächst eine Erbauseinandersetzung erforderlich ist, um nicht (auch) das Vermögen des Miterben zu belasten.

2. Der Betroffene kann nicht auf die Durchführung einer Erbauseinandersetzung nach §§ 2042 ff. i.V.m. 753 BGB durch eine Zwangsversteigerung verwiesen werden, weil durch den zu erwartenden erheblichen Zeitablauf die Regelung des § 91 SGB XII unterlaufen würde.

3. Die Regelung des § 64 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X befreit nur von Beurkundungs- und Beglaubigungskosten. Dem­nach können andere als die Beurkundungs- und Beglaubigungskosten, die nach dem Kostenver­zeichnis des GNotKG anfallen, vom Notar verlangt werden, so z.B. Vollzugskosten, Auslagen wie die Dokumentenpauschale und die Post- und Telekommunikationspauschale.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 74/2019 vom 5. November 2019

Urteil vom 05. November 2019
1 BvL 7/16

Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und  soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt. Den Rest des Beitrags lesen »


379 € vom Jobcenter für die Anschaffung eines Notebooks

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Erneut hat das SG Kiel einem Schüler Leistungen für die Anschaffung eines Computers nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II zugesprochen, diesmal in Höhe der geltend gemachten 379 €. In seinem Urteil setzt sich die 38. Kammer insbesondere mit der Frage auseinander, ob es es sich um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf handeln muss und kommt zu dem Schluss, dass dies nach der Rechtsprechung des BSG zur Kostenübernahme von Schulbüchern (BSG, Urteil vom 08.05.2019, B 14 AS 13/18 R) offenbar nicht der Fall ist, sondern der im Regelsatz unberücksichtigte Bedarf genügt.

SG Kiel, Urteil vom 25.10.2019, S 38 AS 348/18

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein grundsätzlich höherer Unterkunftsbedarf des umgangsberechtigten Elternteils

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Im Regelungsbereich des SGB II (Hartz IV) wird immer wieder darum gestritten, ob Eltern, die ihre Kinder zeitweise bei sich wohnen haben, deswegen einen Anspruch auf eine größere Wohnung haben.

In dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall bewohnte ein Leistungsberechtigter allein eine 70 qm großen Wohnung. Nach einer Kostensenkungsaufforderung bewilligte das beklagte Jobcenter dem Hartz IV Empfänger nur noch die Mietobergrenze für eine 50 qm große Wohnung. Hiergegen wehrte sich der Leistungsberechtigte mit der Begründung, dass er an jedem zweiten Wochenende seine 4 Jahre alte Tochter bei sich wohnen habe, die in seiner Wohnung über einen eigenen Wohnbereich verfügen müsse, damit sie sich bei ihm nicht lediglich als Besuch fühle.

Mit seinem Anliegen bliebt der Hartz IV Empfänger in allen Instanzen erfolglos. Denn bei der Ermittlung des konkreten Unterkunftsbedarfes sind trotz des durch Art. 6 Abs. 1, 2 GG geschützten Umgangsrechts von Eltern und Kindern nicht grundsätzlich höhere Unterkunftskosten oder Flächenbedarfe des umgangsberechtigten Elternteils anzuerkennen. Vielmehr ist stets eine Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung unter anderem der Häufigkeit und Dauer der Umgangsrechtswahrnehmung, des Alters des Kindes, der Lebenssituation und der Wohnverhältnisse des umgangsberechtigten Elternteils erforderlich. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war die Entscheidung der Vorinstanzen, das Umgangsrecht des alleinstehenden Vaters mit seiner damals vierjährigen Tochter werde auch in einer maximal 50 qm großen Wohnung ermöglicht, nicht zu beanstanden.

BSG, Urteil vom 29.08.2019, B 14 AS 43/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geld vom Jobcenter für die Anschaffung eines Computers – nur wie viel?

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Im Mai 2019 hatte ich in diesem Blog berichtet, dass das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (SH LSG) einem Schüler in seinem Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER Leistungen nach § 21 Abs. 6 SGB II für die Anschaffung eines internetfähigen Laptops einschließlich Software und Drucker in Höhe von 600,00 € zugesprochen hat.

Die 40. Kammer am SG Kiel hat in ihrem (rechtskräftigen) Beschluss vom 21.10.2019 zum Aktenzeichen S 40 AS 260/19 ER den Anspruch der dortigen 20jähigen Klägerin nach einer „vorgenommenen eigenen Internetrecherche“ nun auf 350,00 € bestimmt.

Betroffenen, die einen Anspruch auf Kosten für einen internetfähigen Rechner gerichtlich durchsetzen wollen, ist zu raten, den Betrag entweder in das Ermessen des Gerichts zu stellen oder Anschaffungskosten von über 750,- € (z.B. 751,- €) geltend zu machen, um in die Berufung bzw. Beschwerde zum SH LSG gehen zu können (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) – wo es dann wohl weiterhin 600,00 € geben dürfte.

Zu dem Beschluss der 40. Kammer ist für den aufmerksamen Leser anzumerken, dass es in diesem Verfahren weder einen „Antragsteller zu 2)“ gab noch die Antragstellerin im Alter zwischen 6 und 14 Jahren war (so dass der für Datenverarbeitungsgeräte und Software im Rahmen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes 2017 [RBEG 2017] für Erwachsene veranschlage Wert von 2,52 € monatlich vom Gericht zu benennen gewesen wäre, der sich dann auch nicht auf Seite 66, sondern auf Seite 44 der BT-Drucksache 18/9984 findet). Das Sozialgericht hat hier offenbar in weiten Teilen einfach die Entscheidung des SH LSG vom 11.01.2019 kopiert. Man lerne daraus: Es gibt nicht nur Copy-and-paste-Verwaltungsakte von Behörden, sondern auch Copy-and-paste-Beschlüsse von Gerichten.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II Antragstellung: Auch auf den letzten Drücker möglich!

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Ein Antrag auf ALG II (Hartz IV) wirkt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II grundsätzlich auf den ersten Tag in dem Monat zurück, in dem der Antrag gestellt wurde. Das bedeutet, dass ein ALG II-Antrag auch am letzten Tag des Monats bis 24.00 Uhr noch für den gesamten Monat gestellt werden kann. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Jobcenter am Tag des Antragseinganges die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hatte oder – etwa, weil der letzte Tag des Monats auf ein Wochenende fiel – erst am ersten Tag der Dienstbereitschaft im Folgemonat. Entscheidend ist, dass der Antrag in dem betreffenden Monat in den sog. „Macht- und Willensbereich“ des Jobcenters gelangt. Für den rechtzeitigen Zugang trägt im Regelfall der Antragsteller die Beweislast. Hat das Jobcenter den Zugang für eine Antragstellung per E-Mail eröffnet, kann der Antrag auch per E-Mail gestellt werden. In diesem Fall sollte die E-Mail, mit der der Antrag gestellt wurde, auf keinen Fall gelöscht werden. Zur Sicherheit sollte auch ein Bildschirmausdruck von der E-Mail aus dem Ordner „gesendete Objekte“ angefertigt und ausgedruckt werden. Für eine fristwahrende Antragstellung „auf den letzten Drücker“ eignet sich auch immer ein Telefax. Hier sollte in jedem Fall der vollständige Sendebericht mit der Seite des Antrages ausgedruckt werden. Auf keinen Fall sollte der Antrag in den Hausbriefkasten des Jobcenters eingeworfen werden. Denn dieser wird erst geleert, wenn die Behörde wieder Dienstbereitschaft hat. Regelmäßig wird als Eingangsdatum dann auch – frühestens – dieser Tag vermerkt und der Antragsteller kann einen früheren Zugang nicht nachweisen. Zudem geht bei den Jobcentern auch immer wieder Post ganz verloren.

BSG, Urteil vom 12.07.2019, B 14 AS 51/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sperrzeit beim ALG I nach Arbeitsaufgabe wegen Umzugs

Schleswig-Holsteinisches LSG

Wer sein Beschäftigungsverhältnis kündigt, hat dafür in aller Regel irgendeinen Grund – sei es eine Erkrankung, die Unzumutbarkeit der Tätigkeit, Unzufriedenheit mit dem Arbeitgeber, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten, den Umzug zum Lebenspartner oder irgendeine andere Veränderung. Liegt für die Lösung des Arbeitsverhältnisses kein „wichtiger Grund“ im Sinne der Rechtsprechung vor, führt diese zu einer „Sperrzeit“ von in der Regel 3 Monaten, in der die Bundesagentur für Arbeit kein ALG I zahlt.

Wer sein Arbeitsverhältnis kündigt, weil er den gemeinsamen Wohnsitz mit seinem Ehepartner an einen anderen Ort verlegt, löst eine Sperrzeit nach § 159 SGB III aus. Die vermieterseitige Kündigung der bisherigen Wohnung reicht für die Annahme eines „wichtigen Grundes“ für die Arbeitsaufgabe nicht aus. Die Sperrzeit dient dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor einer Manipulation des versicherten Risikos der Arbeitslosigkeit. Nicht versichert ist demgegenüber das Risiko der Wohnungslosigkeit, der Vermeidung von Doppelumzügen, Doppelmieten und gegebenenfalls Einlagerungskosten. Ein gewünschter Ortswechsel kann nur Ausnahmsweise als „wichtiger Grund“ anerkannt werden, etwa um mit dem Lebenspartner zusammen zu ziehen, der außerhalb des zumutbaren Pendelbereiches lebt. In vorliegendem Fall hätte es allenfalls einen wichtigen Grund darstellen können, wenn die Klägerin unverschuldet wohnungslos geworden und objektiv kein Wohnraum in zumutbarer Pendelzeit anmietbar gewesen wäre.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 15.02.2019, L 3 AL 5/17

Erstveröffentlichung in HEMPELS 8/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Aus Erbschaft kann Vermögen werden

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Bezieht ein Erbe zum Zeitpunkt des Erbfalles Leistungen nach dem SGB II, fließen ihm die Mittel aus der Erbschaft aber erst nach einer Unterbrechung der Hilfebedürftigkeit (hier durch Bezug von Arbeitslosengeld I und Wohngeld ) während eines erneuten Leistungsbezuges zu, so ist der aus der Erbschaft zufließende Betrag nicht als Einkommen, sondern als Vermögen anzusehen.

Im Regelungsbereich des SGB II (Hartz IV) wird als Einkommen berücksichtigt, was jemand im laufenden ALG II-Bezug wertmäßig dazu erhält. Vermögen ist demgegenüber all das, was er vor der ALG II-Antragstellung bereits hatte. Beim Vermögen gelten Freigrenzen, während Einkommen aus Erbschaften als einmalige Einnahme voll auf den Leistungsanspruch anzurechnen ist.

In dem vom BSG entschiedenen Fall hatten ALG II-Bezieher im Juni 2009 ein Haus geerbt. Von Oktober 2009 bis November 2010 lebten sie sodann von ALG I und Wohngeld. Ab November 2010 mussten sie wieder ALG II beantragen. Im Februar 2012 flossen ihnen dann aus dem Verkauf des geerbten Grundstückes als Miterben 5.330 € zu. Diese 5.330 € waren nicht auf den ALG II Anspruch anzurechnen. Denn das Erbe war als Vermögen – wenn auch nicht als „bare Mittel“, also Geld – bereits seit Juni 2009 und damit vor Beginn des erneuten Leistungsbezuges im November 2010 vorhanden. Da der Betrag von 5.330 € innerhalb ihrer individuellen Vermögensfreigrenze lag, mussten die ALG II-Bezieher auch nicht einen Teil ihres Erbes zunächst verbrauchen, um erneut ALG II zu erhalten.

BSG, Urteil vom 08.05.2019, B 14 AS 15/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV für den Monat der Heizölbestellung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Auch Menschen, die keine laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Hartz IV) beziehen, können für den Monat ihrer Heizmaterialbestellung einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für ihre Heizkosten haben.

Geklagt hatte eine fünfköpfige Familie, die ein Eigenheim bewohnt und von zwei Einkommen sowie Kindergeld lebt. Im September 2013 kauften sie Briketts und Heizöl für nicht ganz 1.400 € und beantragten beim Jobcenter einen Heizkostenzuschuss. Das beklagte Jobcenter lehnte den Antrag ab, weil der Betrag aus eigenen Mitteln bestritten werden könne, wenn er auf ein Jahr umgelegt werde.

Das Sozialgericht verurteilte das Jobcenter, der Familie für den Monat September 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von circa 1.000 € zu zahlen, weil der Bedarf in diesem Monat angefallen und zu befriedigen, ihm jedoch das zu berücksichtigende Einkommen gegenüber zu stellen sei. Das Bundessozialgericht hat dieser Entscheidung nun letztinstanzlich bestätigt.

Als Bedarf der Familie war für den Monat September 2013 auch das von ihnen in diesem Monat gekaufte Heizmaterial anzuerkennen, selbst wenn es nicht nur für diesen Monat bestimmt war. Denn prägend für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist die Ermittlung der Bedarfe und des zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens im jeweiligen Kalendermonat. Eine Abweichung von diesem Monatsprinzip enthält das SGB II zwar etwa für Instandhaltungsaufwendungen bei selbstgenutztem Wohneigentum (§ 22 Abs. 2 SGB II). Eine Rechtsgrundlage für die Verteilung eines in einem bestimmten Monat anfallenden Bedarfs für Heizmaterial, das für einen längeren Zeitraum gekauft worden ist, enthält das SGB II indessen nicht.

(BSG, Urteil vom 08.05.2019, B 14 AS 20/18 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 6/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Leitfaden ALG II / Sozialhilfe von A – Z

Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z / 30. Auflage des Nachschlagewerks für Leistungsbeziehende, Berater/-innen und Mitarbeiter/-innen in sozialen Berufen
Rechtsstand: Januar 2019 

Die 30. Auflage des bekannten „Standardwerks für Arbeitslosengeld II-Empfänger“ (Spiegel 43/2005) ist  im Februar 2019 erschienen. Der Leitfaden wird vom Autorenteam rund um Harald Thomé vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. in Wuppertal herausgegeben. Der Verein Tacheles hat das Ratgeberprojekt für Leistungsbeziehende, Berater/-innen und Mitarbeiter/-innen in sozialen Berufen aufgrund der Pensionierung von Prof. Rainer Roth von der AG TuWas übernommen.

Der Ratgeber beruht auf vielen Jahren Beratungs- und Schulungspraxis und einem bewährten Konzept, das im Laufe von 38 Jahren „Leitfadenarbeit“ entwickelt wurde.

Er stellt zugleich mit den Regelungen des Arbeitslosengelds II auch die Regelungen der Sozialhilfe und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung dar. Als einziger umfassender Ratgeber für das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und das SGB XII (Sozialhilfe) ist er deswegen für Beratungszwecke und als Nachschlagewerk sowohl für Rechtsanwender als auch für Laien besonders geeignet.

Im ersten Teil werden in 91 Stichworten alle Leistungen ausführlich in übersichtlicher und bewährt verständlicher Form erläutert. Der zweite Teil behandelt in 34 Stichworten, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen und sich erfolgreich gegen die Behörde wehren können.

Die Rechtsprechung und Gesetzgebung sind mit Stand vom Anfang Januar 2019 eingearbeitet und kritisch kommentiert. Auch der Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, ihre sozialen und wirtschaftlichen Ursachen und die Zielsetzung aktueller Sozialgesetzgebung fehlt nicht.

Die Autoren wollen mit diesem Leitfaden BezieherInnen von Sozialleistungen dazu ermutigen, ihre Rechte offensiv durchzusetzen und sich gegen die fortschreitende Entrechtung und die Zumutungen der Alg II-Behörden zu wehren. Sie wollen dazu beitragen, dass sie bei SozialberaterInnen, MitarbeiterInnen der Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Anwältinnen und Anwälten fachliche und parteiische Unterstützung für die rechtliche Gegenwehr erhalten, die dringend benötigt wird. Die Autoren um Thomé empfehlen Erwerbslosen, sich lokal zu organisieren und gemeinsam ihre Interessen zu vertreten. Um dem zunehmenden Abbau der sozialen Sicherung und der damit einhergehenden Ausweitung von Niedriglohn und schlechten Arbeitsbedingungen zu begegnen, treten sie dafür ein, dass solidarische Bündnisse zwischen Erwerbslosen, Beschäftigten und anderen vom Sozialabbau betroffenen Gruppen geschmiedet werden, die dem Sozialabbau und Lohndumping den Kampf ansagen.

Die Autoren üben detaillierte Kritik an der Höhe des Existenzminimums oder der rechtswidrigen Ausdehnung von Unterhaltsverpflichtungen. Sie decken die leeren Versprechungen der Politik auf, die vorgeben, die Verschärfung des Sozialrechts würde Langzeitarbeitslosen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschaffen.

Gerade weil sich die Behörden immer rigider über geltendes Recht hinwegsetzen, ist dieser Leitfaden nötiger denn je.

Versand des neuen Leitfaden ab März 2019

Autorinnen und Autoren vom Leitfaden 2019:

Matthias Butenob, LAG Schuldnerberatung Hamburg e.V. u. Rechtsanwalt, Hamburg
Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin, Berlin
Volker Gerloff, Rechtsanwalt, Berlin
Helge Hildebrandt, Rechtsanwalt, Kiel
Annette Höpfner, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Sozialrecht, Halle
Frank Jäger, Tacheles e.V. und Dozent für Sozialrecht, Wuppertal
Lars Johann, Rechtsanwalt,  Fachanwalt für Sozialrecht, Wuppertal
Uwe Klerks, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozial- und Versicherungsrecht,  Duisburg
Claudia Mehlhorn, Dozentin für Krankenversicherungsrecht, Berlin
Volker Mundt, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozialrecht, Berlin
Sylvia Pfeiffer, Dozentin für Sozialrecht, Berlin
Joachim Schaller, Rechtsanwalt Hamburg
Sven Schumann, Rechtsanwalt, Stein bei Nürnberg
Harald Thomé, Tacheles e.V. und Dozent für Sozialrecht, Wuppertal
Claudius Voigt, Sozialarbeiter, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA Flüchtlingshilfe), Münster

Leitfaden Alg II / Sozialhilfe von A-Z

Herausgeber:  Harald Thomé
Umfang:         ca. 800 Seiten
Stand:            30. Auflage, Januar 2019
ISBN:             978-3-932246-67-8
Preis:             16,50 €  inkl. Versand innerhalb Deutschlands

Bestellung:

online:      www.dvs-buch.de
per Fax:    069 / 74 01 69
per Brief:   DVS, Schumannstr. 51, 60325 Frankfurt

Der Leitfaden Alg II / Sozialhilfe von A-Z kann auch vor Ort im
Café Tacheles, Rudolfstraße 125, 42285 Wuppertal (Unterbarmen)
bezogen werden.

Meine – auch persönlichen – Anmerkungen zur 28. Auflage 2015 finden sich hier.


Anspruch behinderter Studierender auf Zuschuss zur Miete

(c) Thommy Weiss / pixelio.de

Behinderte Studierende, die wegen des Bezugs von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) keinen Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) oder Sozialhilfe (SGB XII) haben, können zuschussweise Eingliederungshilfeleistungen zur Deckung laufender Unterkunftskosten als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhalten.

Die Klägerin ist wesentlich körperlich behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie lebt in einer behindertengerecht ausgestatteten Wohnung außerhalb ihres Elternhauses. Für die Dauer ihres Hochschulstudiums erhielt sie BAföG, das unter anderem anteilige Unterkunftskosten in Höhe von 224 € umfasste. Ihren Antrag auf zuschussweise Übernahme der Differenz zu ihren tatsächlichen Unterkunftskosten lehnte zunächst das beigeladene Jobcenter und für Folgezeiträume der beklagte Sozialhilfeträger ab. Ihre hiergegen gerichtete Klage ist vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht ohne Erfolg geblieben. Das Bundessozialgericht (BSG) gab der Studentin schließlich Recht.

Zwar war dem BSG eine abschließende Entscheidung wegen der fehlenden Beiladung der Bundesagentur für Arbeit als zuständig gewordenem Rehabilitationsträger nicht möglich. Das BSG hat aber darauf hingewiesen, dass eine Wohnung nicht nur dem Schutz vor Witterungseinflüssen und der Sicherung des „Grundbedürfnisses des Wohnens“ dient, sondern grundsätzlich auch der sozialen Teilhabe, weil so eine gesellschaftliche Ausgrenzung vermieden wird. Verbleibt ein nicht gedeckter Unterkunftsbedarf, weil allein behinderungsbedingt weitere Kosten für Wohnbedarf entstehen, sind diese zur Sicherstellung einer gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen zu erbringen. Der Anspruch besteht in Höhe der Differenz zwischen den nach dem SGB II und SGB XII (abstrakt) „angemessenen“ Kosten der Unterkunft (sog. Mietobergrenzen) und den behinderungsbedingt konkret angemessenen Kosten.

(BSG, Urteil vom 04.04.2019, B 8 SO 12/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Selbstzerstörung der CDU

Wenn die Vorsitzende der größten Partei Deutschlands (CDU) wissentlich die Unwahrheit über einen Youtuber verbreitet, also die Öffentlichkeit belügt, sollten auch Blogger dazu nicht schweigen – selbst wenn ein Beitrag dazu thematisch eigentlich gar nicht in ihren Blog passt. Die Parteivorsitzende der CDU hat auf ihrem Twitter-Account behauptet:

Wenn einflussreiche Journalisten oder #Youtuber zum Nichtwählen oder gar zur Zerstörung demokratischer Parteien der Mitte aufrufen, ist das eine Frage der politischen Kultur. Es sind gerade die Parteien der Mitte, die demokratische Werte jeden Tag verteidigen. #Rezo

— A. Kramp-Karrenbauer (@akk) 27. Mai 2019

Tatsächlich hat der Youtuber Rezo keinesfalls zur Zerstörung der CDU oder einer anderen „demokratischern Partei der Mitte“ aufgerufen, sondern der CDU ihre Selbstzerstörung attestiert (ab 1:16 min), und zwar in „klaren, deutschen Hauptsätzen“ (um mal ein Bonmot des amtierenden EU-Kommissionspräsidenten aufzugreifen), von denen angenommen werden sollte, dass sie sogar die CDU-Parteivorsitzende versteht:

„Das wird diesmal wirklich ein Zerstörungsvideo. Nicht, weil ich aktiv versuche, jemanden zu zerstören, sondern weil die Fakten und Tatsachen einfach dafür sprechen, dass die CDU sich selbst, ihren Ruf und ihr Wahlergebnis, damit selbst zerstört.“

Und auch zum Nichtwählen wird in dem Video von Rezo nicht aufgerufen, wie die Parteivorsitzende der CDU behauptet. Ab 52:42 folgt vielmehr ein Appell, an der EU-Wahl teilzunehmen:

„Welche Partei man dafür am besten wählt, kann ich nicht beantworten, will ich nicht beantworten. Diese Initiative [gemeint ist die BPK der „Scientists for Future“ zu den Protesten für mehr Klimaschutz vom 12. März 2019] hat gesagt, dass am ehesten noch Grüne und Linke eine Option ist, aber selbst die müssen noch viel krasser in ihren Forderungen werden […] Aber eins kann ich beantworten: Wählt man CDU, CSU oder SPD, gibt es keinen Grund für irgendwen, was zu verändern. Wählt man die AfD, trägt man sogar noch mehr zur Zerstörung unseres Planten bei […]“

Da sich das Rezo-Video bei youtube mittlerweile – warum auch immer – an 45. Stelle nach allein 16 voranstehenden Youtube-Beiträgen der konservativen WELT findet, verlinke ich es mal hier:

Als Leser mehrerer sog. Qualitätszeitschriften erlaube ich mir mal das Urteil: So gut mit Quellen belegt wie dieses Video ist keine einziger Bericht in einer deutschen Tages- oder Wochenzeitung. Ich erinnere mich als Abonnent etwa der ZEIT nicht, dort jemals einen Quellennachweis oder gar einen Fußnotensatz gefunden zu haben. Die sog. Qualitätsjournalisten wären also gut beraten, den Ball ganz flach zu halten und sich weniger herablassend zu den Meinungsäußerungen eines 26jährigen Youtubers zu äußern.

Guter Beitrag zum Thema: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/akk-rezo-101.html?utm_source=pocket-newtab

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


AG Kiel: In Beratungshilfeangelegenheiten muss Termin vereinbart werden

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Seit dem 02.05.2019 muss beim Amtsgericht Kiel in Beratungshilfeangelegenheiten vorab telefonisch ein Termin vereinbart werden. Der Berechtigungsschein wird nach wie vor im Termin direkt mitgegeben. Der Termin ist beim Servicepoint unter der Durchwahl 604 – 2001 oder 604 – 2005 zu vereinbaren (Link zur Info). Als Grund für diese Änderung nennt das Amtsgericht die gestiegene Anfrage nach Berechtigungsscheinen für die anwaltliche Beratung und/oder Vertretung durch Bürger mit geringem Einkommen.

Zum vereinbarten Termin sind folgende Unterlagen mitzubringen (Link zur Info):

1. Vollständig ausgefüllter und vom Antragsteller persönlich unterschriebener Antragsvordruck „Antrag auf Bewilligung von Beratungshilfe“ (Das Antragsformular kann hier heruntergeladen werden). Alternativ ist das Antragsformular auch am Servicepoint des Amtsgerichts erhältlich. Bitte planen Sie zum Ausfüllen des Formulars vor Ort genügend Zeit ein, andernfalls kann der vergebene Termin nicht eingehalten werden.

2. Gültiges amtliches Ausweisdokument (z.B. Personalausweis oder Reisepass)

3. Unterlagen/Schriftverkehr, aus denen sich die Angelegenheit ergibt, für die Beratungshilfe beantragt wird (Schriftwechsel etc.).

4. Belege über aktuelles, laufendes Einkommen (Lohnabrechnungen, Renten- oder sonstige Bescheide, Mieteinnahmen, Kindergeld, Bafög, Unterhaltszahlungen, Arbeitslosengeldbescheid, Wohngeldbescheid).

5. Zahlungsbelege/Kontoauszüge oder Online-Banking auf Ihrem Mobiltelefon zu laufenden Ausgaben (Miete, Nebenkosten, Heizkosten, Versicherungen, Zahlungsverpflichtungen etc.) Bitte Kontoauszüge oder Online-Banking der letzten 6 Wochen vorlegen!

6. Unterlagen, aus denen sich der Wert vorhandener Vermögenswerte ergibt (Sparbuch, Lebensversicherung etc.).

7. Ggf. eine Vollmacht, falls ein Dritter den Antrag stellt (Der Gegenstand der Vollmacht ist zu bezeichnen und vom Vollmachtgeber zu unterzeichnen und mit Datum zu versehen). Bitte beachten Sie, dass der Antragsvordruck für die Bewilligung von Beratungshilfe trotz Bevollmächtigung von dem Antragsteller persönlich zu unterzeichnen ist!

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Kosten für Schulbücher tragen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Die Kosten für Schulbücher sind vom Jobcenter als Härtefall-Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II zu übernehmen, wenn Schüler mangels Lernmittelfreiheit ihre Schulbücher selbst kaufen müssen.

Die Kosten für Schulbücher sind zwar dem Grunde nach vom Regelbedarf erfasst, nicht aber in der richtigen Höhe, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht. Denn der Ermittlung des Regelbedarfs liegt eine bundesweite Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zugrunde. Deren Ergebnis für Schulbücher ist folglich nicht auf Schüler übertragbar, für die anders als in den meisten Bundesländern keine Lernmittelfreiheit in der Oberstufe gilt (BSG, Urteile vom 08.05.2019, B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R – 180 € bzw. 200 € Kosten für Schulbücher im Schuljahr).

Was bedeutet die Entscheidung für Leistungsberechtigte in Schleswig-Holstein?

Zwar gibt es in Schleswig-Holstein wie in sieben weiteren Bundesländern bereits Lernmittelfreiheit. Diese umfasst in Schleswig-Holstein aber lediglich die Gegenstände, die ausschließlich im Unterricht eingesetzt werden. Konkret regelt § 13 des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes:

(1) Schülerinnen und Schüler erhalten unentgeltlich, in der Regel leihweise,

  1. Schulbücher,
  2. Gegenstände, die ausschließlich im Unterricht eingesetzt werden und in der Schule verbleiben,
  3. zur Unfallverhütung vorgesehene Schutzkleidung.

(2) Schulbücher sind alle Bücher und Druckschriften, die überwiegend im Unterricht und bei der häuslichen Vor- und Nachbereitung des Unterrichts durch Schülerinnen und Schüler verwendet werden. Nicht zur Verfügung gestellt werden müssen Bücher und Druckschriften, die zwar im Unterricht eingesetzt werden, daneben aber erhebliche Bedeutung für den persönlichen Gebrauch haben können.

(3) Von der Schülerin und vom Schüler können Kostenbeiträge verlangt werden für

  1. Sachen, die im Unterricht bestimmter Fächer verarbeitet werden und danach von der Schülerin und vom Schüler verbraucht werden oder ihnen verbleiben,

  2. Verpflegung in der Schule.

Damit fallen etwa Taschenrechner, Computer, Atlanten, Literatur für den Deutschunterricht, Hefte und Schreibmaterial in Schleswig-Holstein nicht unter die Lernmittelfreiheit.

Für welchen Schulbedarf kann in Schleswig-Holstein ein Mehrbedarfsantrag gestellt werden?

Ein Antrag kann z.B. gestellt werden für die Anschaffung eines Computers (vgl. dazu Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER), Atlanten und Literatur für den Deutschunterricht sowie für Schulbücher, die eine Schule trotz Lernmittelfreiheit tatsächlich nicht zur Verfügung stellt und die deswegen von den Schülern gekauft werden müssen. Ein Antrag ist auch möglich, wenn eine Schule etwa einen höheren Kostenbeitrag für Materialien für den Werkunterricht fordert (vgl. § 13 Abs. 3 Nr. 1 SchulG SH).

Ein Mehrbedarfsantrag wird demgegenüber keinen Erfolg haben bei Schulmaterial, das aus dem Schulbedarf nach § 28 Abs. 3 Satz 1 SGB II (insgesamt 100 € im Jahr) angeschafft werden soll. Hierzu gehören nach BT-Drucks. 17/3404, Seite 105 „neben Schulranzen, Schulrucksack und Sportzeug insbesondere die für den persönlichen Ge- und Verbrauch bestimmten Schreib-, Rechen und Zeichenmaterialien (Füller, Kugelschreiber, Blei- und Malstifte, Taschenrechner, Geodreieck, Hefte und Mappen, Tinte, Radiergummis, Bastelmaterial, Knetmasse)“.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geld vom Jobcenter für die Anschaffung eines Computers

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Schüler im Leistungsbezug nach dem SGB II haben unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch gegenüber ihrem Jobcenter auf Gewährung eines einmaligen Mehrbedarfes für die Anschaffung eines Computers aus § 21 Abs. 6 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit ein im Einzelfall unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht.

Die Anschaffung eines Computers – hier eines Laptops – war „unabweisbar“, weil dieser ausweislich einer entsprechenden Schulbescheinigung von dem Antragsteller, der in die 8. Klasse geht, für Recherchen und das Anfertigen von Texten im Unterricht benötigt wird sowie die Präsentation mittels Laptops sogar fester Bestandteil der Schulabschlussprüfung ist. Die Anschaffungskosten konnten auch nicht durch die Zuwendung Dritter gedeckt oder durch Ansparungen aus dem Regelsatz bestritten werden, da für PC und Software nur 2,28 € im Monat im Regelsatz von Kindern zwischen 6 und 14 Jahren berücksichtigt sind. Auch ein Ratenkauf hat das Gericht ausgeschlossen, da ein solcher – vorliegend auch wegen weiterer Abzahlungsverpflichtungen – zu einer Unterschreitung des Existenzminimums geführt hätte. Der Laptop war auch nicht aus der Schulbedarfspauschale finanzierbar. Seine Anschaffung stellte zuletzt auch einen „laufenden Bedarf“, da er über einen längeren Zeitraum benötigt wird, auch wenn die Kosten nur einmalig beim Kauf entstehen. Die maximalen anerkennungsfähigen Anschaffungskosten hat das Gericht mit 600,00 € bestimmt.

(Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter Kreis Rendsburg-Eckernförde: Urteilsumsetzung erst nach Vollstreckung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Von Leistungsberechtigten nach dem SGB II werden – gelegentlich unter knappster Fristsetzung und Androhung der vollständigen Leistungseinstellung – Mitwirkungshandlungen verlangt. Die Jobcenter hingegen lassen sich – was ihre „Mitwirkungspflichten“ anbelangt – gern sehr lange Zeit. So lange, dass selbst aus Urteilen, die nach eigenem Rechtsmittelverzicht ergangen sind, vollstreckt werden muss, um die Jobcenter zu einem Tätigwerden zu bewegen. So geschehen jüngst beim Jobcenter Rendsburg-Eckernförde.

Am 11.07.2018 wurde das Jobcenter in drei Verfahren zu höheren Leistungen für die Unterkunft verurteilt. Ende August 2018 erklärte das Jobcenter in Parallelverfahren vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht einen Rechtsmittelverzicht hinsichtlich dieser Urteile. Am 28.09.2018 wurden die Urteile mit Urteilsgründen zugestellt. Mit anwaltlichen Schreiben vom 11.10.2018 und 05.11.2018 wurde das Jobcenter unter Ankündigung der Zwangsvollstreckung zur Umsetzung der Urteile aufgefordert. Das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde erachtete es rund 2 Monate lang nicht für nötig, auf die anwaltlichen Schreiben auch nur zu reagieren, so dass am 20.11.2018 die Vollstreckung eingeleitet werden musste. Die Kosten auch für die Vollstreckungsverfahren trägt nun das Jobcenter (SG Schleswig, Beschluss vom 05.04.2019, S 1 SF 41/19 AS usw.).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt   


Haftungsbeschränkung Minderjähriger auch bei Eintritt der Volljährigkeit im Klageverfahren

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Ein junger Volljähriger muss Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), welche er als Minderjähriger zu Unrecht erhalten hat, nur bis zur Höhe des bei Eintritt seiner Volljährigkeit vorhandenen Vermögens an das Jobcenter erstatten. Diese Regelung findet sich in § 1629a BGB, die verhindern soll, dass Kinder mit Schulden, die ihre Eltern verursacht haben, in die Volljährigkeit starten.

Das Bundessozialgericht hat nun entschieden, dass junge Volljährige sich auf die Beschränkung der Minderjährigenhaftung auch dann berufen können, wenn sie erst im Laufe eines Gerichtsverfahrens gegen den Erstattungsbescheid volljährig geworden sind. Minderjährigen, die in nächster Zeit volljährig werden, ist deswegen zur raten, den an sie gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden auch dann zu widersprechen, wenn diese „an sich“ gerechtfertig sind. Denn werden sie im sich anschließenden Widerspruchs- oder Klageverfahren volljährig, können sie sich auf ihre beschränkte Haftung berufen.

Weiter hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die Haftungsbeschränkung kein Verschulden der Eltern voraussetzt. Deswegen gilt die Haftungsbeschränkung auch bei einer abschließenden Leistungsfestsetzung, bei der die Erstattungsforderung nicht auf einem schuldhaften Verhalten der Eltern beruht, sondern auf einer abschließenden Entscheidung nach einer vorläufigen Bewilligung wegen der Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens.

(Bundessozialgericht, Urteile vom 28.11.2018, B 4 AS 43/17 R und B 14 AS 34/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


(Wieder) Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2019

Das gewohnt unprofessionelle Agieren der Landeshauptstadt Kiel bei der Bestimmung neuer Mietobergrenzen setzt sich auch im Jahre 2019 fort. Hatte die Stadt Kiel durch Stadtrat Gerwin Stöcken noch am 24.01.2019 in einer geschäftlichen Mitteilung im Ausschuss für Soziales, Wohnen und Gesundheit (vorläufig) neue Mietobergrenzen bekannt gegeben, welche angeblich „ab Januar 2019 in der Sozialverwaltung und im Jobcenter umgesetzt“ würden (Geschäftliche Mitteilung vom 24.01.2019, Drucks. 0020/2019), werden nunmehr in der Beschlussvorlage Drs. 0153/2019, die dem Sozialausschuss am 28.02.2019 und der Ratsversammlung am 21.03.2019 zur Entscheidung vorgelegt werden soll, wiederum neue Höchstgrenzen (bruttokalt) genannt, welche ebenfalls ab dem 01.01.2019 gelten sollen:

Personen im Haushalt Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenze in Euro
1-Personenhaushalt < 50 374,50
2-Personenhaushalt > 50 – < 60 421,50
3-Personenhaushalt > 60 – < 75 553,00
4-Personenhaushalt > 75 – < 85 665,50
5-Personenhaushalt > 85 – < 95 755,00
6-Personenhaushalt > 95 – < 105 831,50
7-Personenhaushalt > 105 – < 115 908,00
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 76,50

Selbst der geneigte Beobachter fragt sich, ob im Derzernat IV nur noch gewürfelt wird.

Das Jobcenter Kiel weist im Übrigen auf seiner aktuelle Homepage bis heute (Stand 25.02.2019) noch die alten Mietobergrenzen aus (ganz nach unten scrollen).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Zur Erhöhungsgebühr bei der Vertretung von Bedarfsgemeinschaften im SGB II

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Die Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG ist auch im Bereich der Beratungshilfe anzuwenden.

Vertritt ein Rechtsanwalt mehrere Mitglieder einer SGB II-Bedarfsgemeinschaft, die alle – hier von einer Kürzung der Unterkunftskosten – betroffen und damit beschwert sind, kommt die Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG zur Entstehung.

Dies gilt auch, wenn nur ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Beratungshilfe beantragt und nur diesem durch die Ausstellung eines Berechtigungsscheines Beratungshilfe bewilligt worden ist. Denn der Antragsteller kann sich in diesen Fällen von einem Anwalt nicht sinnvoll in einer Weise vertreten lassen, die nicht zugleich eine Vertretung der Interessen seiner Familienangehörigen mit umfasst. Unter diesen Umständen kann es keine Rolle spielen, dass die weiteren Familienmitglieder, die der Antragsteller mit vertreten hat, keinen eigenen Beratungshilfeanspruch geltend gemacht haben. Es ist zudem auch sachgerecht, dass in Fällen wie diesem nur ein Beratungshilfeantrag gestellt wird, da die Stellung etwa einzelner Beratungshilfeanträge für jedes Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft als mutwillig im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHiG anzusehen wäre, weil dadurch höhere Kosten als erforderlich verursacht würden (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 08.02.2012, 1 BvR 1120/11).

Landgericht Kiel, Beschluss vom 05.07.2018, 7 T 8/18

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Keine Vertretungsgebühr, wenn der Widerspruch vom Anwalt nicht begründet wird

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Beratungshilfe ist auch im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens für die Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht „erforderlich“ im Sinne von § 2 Abs. 1 BerHG, wenn der Rechtsanwalt den Widerspruch lediglich erhebt, anschließend aber nicht begründet. Denn einen unbegründeten Widerspruch kann ein Rechtsuchender auch ohne anwaltliche Hilfe einlegen.

Landgericht Kiel, Beschluss vom 02.07.2018, 7 T 12/18

Anmerkung: Offenbar lassen die Amtsgericht in Schleswig-Holstein jetzt vermehrt die Beschwerde gegen ihre Beschlüsse in Beratungshilfesachen wegen „grundsätzlicher Bedeutung“ zu (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG). Das ist im Interesse einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung in Beratungshilfesachen ausdrücklich zu begrüßen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Betriebskostennachforderungen sind vom Jobcenter unbefristet zu übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Es schmeckt schon nach selektiver Rechtsanwendung vom feinsten: Ein ALG II-Bezieher wird im Jahr 2018 vom Jobcenter Kiel aufgefordert, seine Betriebskostenabrechnungen für die Jahre 2015 und 2016 zu übersenden. Die Abrechnung für 2015 schließt mit einer Nachforderung, jene für das Jahr 2016 mit einem Guthaben. Das Guthaben fordert das Jobcenter Kiel von seinem Kunden zurück, die Übernahme der Nachforderung wird indessen mit dem Hinweis abgelehnt, der „Antrag“ auf Übernahme der Nachzahlung sei als Überprüfungsantrag gemäß § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 SGB X zu werten, der aufgrund des Ablaufs der Überprüfungsfrist von einem Jahr abzulehnen sei.

Derartige Ablehnungen sind klar rechtswidrig. Bei der Einreichung einer Betriebskostenabrechnung, die mit einer Nachzahlung schließt, handelt es sich bereits um keinen Überprüfungsantrag. Anspruchsgrundlage für die Übernahme ist vielmehr § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III (vgl. etwa BSG, Urteil vom 06.04.2011, B 4 AS 12/10 R).

Zudem ist im Sinne des Meistbegünstigungsgrundsatzes davon auszugehen, dass ein bereits gestellter Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts all diejenigen Leistungen umfasst, die nach Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommen (BSG, Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 75/08 R, Rn. 11: sog. „Türöffner-Funktion“ des Antrages). Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasste deswegen auch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Eine sachliche und zeitliche Konkretisierung der von der Antragstellung umfassten Bedarfe kann deswegen auch zu einem späteren Zeitpunkt insbesondere dann vorgenommen werden, wenn sich weitere Bedarfe erst während des laufenden Leistungsbezugs ergeben, also etwa eine Heiz- oder Betriebskostennachforderung erst nach Antragstellung fällig wird. Mit der Vorlage einer Heiz- und Betriebskostennachforderung  wird die Höhe des unterkunftsbezogenen Bedarfs insofern lediglich weiter konkretisiert, jedoch keine zusätzliche, vom Antrag nicht erfasste Leistung beantragt. Nachforderungen sind deswegen grundsätzlich unbefristet zu übernehmen (grundlegend BSG, Urteil vom 22.03.2010, B 4 AS 62/09 R).

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Nichtanrechnung weitergeleiteten Kindergeldes

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leitet ein Elternteil Kindergeld zeitnah an das nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Kind weiter, ist dieses bei dem weiterleitenden Elternteil nicht auf den ALG II-Anspruch anzurechnen, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 8 ALG II-VO.

Der Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 8 der ALG II-VO trifft keine Aussage darüber, bis wann das Kindergeld weitergeleitet worden sein muss. Eine Anrechnung scheidet jedenfalls bei zeitnaher Weiterleitung aus.

Die Weiterleitung muss nicht noch im Monat der Überweisung durch die Familienkasse, also im Zuflussmonat, erfolgen.

Einer Weiterleitung an das Kind steht eine Weiterleitung an den Träger der Jugendhilfe aufgrund eines Heranziehungsbescheides gleich.

Rechtliche Hinweise SG Kiel, Sitzungsprotokoll vom 23.01.2019, S 38 AS 638/17.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Vorläufige neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2019

In Kiel gelten ab 01.01.2019 vorläufig die nachfolgenden neuen Mietobergrenzen (bruttokalt):

Personen im Haushalt Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenze in Euro
1-Personenhaushalt < 50 374,00
2-Personenhaushalt > 50 – < 60 426,00
3-Personenhaushalt > 60 – < 75 553,00
4-Personenhaushalt > 75 – < 85 665,50
5-Personenhaushalt > 85 – < 95 754,50
6-Personenhaushalt > 95 – < 105 831,50
7-Personenhaushalt > 105 – < 115 908,00
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 76,50

Weitergehende Informationen finden sich hier:

Geschäftliche Mitteilung zu den neuen Kieler Mietobergrenzen 2019

Geschäftliche Mitteilung zum neuen Kieler Mietspiegel 2019

Das Jobcenter Kiel weist auf seiner aktuelle Homepage bis heute (Stand 22.02.2019) noch die alten Mietobergrenzen aus (ganz nach unten scrollen).

Zu den abschließenden Kieler Mietobergrenzen ab 01.01.2019 siehe hier:

(Wieder) Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Faktencheck Jobcenter Kiel: Doppelmieten

Neues Jahr, neues Format auf Sozialberatung Kiel: „Faktenscheck Jobcenter Kiel“. Das muss wohl sein, denn auch im 13. Jahr „Hartz IV“- dem verflixten – werden die alten Fehler vom Jobcenter Kiel konsequent fortgeführt, als sei zum Regelungsbereich SGB II seit 2005 keine Rechtsprechung ergangen. Heute also: Doppelmieten.

In einem Schreiben vom 14.01.2019 teilt das Jobcenter einer Mandantin mit: „Das Jobcenter übernimmt keine Doppelmieten.“ Wir prüfen das mal nur auf dieser Seite nach. Der Befund ist eindeutig, das stimmt so nicht. Unvermeidbare Doppelmieten sind vom Jobcenter zu übernehmen: SG Kiel, Urteil vom 04.04.2017, S 30 AS 407/15; SG Kiel, Urteil vom 27.09.2016, S 40 AS 500/15; SG Kiel, Urteil vom 09.05.2014, S 33 AS 613/11; SG Schleswig, Urteil vom 26.08.2010, S 25 AS 185/08).

Warum für einem Umzugswagen kein Angebot der Firma Sixt vorgelegt werden darf, ist noch das Geheimnis des Jobcenters Kiel. Vielleicht wird das ja noch gelüftet.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Rechtsmittelbelehrung muss auf elektronische Form hinweisen

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Seit dem 01.01.2018 muss die Rechtsbehelfsbelehrung unter Bescheiden der Jobcenter, die einen Zugang für den elektronischem Empfang von Dokumenten eröffnet haben, darauf hinweisen, dass der Widerspruch auch in elektronischer Form eingelegt werden kann. Fehlt der Hinweis auf die elektronische Einreichungsform, kann der Widerspruch noch innerhalb der Frist von einem Jahr nach Zugang eingelegt werden (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.12.2018, L 6 AS 202/18 B ER).

Alle hier vorliegenden Bescheide des Jobcenters Kiel enthalten bisher noch eine Rechtsbehelfsbelehrung, die lediglich darauf hinweist, dass der Widerspruch „schriftliche oder zur Niederschrift“ bei der im Briefkopf genannten Stelle einzulegen ist, obwohl auch das Jobcenter Kiel den Zugang für den elektronischem Empfang von Dokumenten (EGVP) eröffnet hat. Betroffene, welche die Widerspruchsfrist versäumt haben, können deswegen derzeit noch alle Bescheide des Jobcenters Kiel aus dem Jahr 2018 mit einem Widerspruch angreifen.

Gleiches gilt im Übrigen für die Klagefrist gegen Widerspruchsbescheide, bei denen in der Rechtsmittelbelehrung der Widerspruchsbescheide nicht auch auf die elektronische Einreichungsform hingewiesen worden ist.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Auch Mietkautionsdarlehen können aufgerechnet werden

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Mietkautionsdarlehen nach § 22 Abs 6 SGB II sind nicht von der Aufrechnung nach § 42a Abs 2 SGB II ausgenommen.

Nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Regelungszweck umfasst die Aufrechnungsvorschrift des § 42a Abs 2 SGB II alle nach dem SGB II zu gewährenden Darlehen, soweit keine Ausnahme angeordnet ist. Das belegt für Mietkautionsdarlehen nicht zuletzt die differenzierte Vorschrift zu deren Tilgung bei der Kautionsrückzahlung durch den Vermieter in § 42a Abs 3 SGB II. Eine allgemeine Ausnahme für Mietkautionsdarlehen enthält die Vorschrift nicht.

Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken wegen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs 1 i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG stehen einer Aufrechnung nicht grundsätzlich entgegen (vgl. BSG vom 09.03.2016, B 14 AS 20/15 R). Allerdings ist die Unterdeckung existenznotwendiger Bedarfe zu vermeiden (vgl. BVerfG vom 23.7.2014, 1 BvL 10/12), zumal die Mietkaution nicht in die Bemessung des Regelbedarfs eingeflossen ist und ihre Tilgung längere Zeit dauern kann. Zur Vermeidung einer solchen Unterdeckung im Einzelfall stehen im SGB II indes mehrere Instrumente zur Verfügung, wie die abweichend von der Soll-Regelung in § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II mögliche Erbringung der Mietkaution als Zuschuss, die zeitliche Aufrechnungsbegrenzung auf drei Jahre in entsprechender Anwendung von § 43 Abs 4 SGB II oder ein Erlass oder Teilerlass des Darlehens nach § 44 SGB II (Bundessozialgericht, Urteil vom 28.11.2018, B 14 AS 31/17 R).

Gut, dass das BSG diese leidige Rechtsfrage nun endlich entschieden hat. Zu bedenken ist bei aller Bedarfsunterdeckung bei denjenigen Leistungsbeziehern, die kein teilweise anrechnungsfreies Erwerbseinkommen haben, dass nach Tilgung des Darlehens der Anspruch gegen den Vermieter auf Auskehrung der Mietkaution auf sie übergeht.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Vermögen immer vollständig angeben!

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Anspruch auf ALG II hat nur, wer hilfebedürftig ist, also nicht von eigenem Einkommen oder Vermögen leben kann. Von seinem Barvermögen – also Bargeld, Geld auf Konten oder etwa vermögensbildenden Lebensversicherungen – muss zunächst leben, wer über mehr als 150 € pro Lebensjahr zuzüglich 750 € verfügt (§ 12 Abs. 2 SGB II). Wird dieser Betrag überschritten, besteht kein Leistungsanspruch, bis der Vermögensfreibetrag – etwa durch Verbrauch – unterschritten ist. Wird Vermögen nicht vollständig angegeben und dies dem Jobcenter später bekannt, kann dies zu Rückforderungsansprüchen führen, die das tatsächliche Vermögen um ein Vielfaches überschreiten können.

Diese Rechtsfolge wurde von vielen Sozialgerichten, Landessozialgerichten und Kommentatoren des SGB II als unbillig angesehen und die Rückforderung auf das zu Beginn des Bewilligungszeitraumes zu berücksichtigende – also über dem Vermögensfreibetrag liegende – Vermögen beschränkt. Argumentiert wurde, dass eine Rückforderung der gesamten Leistungen für den Betroffenen eine besondere Härte entsprechend § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II bedeuten würde.

Dem ist das BSG in zwei Entscheidungen entgegen getreten. Die Rückforderung von 31.000 € bzw. 18.000 € sei rechtmäßig, auch wenn die zu erstattenden Beträge das jeweilige Gesamtvermögen der Leistungsberechtigten überstiegen hat. Auf Vertrauensschutz könne sich nicht berufen, wer Vermögen verschweigt. Auch eine besondere Härte liege nicht vor, denn alle Betroffenen – so das BSG in seiner wenig überzeugenden Begründen – würden in einer vergleichbaren Situation gleich behandelt, so das die Härte nicht „besonders“ sei.

Allerdings könne das Jobcenter seine Erstattungsansprüche auf entsprechenden Antrag des Betroffenen nach § 44 SGB II erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. § 44 SGB II vermittelt indessen lediglich einen – gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbaren – Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Forderungserlass.

(BSG, Urteile vom 25.04.2018, B 4 AS 29/17 R und B 14 AS 15/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte informiert über wichtige Änderungen im Sozialrecht im Jahr 2019

Bürgerbeauftragte informiert über wichtige Änderungen im Sozialrecht im Jahr 2019. Zahlreiche Änderungen im Sozialrecht werden zu Beginn des Jahres 2019 für die Bürger von großer Bedeutung sein. Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, gibt einen Überblick:

Änderungen bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV“):

Erhöhung der Regelsätze: Zum 1. Januar 2019 erhöht sich der Regelsatz für alleinstehende und alleinerziehende Personen von 416 Euro auf 424 Euro im Monat. Ehegatten und Lebenspartner erhalten statt 374 Euro künftig 382 Euro. Der Regelsatz für Jugendliche (vom 14. bis zum 18. Geburtstag) erhöht sich um 6 Euro auf 322 Euro. Für Kinder vom 6. bis zum 14. Geburtstag werden statt 296 Euro ab Januar 302 Euro geleistet. Kleinkinder bis zum 6. Geburtstag bekommen 5 Euro mehr als bisher und damit 245 Euro. Erwachsene mit einer Behinderung, die in einer stationären Einrichtung leben, sowie nichterwerbsfähige Erwachsene unter 25 Jahren, die im elterlichen Haushalt wohnen, erhalten weiter einen geringeren Regelsatz. Statt 332 Euro beträgt dieser ab Januar aber 339 Euro.

Unterstützung von Langzeitarbeitslosen: Zum 1. Januar 2019 werden durch das sog. „Teilhabechancengesetz“ zwei neue Möglichkeiten zur Förderung von Langzeitarbeitslosen auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt geschaffen. Für Personen, die sechs Jahre lang Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) bezogen haben, erhalten künftige Arbeitgeber in den ersten beiden Jahren einer Anstellung einen Lohnkostenzuschuss von 100 Prozent. In jedem weiteren Jahr wird dieser Zuschuss um 10 Prozentpunkte gekürzt. Die Dauer der Förderung soll maximal fünf Jahre betragen und sieht zusätzlich ein begleitendes Coaching für die Beschäftigten und Arbeitgeber vor. Für Personen, die Arbeitslosengeld II beziehen und seit mindestens zwei Jahren arbeitssuchend sind, kann künftig für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen ebenfalls ein Lohnkostenzuschuss gewährt werden. Dieser beträgt im ersten Jahr der Anstellung 75 Prozent, im zweiten Jahr sind es 50 Prozent.

Änderungen in der Arbeitsförderung:

Beitrag zur Arbeitslosenversicherung: Der Beitragssatz sinkt zum 1. Januar 2019 von 3 Prozent auf 2,5 Prozent des Bruttoeinkommens.

Bessere Förderung: Beschäftigte erhalten künftig eine bessere Weiterbildungsförderung unabhängig von Qualifikation, Lebensalter und Betriebsgröße, wenn sie infolge des digitalen Strukturwandels Weiterbildungsbedarf haben oder in sonstiger Weise vom Strukturwandel betroffen sind. Darüber hinaus werden einzelne Förderleistungen verbessert: Neben der Zahlung von Weiterbildungskosten werden die Möglichkeiten für Zuschüsse zum Arbeitsentgelt bei einer Weiterbildung erweitert. Beides ist jedoch grundsätzlich an eine Kofinanzierung durch den Arbeitgeber gebunden und in der Höhe abhängig von der Unternehmensgröße.

Änderungen in der Sozialhilfe (SGB XII):

Erhöhung der Regelsätze: Auch in der Sozialhilfe gelten ab Januar 2019 die erhöhten Regelsätze, die den Beträgen bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende entsprechen. So erhalten zum Beispiel auch Menschen im Rentenalter oder Personen mit einer vollen Erwerbsminderung künftig einen Regelsatz von 424 Euro statt 416 Euro, wenn sie alleinstehend oder alleinerziehend sind.

Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung:

Paritätische Beiträge: Ab Januar 2019 werden die Beiträge zur Krankenversicherung wieder in gleichem Maße von Arbeitgebern und Beschäftigten geleistet. Der kassenabhängige Zusatzbeitrag wird damit künftig ebenfalls paritätisch finanziert.

Beitragsentlastung für Selbständige: Selbstständige, die in der gesetzlichen Krankenkasse freiwillig versichert sind, werden ab dem kommenden Jahr bei den Mindestbeiträgen den übrigen freiwillig Versicherten gleichgestellt. Es gilt dann eine einheitliche Mindestbemessungsgrundlage von 1.038,33 Euro. Bislang wird hauptberuflich Selbständigen ein fiktives Mindesteinkommen von 2.283,50 Euro unterstellt. Künftig wird deren Mindestbeitrag damit mehr als halbiert, auf rund 160 Euro im Monat. Zudem ist es für die Beitragsbemessung dann nicht mehr erforderlich, zwischen haupt- und nebenberuflich Selbstständigen zu unterscheiden.

Erweitertes Angebot bei den Terminservicestellen: Voraussichtlich ab April 2019 können sich Versicherte auch zur Terminvermittlung zu Haus- und Kinderärzten und wegen einer Unterstützung bei der Suche nach dauerhaft versorgenden Haus-, Kinder- und Jugendärzten an die Servicestellen wenden. Die Terminservicestellen sollen dafür neben der Telefonzentrale auch ein Online-Angebot einrichten.

HIV-Prophylaxe: Versicherte mit einem substantiellen HIV-Infektionsrisiko sollen ab Frühjahr 2019 einen Anspruch auf die sogenannten „Präexpositionsprophylaxe“ (PrEP) erhalten. Erforderliche ärztliche Beratungen, Untersuchungen und Arzneimittel werden von den Kassen dann erstattet.

Künstliche Befruchtung: Ebenfalls ab Frühjahr 2019 soll der Anspruch auf eine künstliche Befruchtung um die Kryokonservierung von Keimzellgewebe, Ei- und Samenzellen erweitert werden, wenn eine keimzellschädigende Behandlung (z. B. bei einer Krebserkrankung) zu Fertilitätsverlust führen könnte und die Kryokonservierung erforderlich ist, um eine künstliche Befruchtung zu ermöglichen.

Änderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung:

Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente: Die sogenannte „Zurechnungszeit“ wird für künftige Renten wegen Erwerbsminderung ab dem Jahr 2019 auf 65 Jahre und acht Monate angehoben. Anschließend wird sie entsprechend der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre verlängert. Bislang müssen Betroffene Rentenabschläge von häufig über 10,00 Prozent in Kauf nehmen – vergleichbar mit Menschen, die freiwillig eine vorzeitige Rente beanspruchen.

Anpassung der „Mütterrente“: Mütter – in seltenen Fällen stattdessen auch Väter – von Kindern, die vor 1992 geboren sind, erhalten bislang nur zwei Jahre statt drei Jahren Erziehungszeit für ihre Rentenansprüche angerechnet. Künftig wird es einen halben weiteren Rentenpunkt geben – entgegen den ursprünglichen Plänen im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD, die noch einen ganzen Rentenpunkt vorgesehen hatten.

Änderungen in der sozialen Pflegeversicherung:

Erhöhung der Beiträge: Zum 1. Januar 2019 werden die Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte angehoben. Kinderlose Versicherte zahlen dann 3,30 Prozent des Bruttoeinkommens in die Pflegeversicherung, für Beitragszahler mit Kindern sind es 3,05 Prozent. 4

Änderungen in der Kinder- und Jugendhilfe:

Erhöhung der Pflegepauschale: Die monatliche Pauschale für den Unterhalt von Pflegekindern erhöht sich in Schleswig-Holstein für Kinder vom 12. bis zum 18. Geburtstag um 33 Euro auf 954 Euro. Vom 6. bis zum 12. Geburtstag werden künftig 889 Euro gezahlt; bislang sind es 837 Euro. Für kleinere Kinder sind ab Januar 2019 805 Euro statt 762 Euro vorgesehen.

Änderungen beim Kindergeld:

Höheres Kindergeld: Ab dem 1. Juli 2019 steigt das Kindergeld in der um 10,00 € monatlich. Eltern bekommen dann 204 Euro statt 194 Euro für das erste und zweite Kind. Beim dritten Kind werden es künftig 210 Euro, für jedes weitere Kind werden 235 Euro gezahlt. Bereits zum 1. Januar 2019 erhöht sich der Kinderfreibetrag von 7.428 Euro auf 7.620 Euro im Jahr. Auf diese Summe wird für Eltern keine Einkommenssteuer fällig.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 204 / 13. Dezember 2018


Selbständige aufgepasst!

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Selbständige und auch Beschäftigte mit schwankendem Einkommen, die ihr Einkommen mit ALG II (Hartz IV) aufstocken, müssen seit einer Rechtsänderung zum 01.08.2016 aufpassen: Wurde ihnen für den Bewilligungszeitraum ALG II vorläufig bewilligt und kommen sie der Aufforderung des Jobcenters, die Höhe ihrer tatsächlichen Einkünfte innerhalb einer angemessenen Frist (bei Selbständigen mindestens 2 Monate) nachzuweisen nicht nach, kann das Jobcenter feststellen, dass ein Leistungsanspruch nicht bestanden hat. Diese Regelung, die sich eher versteckt in § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II findet und den meisten Leistungsberechtigten nicht bekannt ist, hat zur Folge, dass die ALG II-Leistungen für den gesamten Bewilligungsabschnitt zurückzuzahlen sind, und zwar unabhängig davon, ob überhaupt Einkommen erzielt wurde und wie hoch dieses tatsächlich war.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun entschieden, dass zumindest im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens gegen die abschließende Leistungsfestsetzung auf Null eine Prüfung der tatsächlichen Einkommenshöhe unter Berücksichtigung der erst im Widerspruchsverfahren eingereichten Einkommensnachweise zu erfolgen hat. Betroffenen, bei denen der Leistungsanspruch nachträglich auf Null festgesetzt wurde, sollten deswegen Widerspruch gegen diese Festsetzung erheben. Wer die Widerspruchsfrist von einem Monat unverschuldet nicht einhalten konnte, kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Bei Wegfall des Hindernisses ist der Widerspruch innerhalb eines Monats nachzuholen und der Antrag auf Wiedereinsetzung zu begründen (§ 67 SGG).

(BSG, Urteil vom 12.09.2018, B 14 AS 39/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wie Jobcenter gerichtliche Eilverfahren vermeiden können – und wie nicht!

Vor der Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes ist Behörden die Möglichkeit zu geben, ihr Verwaltungshandeln zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Hierzu ist den Sozialbehörden eine angemessene Frist zu gewähren, die – je nach Sachverhalt und Eilbedürftigkeit – zwischen einem halben Werktag (Sozialgericht Schleswig, Beschluss vom 07.11.2007, S 7 AS 770/07 ER) und zwei Wochen liegen kann.

Möchten Behörden Eilverfahren vermeiden, empfiehlt es sich für diese, sich innerhalb der gesetzten Frist wenigstens bei den Bevollmächtigten zu melden – und sei es nur, um eine Fristverlängerung zu erwirken. Das sollten die Sachbearbeiter der Grundsicherungsträger – wenn sie denn schon das Telefon benutzen möchten – sinnvoller Weise aber nicht mit unterdrücken Rufnummern und ohne eine Nachricht auf etwaigen Anrufbeantwortern machen. Denn dann – oh Wunder – erreicht die Nachricht die Bevollmächtigten nicht mit der Folge, dass die Grundsicherungsträger die Kosten sozialgerichtlicher Eilverfahren zu tragen haben:

„Die offenbar zuvor an diesem Tag mit unterdrückter Rufnummer und ohne das Hinterlassen einer Nachricht auf dem Anrufbeantworter des Prozessbevollmächtigten unternommenen telefonischen Kontaktversuche des Antragsgegners haben den Prozessbevollmächtigten nach seinem nachvollziehbaren Vortrag nicht erreicht. Die Kammer geht davon aus, dass es bei diesem Hergang nach dem Veranlassungsprinzip der Antragsgegner allein zu vertreten hat, dass ein gerichtliches Eilverfahren angestrengt wurde.“ (SG Kiel, Kostenbeschluss vom 05.11.2018, S 41 AS 276/18 ER)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schadensersatzzahlungen nicht auf ALG II anzurechnen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Auf den ALG II-Anspruch anzurechnendes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich alles, was ein ALG II-Empfänger nach der Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB II, für das die Vermögensfreigrenzen gelten, das, was jemand vor der Antragstellung bereits hatte. Aus diesem Grunde sind etwa die Auszahlung eines eigenen Sparguthabens auf das eigene Girokonto oder Geldzuflüsse aus dem Verkauf eigener Sachen als bloße Umschichtungen bereits vorhandener Werte kein Einkommen, welches auf ALG II-Leistungen anzurechnen ist.

Genauso verhält es sich bei dem vom Schädiger an einen ALG II-Empfänger in monatlichen Raten von 150 € zu zahlenden Wertersatz für die Entziehung  oder Beschädigung eines eigenen Vermögensgegenstandes – hier wegen der Unterschlagung von Baumaschinen und Baumaterial im Wert von 30.000 DM -, denn durch den Wertersatz erhält der ALG II-Empfänger keinen Wert hinzu, den er nicht vorher schon hatte. Dass zwischen dem Wertverlust und den Zahlungen an den ALG II-Empfänger ein Zeitraum von über zehn Jahren lag, steht dem Regelungskonzept des SGB II, nur Wertzuwächse als zur Bedarfsdeckung einzusetzendes Einkommen zu qualifizieren, nicht entgegen.

(BSG, Urteil vom 09.08.2018, B 14 AS 20/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Das Anwaltspostfach kommt mit Sicherheitslücken

Das besondere elektronische Anwaltspostfach (BeA) ist am 01.09.2018 wieder an den Start gegangen. Es war seit Dezember vergangenen Jahres aufgrund zahlreicher Sicherheitslücken offline. Nach wie vor sind viele Fragen in Sachen Sicherheit ungeklärt. Ein Beitrag von Hanno Böck auf golem.de:

https://www.golem.de/news/bea-das-anwaltspostfach-kommt-mit-sicherheitsluecken-1809-136346.html


Zur Notwendigkeit eines Umzuges i.S.v. § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II

Der Umzug aus einer Wohnung, die nicht den Vorgaben des § 48 LBO SH entspricht, ist notwendig im Sinne von § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II (SG Kiel, Beschluss vom 31.08.2018, S 31 AS 241/18 ER).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen im Kreis Segeberg teilweise falsch berechnet

Schleswig-Holsteinisches LSG

Nach einer aktuellen Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts hat die Firma empirica und dem folgend auch das Jobcenter im Kreis Segeberg die Mietobergrenze im Vergleichsraum IV-Ost für einen 3-Personenaushalt (75 qm große Mietwohnungen) aufgrund eines Rundungsfehlers falsch bestimmt. Anstatt 490,00 € beträgt die Mietobergrenze für einen 3-Personenaushalt demnach 500,00 € inklusive kalter Betriebskosten. Eine Abschließende Prüfung, ob das Berechnungskonzept des Kreises Segeberg den Anforderungen an ein sog. „schlüssiges Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genügt, wird das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht in einem Hauptsacheverfahren prüfen.

Weiter hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht entschieden, dass ein Umzug nach § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II auch dann „notwendig“ ist, wenn alleinerziehende Leistungsberechtigte – hier aufgrund des unerwarteten Todes der Mutter, die zuvor Betreuungsaufgaben übernommen hatte – in die Nähe von Verwandten ziehen wollen. Denn die – hier glaubhafte gemachte – Möglichkeit und Bereitschaft der Schwester, sich mit um die Kinder zu kümmern, erhöht auch die Eingliederungschancen alleinerziehender Leistungsberechtigter in den Arbeitsmarkt.

Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, Beschluss vom 09.08.2018, L 3 AS 144/18 B ER

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Leistungen für die Unterkunft für unter 25jährige auch ohne Zustimmung des Jobcenters

Bundessozialgericht in Kassel

Wollen unter 25jährige ALG II-Bezieher umziehen, werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die neue Unterkunft bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur anerkannt, wenn das Jobcenter eine Kostenübernahme vor Abschluss des Vertrages über die neue Unterkunft zugesichert hat. Der kommunale Träger ist zur Zusicherung verpflichtet und macht dies in der Regel auch nur dann, wenn der junge Leistungsberechtigte aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann, der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist oder ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt (§ 22 Abs. 5 SGB II).

Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun entschieden, dass eine Ablehnung der Übernahme von Unterkunftskosten nach einem Umzug ohne vorherige Zusicherung durch das Jobcenter aufgrund von wichtigen Umzugsgründen voraussetzt, dass der unter 25jährige ALG II-Bezieher überhaupt einen Vertrag über eine neue Unterkunft abgeschlossen hat. Dies ist beispielsweise dann nicht der Fall, wenn ein junger Leistungsberechtigter in die Wohnung von Freunden, Bekannten oder etwa – wie in dem dem BSG zur Entscheidung vorliegenden Fall – zur Familie der Freundin zieht, ohne einen Mietvertrag abzuschließen. In diesen Fällen hat der unter 25jährige ALG II-Bezieher Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe des auf ihn entfallenden sog. Kopfteils der Gesamtmiete.

(BSG, Urteil vom 25.04.2018, B 14 AS 21/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


BGH: Sozialleistungsträger müssen umfassend über alle in Frage kommenden Leistungsansprüche beraten

(c) GesaD / pixelio.de

Der Bundesgerichtshofs hat sich heute in einer Entscheidung mit der Frage befasst, welche Anforderungen an die Beratungspflicht eines Sozialhilfeträgers nach § 14 Satz 1 SGB I zu stellen sind, wenn bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung (§§ 41 ff SGB XII) ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf erkennbar ist.

Geklagt hatte ein Mann, der mit seiner Behinderung eigentlich eine Erwerbsminderungsrente hätte bekommen müssen. Die Rente hatte er wegen lückenhafter Beratung beim Sozialamt aber nicht beantragt. Stattdessen beantragte er nur die deutlich niedrigere Grundsicherung. Seit dem Jahre 2004 seien ihm dadurch mehr als 50.000 € entgangen. Der Bundesgerichtshof sprach dem Kläger nun gemäß § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG (Amtshaftungsanspruch) Schadensersatz zu und führt zur Begründung aus (Presseerklärung):

„Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat.

Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I).

Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bestand im vorliegenden Fall ein dringender Beratungsbedarf in einer wichtigen rentenversicherungsrechtlichen Frage. Dies war für die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt des Beklagten ohne weitere Ermittlungen eindeutig erkennbar. Der zu 100 % schwerbehinderte Kläger hatte nach dem Besuch einer Förderschule für geistig Behinderte berufsbildende Maßnahmen erfolgreich absolviert und war anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig (versicherungspflichtige Beschäftigung). Er war jedoch auf Grund seiner Behinderung außerstande, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen, Vermögen) zu bestreiten. In einer solchen Situation musste ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung befasster Sachbearbeiter des Sozialamts mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen, dass bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen konnte. Es war deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten.“

BGH, Urteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, Presseerklärung Nr. 130/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Privilegierung von Schülereinkommen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Einkommen von Schülern unter 25 Jahren aus einer Erwerbstätigkeit, welche in den Schulferien für höchstens vier Wochen im Jahr ausgeübt wird, ist bis zu einem Betrag von 1.200 € pro Kalenderjahr nicht auf Leistungen nach dem SGB II (ALG II, Sozialgeld) anzurechnen (§ 1 Abs. 4 ALG II-VO). In einem Klageverfahren war nun streitig, ob auch das Erwerbseinkommen eines Leistungsberechtigten unter 25 Jahre für den Monat August 2015 anrechnungsfrei bleibt, in dem dieser bereits einen Schulplatz sicher zugesagt bekommen und das Schuljahr auch begonnen hatte, dieser aber noch nicht eingeschult war.

Das Sozialgericht Schleswig hat diese Frage verneint. Der Kläger war nach Auffassung des Sozialgerichts im Monat August 2015 bereits noch kein „Schüler“, da die Schülereigenschaft erst mit der Aufnahme in ein öffentlich-rechtliches Schulverhältnis mit der Einschulung erfolge, nicht aber mit Beginn des Schuljahres. Zudem habe der Kläger seine Tätigkeit im August 2015 auch nicht „in den Schulferien“ ausgeübt. Das Gericht versteht diesen Begriff als die Zeit zwischen zwei Schulabschnitten. Daher könne die Zeit vor der erstmaligen Begründung eines öffentlich rechtlichen Schulverhältnisses nicht als „Ferien“ bezeichnet werden. Gründe für eine erweiternde Auslegung der Ausnahmevorschrift des  § 1 Abs. 4 ALG II-VO hat das Sozialgericht nicht gesehen.

(SG Schleswig, Urteil vom 25.04.2018, S 16 AS 128/16)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Alleinerziehende zumutbar sein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leben Bezieher von ALG II in einer nach den Vorgaben ihrer Stadt oder Gemeinde zu teuren Wohnung, sind sie verpflichtet, ihre Unterkunftskosten – in der Regel durch Umzug – auf ein angemessenes Maß zu senken. Allerdings sind auch „abstrakt“ zu hohe Mietkosten so lange anzuerkennen, wie es den Leistungsberechtigten nicht möglich oder nicht zumutbar ist, ihre Unterkunftskosten zu senken. Das regelt § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II.

Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit eines Umzuges

„Unmöglich“ ist eine Senkung der Unterkunftskosten durch Umzug, wenn die Leistungsberechtigten Wohnraum innerhalb der jeweiligen Mietobergrenzen in ihrem örtlichen Suchumfeld (in der Regel die Stadt oder die Gemeinde, in der die betroffenen Personen wohnen) nicht finden können. Ihre erfolglosen Suchbemühungen müssen die Betroffenen gegenüber den Jobcentern und Gerichten dabei sehr genau nachweisen (Suchhilfen finden sich hier: Vordruck Wohnungssuche Telefonate, Vordruck Wohnungssuche Vorsprache). So lange eine Senkung der Unterkunftskosten nachweislich unmöglich ist, sind vom Jobcenter die tatsächlichen Mietkosten weiter zu übernehmen.

„Unzumutbar“ kann ein Umzug auch dann sein, wenn Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz IV) ihr „soziales Umfeld“ aufgeben müssten, um eine kostenangemessene Wohnung zu finden. Für erwachsene Leistungsberechtigte bedeutet das vereinfacht gesagt, dass sie zur Kostensenkung ihr Stadt oder Gemeinde nicht verlassen müssen. Gibt es kostenangemessenen Wohnraum nur außerhalb ihres bisherigen sozialen Umfeldes, müssen Leistungsberechtigte dorthin nicht umziehen und das Jobcenter muss die tatsächlichen – „abstrakt“ zu hohen – Mietkosten der bewohnten Wohnung weiter anerkennen.

Näheres soziales Umfeld Alleinerziehender, Kinder und kranker Menschen zu beachten

Allerdings können Umstände vorliegen, die eine besondere Bindung an ein „näheres soziales Umfeld“ begründen, das kleiner ist als die ganze Stadt oder Gemeinde. Dies kann die Obliegenheiten von Leistungsempfängern einschränken, die Kosten der Unterkunft durch einen Umzug in weiter entfernt liegende Stadtteile zu senken. Bei der Bestimmung des maßgeblichen Suchumfeldes, innerhalb dessen ein Umzug noch zumutbar ist, sind persönliche Umstände wie etwa das nähere soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtige Kinder, Alleinerziehender oder gesundheitlich eingeschränkter Menschen zu beachten. Aus diesen persönlichen Umständen können Gründe resultieren, die zu einer Einschränkung der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Kosten der Unterkunft im Sinne einer „subjektiver Unzumutbarkeit“ führen (BSG, Urteil vom 20.08.2012, B 14 AS 13/12 R, Rn. 21 im Zusammenhang mit der Situation einer alleinerziehenden Mutter mit einem 10-jährigen Kind in der Stadt Kiel).

Näheres soziales Umfeld kann Stadtteil und „Nahbereich“ hierzu sein

In einer aktuellen Entscheidung hat das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht nun entschieden, dass eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern derzeit auf eine Wohnung im Stadtteil Friedrichsort oder im Nahbereich dazu angewiesen ist, welche der Bindung an ihr persönliches Umfeld Rechnung trägt. Bei einem Wohnungswechsel in entferntere Stadtteile würde ein Rückgriff auf die bestehende Infrastruktur verloren gehen. Hierdurch würde sich die Situation der Familie deutlich verschlechtern. Die Mutter absolviert seit Ende Februar 2018 eine Umschulung. Sie hat dort eine werktägliche Anwesenheitspflicht von 8.00 bis 15.00 Uhr. Als alleinerziehende Mutter ist sie vor allen in dieser Zeit auf die Unterstützung Dritter angewiesen. Dies ist durch die gut vernetzte Nachbarschaft – in der die Familie seit circa zehn Jahren leben – gewährleistet. So werden die Kinder regelmäßig ein paar Mal im Monat morgens von den Nachbarn betreut. Die Nachbarn springen ein, wenn die Antragstellerin zu 1) Hilfe braucht. Es bestehen bei schlechtem Wetter Fahrgemeinschaften zur Schule der Kinder oder zum Fußballverein eines der Kinder. Zudem besuchen zwei Kinder nach dem Unterricht die betreute Grundschule ihrer Schule. Die meisten der ohnehin nicht zahlreichen Wohnungen, die das Jobcenter Kiel benannt hat oder die die Familie im Rahmen ihrer Suche ermitteln konnten, liegen in den Stadtteilen Kiel-Gaarden oder Kiel-Mettenhof. Bei einem Umzug in eine solche Wohnung wäre der Familie aufgrund der Entfernung ein Rückgriff auf ihr soziales Umfeld nicht mehr möglich. Die derzeitige Nachbarschaft wäre nur durch lange Busfahrten mit mehrmaligen Umsteigen zu erreichen. Die einzigen zwei Wohnungen im näheren Umfeld der Antragsteller sind zumindest nicht größenangemessen.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 04.07.2018, L 6 AS 105/18 B ER

Zum Thema siehe auch: Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Kinder zumutbar sein

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Rundfunkbeitrag für Zweitwohnungen verfassungswidrig

Die Rundfunkbeitragspflicht ist im privaten und im nicht privaten Bereich im Wesentlichen mit der Verfassung vereinbar. Mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar ist allerdings, dass auch für Zweitwohnungen ein Rundfunkbeitrag zu leisten ist. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom heutigen Tage auf die Verfassungsbeschwerden dreier beitragspflichtiger Bürger und eines Unternehmens hin entschieden und die gesetzlichen Bestimmungen zur Beitragspflicht für Zweitwohnungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Er hat den zuständigen Landesgesetzgebern aufgegeben, insofern bis zum 30. Juni 2020 eine Neuregelung zu treffen. Nach dem Urteil steht das Grundgesetz der Erhebung von Beiträgen nicht entgegen, die diejenigen an den Kosten einer öffentlichen Einrichtung beteiligen, die von ihr – potentiell – einen Nutzen haben. Beim Rundfunkbeitrag liegt dieser Vorteil in der Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu können. Auf das Vorhandensein von Empfangsgeräten oder einen Nutzungswillen kommt es nicht an. Die Rundfunkbeitragspflicht darf im privaten Bereich an das Innehaben von Wohnungen anknüpfen, da Rundfunk typischerweise dort genutzt wird. Inhaber mehrerer Wohnungen dürfen für die Möglichkeit privater Rundfunknutzung allerdings nicht mit insgesamt mehr als einem vollen Rundfunkbeitrag belastet werden.

Eine Neuregelung durch die Gesetzgeber hat spätestens bis zum 30. Juni 2020 zu erfolgen. Ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils sind bis zu einer Neuregelung Personen, die Ihrer Rundfunkbeitragspflicht bezüglich der Erstwohnung nachkommen, auf Antrag von einer Beitragspflicht für weitere Wohnungen zu befreien. Wer bereits Rechtsbehelfe anhängig gemacht hat, über die noch nicht abschließend entschieden ist, kann einen solchen Antrag rückwirkend stellen. Bereits bestandskräftige Festsetzungsbescheide vor der Verkündung dieses Urteils bleiben hingegen unberührt.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 59/2018 vom 18. Juli 2018

BVerfG, Urteile vom 18. Juli 2018, 1 BvR 1675/16, 1 BvR 981/17, 1 BvR 836/17, 1 BvR 745/17


Alleinerziehende: Leistungen für die Unterkunft wie Alleinstehende

Bundessozialgericht in Kassel

In einem aktuellen Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) klargestellt, dass alleinerziehende Eltern im ALG II-Bezug, deren Kinder aufgrund von eigenem bedarfsdeckenden Einkommen nicht hilfebedürftig sind, einen Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft für eine Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaft (in Kiel derzeit: 361 € bruttokalt) haben.

Bei alleinerziehenden Eltern im ALG II-Bezug kann es vorkommen, dass die Kinder aufgrund von eigenen Einkünften wie etwa Unterhalt, Kindergeld und Kinderwohngeld keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) haben. In diesem Fall bilden die Kinder mit ihrem Elternteil, bei dem sie leben, keine so genannte „Bedarfsgemeinschaft“ (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Dies wiederum hat zur Folge, dass das Jobcenter Leistungen für die Unterkunft nur dem alleinerziehenden Elternteil erbringt und sich folglich die Angemessenheitsgrenze an der Mietobergrenze für einen Ein-Personen-Haushalt zu orientieren hat. Bei einer alleinerziehenden Mutter sind in Kiel deswegen für die Mutter bis zu 361 € bruttokalt anstatt lediglich die Hälfte der Mietobergrenze für eine Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 411,00 € bruttokalt (also 205,50 € bruttokalt) anzuerkennen. Dem Argument der Vorinstanz, die Einkommensverhältnisse des Kindes könnten sich jederzeit ändern und die tatsächlichen Wohnverhältnisse entsprächen nicht zwei Ein-Personenhaushalten, ist das BSG nicht gefolgt.

(BSG, Urteil vom 25.04.2018, B 14 AS 14/17 R; so schon SG Kiel, Beschlüsse vom 11.08.2016, S 43 AS 185/16 ER und 30.11.2016, S 39 AS 289/16 ER, siehe Hempels 2/2017)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen im Kreis Plön ab 01.04.2018

Seit dem 01.04.2018 gelten im Kreis Plön neue Miet­ober­grenzen. Bei der Be­rechnung wird die Brutto­kalt­miete (Netto­kalt­miete inklusive der kalten Betriebs­kosten) zugrunde gelegt. Die Mietobergrenzentabelle findet sich hier.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Kinder zumutbar sein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leben Bezieher von ALG II in einer nach den Vorgaben ihrer Stadt oder Gemeinde zu teuren Wohnung, sind sie verpflichtet, ihre Unterkunftskosten – in der Regel durch Umzug – auf ein angemessenes Maß zu senken. Allerdings sind auch „abstrakt“ zu hohe Mietkosten so lange anzuerkennen, wie es den Leistungsberechtigten nicht möglich oder nicht zumutbar ist, ihre Unterkunftskosten zu senken. Das regelt § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II.

„Unmöglich“ ist eine Senkung der Unterkunftskosten durch Umzug, wenn die Leistungsberechtigten Wohnraum innerhalb der jeweiligen Mietobergrenzen in ihrem örtlichen Suchumfeld (in der Regel die Stadt oder die Gemeinde, in der die betroffenen Personen wohnen) nicht finden können. Ihre erfolglosen Suchbemühungen müssen die Betroffenen gegenüber den Jobcentern und Gerichten dabei sehr genau nachweisen (Suchhilfen finden sich hier: Vordruck Wohnungssuche Telefonate, Vordruck Wohnungssuche Vorsprache). So lange eine Senkung der Unterkunftskosten nachweislich unmöglich ist, sind vom Jobcenter die tatsächlichen Mietkosten weiter zu übernehmen.

„Unzumutbar“ kann ein Umzug auch dann sein, wenn Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz IV) ihr „soziales Umfeld“ aufgeben müssten, um eine kostenangemessene Wohnung zu finden. Für erwachsene Leistungsberechtigte bedeutet das vereinfacht gesagt, dass sie zur Kostensenkung ihr Stadt oder Gemeinde nicht verlassen müssen. Gibt es kostenangemessenen Wohnraum nur außerhalb ihres bisherigen sozialen Umfeldes, müssen Leistungsberechtigte dorthin nicht umziehen und das Jobcenter muss die tatsächlichen – „abstrakt“ zu hohen – Mietkosten der bewohnten Wohnung weiter anerkennen.

Näheres soziales Umfeld von Kindern zu beachten

Allerdings können Umstände vorliegen, die eine besondere Bindung an ein „näheres soziales Umfeld“ begründen, das kleiner ist als die ganze Stadt oder Gemeinde. Dies kann die Obliegenheiten von Leistungsempfängern einschränken, die Kosten der Unterkunft durch einen Umzug in weiter entfernt liegende Stadtteile zu senken. Bei der Bestimmung des maßgeblichen Suchumfeldes, innerhalb dessen ein Umzug noch zumutbar ist, sind persönliche Umstände wie etwa das nähere soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtige Kinder, Alleinerziehender oder gesundheitlich eingeschränkter Menschen zu beachten. Aus diesen persönlichen Umständen können Gründe resultieren, die zu einer Einschränkung der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Kosten der Unterkunft im Sinne einer „subjektiver Unzumutbarkeit“ führen (BSG, Urteil vom 20.08.2012, B 14 AS 13/12 R, Rn. 21 im Zusammenhang mit der Situation einer alleinerziehenden Mutter mit einem 10-jährigen Kind in der Stadt Kiel).

Erneuter Schulwechsel unzumutbar

In einer aktuellen Entscheidung hat das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht nun entschieden, dass es einem 14-Jährigen, der die Schule gerade erst zum Schuljahr 2017/2018 wegen Lernschwierigkeiten gewechselt hat, nicht zuzumuten ist, allein zur Senkung der Kosten der Unterkunft ein weiteres Mal die Schule zu wechseln.

Weite Busfahrt mit Umsteigen nicht zumutbar

Entgegen der Auffassung des Sozi­algerichts Kiel ist es für den 14-jährigen auch nicht zumutbar, in einen von seiner nördlich des Kanals gelegenen Schule weiter entfernt liegenden Stadtteil wie etwa Gaarden zu ziehen. Denn ein Umzug in eine dortige Wohnung würde für den 14-jährigen Schüler nicht nur einen langen Schulweg, sondern vor allem auch ein mehrfaches Umsteigen und Wechseln der Verkehrsmittel bedeuten. Außerdem würde der 14-jähige Schüler nicht mit den Kin­dern und Jugendlichen in seinem räumlichen Wohnumfeld gemeinsam die Schule besuchen. Insofern unterscheide sich ein solche Situation auch von den zahlreichen Fahrschülern mit zum Teil langen Schulwegen, die gemeinsam in dünner besiedel­ten Regionen Schleswig-Holsteins eine weiterführende Schule in einem Mittelzent­rum besuchen und oft nur ein einziges Verkehrsmittel verwenden können.

Keine Zusicherung der Buskosten durch Jobcenter

Hinzu komme, dass das Jobcenter Kiel auch keine Erklärung dahingehend abgegeben habe, die zusätzlichen Kosten, die mit dem Besuch einer weiter entfernten Schule für den 14-jähigen Schüler verbunden wären, zu übernehmen. Zu Recht sei nämlich darauf hingewiesen worden, dass im Rahmen der gesetzlichen Rege­lungen über Bildung und Teilhabe nur die Kosten für eine Anreise zu der „nächstgele­genen Schule“ erstattungsfähig seien (siehe § 28 Abs. 4 SGB II).

(Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 01.06.2018, L 6 AS 86/18 B ER)

Der Beschluss ist jetzt auch auf sozialgerichtsbarkeit.de hier veröffentlicht.

Zum Thema siehe auch: Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Alleinerziehende zumutbar sein

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geld für Schulbücher vom Jobcenter

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat erstmals obergerichtlich entschieden, dass Kosten für Schulbücher als Mehrbedarfsleistungen vom Jobcenter zu übernehmen sind.

Geklagt hat eine Schülerin der gymnasialen Oberstufe, die im Bezug von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) stand. Sie hatte Kosten für die Anschaffung von Schulbüchern (135,65 €) sowie eines grafikfähigen Taschenrechners (76,94 €) als Zusatzleistungen zum Regelbedarf beim Jobcenter geltend gemacht. Das Jobcenter bewilligte ihr mit dem sog. Schulbedarfspaket pauschal 100,00 € pro Schuljahr. Für eine konkrete Bedarfsermittlung fehle eine Rechtsgrundlage.

Das LSG hat die Schulbuchkosten als Mehrbedarfsleistungen in entsprechender Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II anerkannt. Bücher würden nach der Gesetzesbegründung nicht von der Schulbedarfspauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II umfasst, sondern müssten grundsätzlich aus dem Regelbedarf bestritten werden. Da dieser jedoch für Bücher jeglicher Art lediglich etwa 3 € im Monat vorsehe, seien hierdurch die Schulbuchkosten nicht gedeckt. Dies stelle eine unbeabsichtigte Regelungslücke dar, die über eine verfassungskonforme Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II durch die Gerichte zu schließen sei.

Demgegenüber seien die Kosten für grafikfähige Taschenrechner von der Schulbedarfspauschale abgedeckt, denn ein solcher Taschenrechner müsse nicht für jedes Schuljahr erneut angeschafft werden.

(LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11. Dezember 2017, L 11 AS 349/17)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Vermieterbescheinigung ohne weitere Voraussetzungen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Ein Bezieher von ALG II (Hartz IV) hat einen Anspruch auf Aushändigung einer Vermieterbescheinigung,  die nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft werden darf.

Nach § 22 Abs. 4 Satz 2 SGB II hat ein ALG II-Empfänger gegenüber dem Jobcenter einen Anspruch auf Zusicherung der Übernahme der Aufwendung für eine neue Unterkunft sowie die Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung für den zukünftigen Vermieter, wenn deren Kosten angemessen sind. Das Jobcenter Kiel hatte die Ausstellung einer solchen Vermieterbescheinigung an vier Voraussetzungen geknüpft: Den Antrag auf Gewährung eines Darlehens zur Finanzierung der Mietsicherheit, die Abtretung des Rückzahlungsanspruches hinsichtlich der Mietsicherheit, die Abtretung der Ansprüche auf Auszahlung etwaiger Guthaben aus Betriebs- Heiz- oder Wasserkostenabrechnungen und eine Zustimmungserklärung zur Direktzahlung der Miete an den künftigen Vermieter.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel. Hinsichtlich aller geforderten Erklärungen bestehe schon kein Zusammenhang mit der beantragten Zusicherung der Übernahme der Kosten der neuen Wohnung. Das Jobcenter verkenne zudem, dass Direktzahlungen nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn der Leistungsberechtigte dies beantragt habe oder die Zahlung der Miete anders nicht sichergestellt werden kann. Hinsichtlich des Abtretungsverlangens betreffend künftige Guthaben aus Heiz-, Neben- und Wasserkosten „fehlt dem Gericht jegliche Phantasie, auf welche Rechtsgrundlage diese Anforderung gestützt werden könnte.“ Erfreulich deutliche Worte an ein bisweilen von Rechtsgrundlagen völlig losgelöst agierendes Jobcenter.

(SG Kiel, Beschluss vom 25.01.2018, S 36 AS 11/18 ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Auch die 33. Kammer am SG Kiel bestätigt die neuen Mietobergrenze der Stadt Kiel

(c) GesaD / pixelio.de

Mit Beschluss vom 17.04.2018 zum Aktenzeichen S 33 AS 53/18 ER hat nun auch die 33. Kammer am SG Kiel die neuen Kieler Mietobergrenzen mit einer eigenständigen Begründung bestätigt. Anders als der Beschluss der 31. Kammer am SG Kiel vom 06.04.2018 zum Aktenzeichen S 31 AS 21/18 ER war in diesem Verfahren weder die Frage des individuellen Suchumfeldes noch die Frage stattgehabter und nachgewiesener Suchbemühungen strittig, so dass es allein um die sog. „abstrakte Angemessenheit“ der neuen Kieler Mietobergrenzen ging. Interessant ist folgender Hinweis des Gerichts auf Seite 8:

„Die einbezogenen Daten sind ferner hinreichend valide und repräsentativ, denn auch nach Ausscheidung von 485 Datensätzen verbleiben statistisch ausreichend viele Sätze, die eine genügende Grundlage für die Ermitt­lung der kalten Betriebskosten bilden. Soweit die Antragstellerseite Bedenken hegt, dass der Antragsgegner rund 40% der Daten (von zunächst 1.053 Datensätzen werden schließlich 568 zur Ermittlung herangezogen) vor einer Auswertung aussortiert hat, kann die Kammer dem nicht folgen. Die Kammer führt dies auf ein zutreffendes statistisches Vorgehen zurück, nämlich insbesondere all jene Datensätze nicht der Auswertung zuzuführen, bei denen be­reits Angaben zu einer der wesentlichen Betriebskostenarten fehlen bzw. Angaben sich nicht genau zuordnen lassen oder keine Einzelangaben vorhanden sind (siehe die vom befragten Mieter / Vermieter zu beantwortende, sehr ausdifferenzierte Frage 12 zu den kalten Brutto­kosten auf S. 44 der Dokumentation zum Qualifizierten Mietspiegel 2017). Es ist demnach nicht so, dass in Mietverhältnissen diese Betriebskostenarten gar nicht anfielen, sondern dass es lediglich an genauen / ausdifferenzierten Angaben zu den einzelnen Positionen fehl­te, wobei bereits eine Betriebskostenabrechnung von der Berücksichtigung ausgeschlossen wurde wenn sich nur eine der als wesentlich definierten Betriebskostenpositionen nicht (ein­deutig) aus der Abrechnung ergab. Hatte der Antragsgegner hingegen all jene Datensätze in die Berechnung mit eingestellt, in denen ungenaue oder fehlende Angaben bei den wesentli­chen Betriebskosten vorliegen, wäre dies vielmehr statistisch zu bemängeln und Anlass ge­wesen, an der korrekten Ermittlung der Hohe der angemessenen kalten Betriebskosten zu zweifeln.“

Alles richtig. Niemand hat allerdings behauptet oder könnte auch nur ernsthaft davon ausgehen, dass Grundsteuern/laufende öffentlich Lasten, Angaben zu Wasserversorgung, Entwässerung und Niederschlagswasser oder einen Gesamtbetrag dieser Positionen, Müllbeseitigungskosten, Hausbeleuchtungskosten und Sach- und Haftpflichtversicherungskosten „gar nicht anfielen“. Es verwundert vielmehr gerade, dass sich bei rund 40 % der Datensätze diese „wesentlichen Betriebskostenarten“ nicht eindeutig aus den Abrechnungen ergeben sollen. Das erstaunt um so mehr deswegen, weil ein nicht unerheblicher Teil der Daten im Rahmen von Mieter- und Vermieterbefragungen erhoben worden sind (vgl. S. 19 der Dokumentation). Es sollte angenommen werden dürfen, dass im Rahmen der geführten Interviews von dem extra hierfür geschulten Personal (vgl. S. 17 der Dokumentation) auf eine genaue Zuordnung und Vollständigkeit der Betriebskostenpositionen geachtet worden ist. Auch im Rahmen der Fragebogenerhebung waren Rückfragen von GEWOS jedenfalls dann möglich, wenn Mieter „zu Nachfragezwecken“ (siehe Fragebogen Seite 1 oben auf Seite 40 der Dokumentation) ihre Telefonnummer angegeben haben. Die Bereinigung der Datensätze um 40 % aufgrund fehlender oder ungenauer Angaben zu den „wesentlichen Betriebskostenarten“ bleibt nach alledem schwer nachvollziehbar.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialgericht Kiel bestätigt neue Kieler Mietobergrenzen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / Pixelio.de

Mit Beschluss vom 06.04.2018 zum Aktenzeichen S 31 AS 21/18 ER hat die 31. Kammer am SG Kiel die neuen Kieler Mietobergrenzen bestätigt. Nach der in einem Eilverfahren nur summarisch möglichen Prüfung sollen danach die seit dem 01.01.2017 gültigen Mietobergrenzen auf einem schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen. Die Antragsteller – eine alleinerziehende Mutter mit ihrem 13jährigen Sohn – seien gehalten, im gesamten Stadtgebiet nach Ersatzwohnraum zu suchen. Aufgrund der Höhe der Überschreitung der Mietobergrenze für einen Zweipersonenhaushalt in Höhe von 411,00 € bruttokalt um 127,41 € sei dem Sohn, welcher gerade erst die Schule gewechselt hat, auch ein weiterer – durch den Umzug gegebenenfalls notwendig werdender – Schulwechsel zumutbar.

Berechnung der durchschnittlichen Betriebskosten unplausibel

Das Gericht konnte die hiesigen Zweifel an einer schlüssigen Darlegung der Berechnung der kalten Betriebskosten nicht ausräumen. Dem Unternehmen ALP, welches das „schlüssige Konzept“ für die Stadt Kiel erstellt hat, wurden nach eigenen Angaben 1.053 Datensätze zu den kalten Betriebskosten übermittelt. Nur 639 Datensätze hiervon sollen „jedenfalls auch“ die Betriebskostenpositionen

[1] Grundsteuern/laufende öffentlich Lasten,

[2] Angaben zu Wasserversorgung, Entwässerung und Niederschlagswasser oder einen Gesamtbetrag dieser Positionen,

[3] Müllbeseitigungskosten,

[4] Hausbeleuchtungskosten und

[5] Sach- und Haftpflichtversicherungskosten

enthalten haben. Folglich müssen 414 Datensätze (rund 40 %) zu diesen Betriebskostenpositionen keine Angaben enthalten haben. Da nun aber davon ausgegangen werden kann, dass es (praktisch) keine Mietwohnungen gibt, bei denen diese kalten Betriebskosten nicht entstehen ([1] bis [3] sind gesetzlich vorgeschrieben, ein Miethaus ohne Hausbeleuchtung ist schwer vorstellbar und „Sach- und Haftpflichtversicherungen – gemeint sein dürfte vor allem die sog. „Gebäudeversicherung“ –  sind zwar in Deutschland nicht gesetzlich verpflichtend [auch die Feuerversicherung ist es nicht mehr], dürften aber aufgrund des hohen Verlustrisikos der Eigentümer sowie der Umlagefähigkeit [auch] dieser Kosten auf den Mieter bei Miethäusern ebenfalls der absolute Regelfall sein), muss die Qualität der erhobenen Daten angezweifelt werden. Diese Zweifel vermag das Gericht auch nicht mit dem Hinweis auszuräumen, dass es für einen Datenausschluss genügt hat, dass sich „nur eine“ der genannten wesentlichen Betriebskostenarten aus der Betriebskostenabrechnung nicht ergab. Denn es ist schlicht nicht nachvollziehbar, in welcher Wohnung auch „nur eine“ der genannten wesentlichen Betriebskostenspositionen nicht entstehen sollte. Soweit das Gericht keine „Anhaltspunkte für eine tendenziöse Bereinigung“ zu erkennen vermag, verkennt es die Maßstäbe. Das Konzept der Stadt muss – auch im Hinblick auf die Betriebskostenberechnung – schlüssig, also plausibel sein. Das ist es nicht. Warum es das nicht ist – weil die Datenerhebung nicht in der gebotenen Sorgfalt durchgeführt worden ist oder warum auch immer -, ist für die Beurteilung der Schlüssigkeit nicht relevant. Das Konzept ist jedenfalls nicht erst dann unplausibel, wenn es offensichtlich „tendenziös“ ist.

Mathematische Nachvollziehbarkeit der Berechnung der Mietobergrenzen

Das Gericht hat sich im Ergebnis mit einer exemplarischen Darstellung der Berechnungsweise der durchschnittlichen Betriebskosten sowie der durchschnittlichen Nettokaltmieten des unteren Drittels (Terzils) zufrieden gegeben. Im Rahmen eines Eilverfahrens, welches über zwei Monate geführt worden ist, wäre – eine entsprechende Verfahrensförderung vorausgesetzt – allerdings auch eine Darlegung der Berechnung der konkreten Mietobergrenze von 406,50 € (411,00 € ist die alte Mietobergrenze, die weiter anerkannt wird, um niemanden schlechter zu stellen) möglich und leistbar gewesen.

Örtliches Suchumfeld: Belange von Kindern spielen praktisch keine Rolle

Als besonders betrüblich hervorzuheben ist, dass in der Verwaltungspraxis Kieler Sozialbehörden die Belange von Kindern so wenig Beachtung finden wie in der Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Sozialgerichtsbarkeit. Im Fall einer Kieler Mandantin hatte das Bundessozialgericht mit seinem Urteil vom 22.08.2012 im Verfahren B 14 AS 13/12 R dem Jobcenter Kiel wie auch dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht ins Stammbuch geschrieben:

„Entgegen den Ausführungen des LSG kommen nicht nur gesundheitliche Gründe in Betracht, wenn es um die Gründe für die „Unzumutbarkeit“ von Kostensenkungsmaßnahmen (insbesondere durch Umzug) geht. Es können auch die besonderen Belange von Eltern und Kindern (vor dem Hintergrund des Art 6 Grundgesetz) solche beachtenswerte Gründe darstellen. Wie bereits dargestellt, ist auf das soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtiger Kinder Rücksicht zu nehmen. Ebenso ist die Situation von Alleinerziehenden dahin zu überprüfen, ob sie zur Betreuung ihrer Kinder auf eine besondere Infrastruktur angewiesen sind, die bei einem Wohnungswechsel in entferntere Ortsteile möglicherweise verlorenginge und im neuen Wohnumfeld nicht ersetzt werden könnte (BSG Urteil vom 19.2.2009 – B 4 AS 30/08 RBSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 RdNr 35). Auch Angehörige unterer Einkommensschichten, die nicht auf Transferleistungen angewiesen sind, werden sich bei der Frage nach Kosteneinsparungen von diesen Gedanken leiten lassen. Aus solchen Umständen folgt allerdings im Regelfall kein Schutz der kostenunangemessenen Wohnung als solcher. Entsprechende Umstände schränken allenfalls die Obliegenheiten der Leistungsempfänger, die Kosten der Unterkunft zu senken, auf Bemühungen im näheren örtlichen Umfeld ein. Die Frage, ob einem Kind ein Schulwechsel zugemutet werden kann, lässt sich dabei nicht schematisch beantworten. Vor allem der im Einzelfall nach einem Umzug zumutbare Schulweg orientiert sich daran, was das Kind schon von der bisherigen Wohnung aus bewältigen musste, ob es etwa mit der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln bereits vertraut ist bzw bereits einen Schulweg in bestimmter Länge zu Fuß (oder in fortgeschrittenem Alter mit dem Fahrrad) zurücklegen muss.“

Es lässt sich nur resigniert feststellen: Das BSG hat in den rauen schleswig-holsteinischen Wind gesprochen. Obwohl der 13jährige Sohn gerade erst die Schule wechseln musste, ist von dem Kind nach Meinung der 31. Kammer am SG Kiel – wie es im schönsten Juristendeutsch heißt – „nach summarischer Prüfung der Kammer in diesem Einzelfall in letzter Konsequenz“ auch ein erneuter Schulwechsel „hinzunehmen“. Grund: Die Höhe der monatlichen Überschreitung der Mietobergrenze von 127,41 €. Man ahnt in etwa, was Kinder und Bildungsabschlüsse Verwaltung und Gerichten in diesem Lande tatsächlich „Wert“ sind. Fast schon erschrecken muss der Hinweis des Gerichts, der Sohn besuche eine Gemeinschaftsschule, die es auch in anderen Stadtteilen gebe – deswegen sei ein Schulwechsel zumutbar. Auf die Schwierigkeiten, die es für einen Schüler bedeutet, in einer neuen Klasse Anschluss zu finden, die Lehrer kennen zu lernen usw. – was alles rein gar nichts mit der gewählten Schulart zu tun hat – scheint das Gericht nicht zu verfallen. Das ist nur in homöopathischen Dosen sensibler als die vom Jobcenter Kiel im Verfahren geäußerte Auffassung, der Sohn habe bereits einmal die Schule gewechselt und könne das dann auch noch einmal machen – wobei im Subtext mitschwingt: Er ist ja in Übung.

Suchbemühungen dokumentieren!

Wo viel Schatten ist, muss auch irgendwo ein Licht stehen. Das steht in diesem schattigen Beschluss auf Seite acht, zweiter Absatz. Den „Anscheinsbeweis“, dass aufgrund der „schlüssigen“ Mietobergrenzen der Stadt Kiel auch ausreichend Wohnraum zur Neuanmietung zur Verfügung steht (was ständige Rechtsprechung des BSG und dennoch Unsinn ist: Der Kieler Mietspiegel und die neuen MOG hätten genau so ausgesehen, wie sie aussehen, auch wenn keine einzige Wohnung in Kiel zur Vermietung stünde, denn ein Mietspiegel sagt schlicht gar nicht darüber aus, ob und in welchem Umfange Wohnungen zur Vermietung angeboten werden), könne von zum Umzug aufgeforderten Leistungsbeziehern dadurch widerlegt werden, dass diese ihre erfolglosen Suchbemühungen über einen Suchzeitraum von 6 Monaten nachprüfbar dokumentieren. Den rund 1.500 Kielern, die erfolglos nach kostengünstigerem Ersatzwohnraum suchen müssen (den es derzeit nicht gibt), kann nur geraten werden, dies gewissenhaft zu tun und Behörden und Gerichte mit ihren Erfahrungen auf der Wohnungssuche zu konfrontieren. Suchhilfen finden sich hier: Vordruck Wohnungssuche Telefonate, Vordruck Wohnungssuche Vorsprache.

Nachtrag 01.06.2018: Der Beschluss des SG Kiel vom 06.04.2018 zum Aktenzeichen S 31 AS 21/18 ER wurde mit Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgrichts vom 01.06.2018, L 6 AS 86/18 B ER, aufgehoben und das Jobcenter verpflichtet, ab Antragseingang der Beschwerde beim LSG vorläufig die tatsächlichen Unterkunfskosten der Antragsteller zu übernehmen, da diesen derzeit ein Wohnungswechsel konkret nicht möglich ist.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen im Kreis Rendsburg-Eckernförde ab 01.03.2018

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Der Kreis Rendsburg-Eckernförde hat im Jahr 2017 eine komplette Neuerstellung seines schlüssigen Konzepts vorgenommen, um die Richtwerte der Mietpreisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt des Kreises Rendsburg-Eckernförde „tiefgründiger“ anzupassen. Die erhobenen und ausgewerteten Daten unter Berücksichtigung der Struktur  des örtlichen Wohnungsmarktes ergeben für das Gebiet des Kreises Rendsburg-Eckernförde nunmehr fünf Vergleichsräume (Mietkategorien) mit  Richtwerten für die Prüfung der abstrakten Angemessenheit von Unterkunftskosten (Bruttokaltmiete ohne Heizkosten). Nach dem Beschluss des Sozial- und Gesundheitsausschusses des Kreistages Rendsburg-Eckernförde vom 08.02.2018 sollen diese neuen Richtwerte ab 01.03.2018 zur Anwendung kommen. Die Mietobergrenzentabelle findet sich hier.

Quelle: https://www.kreis-rendsburg-eckernfoerde.de/verwaltungsportal/soziales-arbeit-und-gesundheit/kosten-der-unterkunft/

Die Fachlichen Weisungen und Hinweise zu den Kosten der Unterkunft des Kreises Rendsburg – Eckernförde finden sich hier:

KdU-Richtlinie des Kreises Rendsburg – Eckernförde

Heizkosten-Richtline des Kreises Rendsburg-Eckernförde

Merkblatt „Umzug“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Ein neues Mieterhöhungsverlangen ist eine neue Angelegenheit

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Die „Begründung“ im Richterbeschluss fällt – vorsichtig gesagt – knapp aus (AG Kiel, Beschluss vom 26.02.2018, 7 UR II 6453/17): „Es handelt sich um eine neue Angelegenheit.“ Für alle Kollegen, die sich mit ähnlichen Selbstverständlichkeiten herumärgern müssen, hier der Hinweis auf ein Beschluss des AG Halle zum Thema:

1. Bei Mieterhöhungsverlangen wird wegen der Schwierigkeit der rechtlichen Probleme – auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten – regelmäßig Beratungshilfe zu gewähren sein.

2. Zur Frage, wann eine Angelegenheit oder mehrere Angelegenheiten i.S.d. § 2 Abs. 2 BerHG vorliegen.

AG Halle, Beschluss vom 18.01.2011, 103 II 6570/10

Aus den Gründen Den Rest des Beitrags lesen »


Volle Mietkostenübernahme, wenn Wohnraum fehlt

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Das Sozialgericht Kiel hat entschieden, dass das Jobcenter Kiel im Jahre 2013 die über der damaligen Mietobergrenze liegenden Unterkunftskosten einer sechsköpfigen Familie in voller Höhe übernehmen musste, weil es der Familie aufgrund fehlenden Wohnraumes auf dem Kieler Wohnungsmarkt objektiv unmöglich war, ihre Mietaufwendungen durch Umzug in eine kostengünstiger Wohnung zu senken.

Zwar ist die Mietobergrenze auf der Grundlage des Mietspiegels 2012 zutreffend berechnet worden. Die tatsächlich zu hohen Unterkunftskosten müssen indessen dann übernommen werden, wenn es den Hilfebedürftigen im konkreten Fall nicht möglich war, ihre Unterkunftskosten insbesondere durch Umzug auf ein angemessenes Maß zu senken. Hiervon ist das Gericht aufgrund des Wohnraumberichtes der Stadt Kiel ausgegangen, wonach insbesondere für größere Familien ausreichender freier Wohnraum nicht mehr zur Verfügung steht.

Unerheblich ist, ob die Unmöglichkeit zur Kostensenkung bereits bei Beginn der Hilfebedürftigkeit, der Leistungsgewährung oder des Kostensenkungsverfahrens vorgelegene hat. Das bedeutet: Auch Hilfebedürftige, die schon länger zu ihrer Miete dazubezahlen, können wieder einen Anspruch auf Übernahme ihrer tatsächlichen Miete haben, wenn eine Kostensenkung durch Umzug nachträglich unmöglich wird, etwa weil sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt verschlechtert.

SG Kiel, Urteil vom 24.04.2017, S 31 AS 461/14 (rechtskräftig)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 02/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Kieler Kostenkästchen“ eine „zu pauschale Betrachtungsweise“

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Der Kostenprüfungsbeamte am Schleswig-Holsteinschen Landessozialgericht hat die auf dem sog. „Kieler Kostenkästchen“ fußende Kostenfestsetzung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle am Sozialgericht Kiel erneut beanstandet und dabei grundsätzliche Kritik an der „Kieler Kostenkästchen-Rechtsprechung“ der 21. Kammer am SG Kiel geübt. Wörtlich heißt es in der Stellungnahme:

„Die Anwendung des von der 21. Kammer des Sozialgerichts Kiel entwickelten „Kieler Kostenkästchens“ halte ich aus der Sicht der Landeskasse für nicht geboten, da die darin enthaltenen Einzelbewertungen eine zu pauschale Betrachtungsweise bietet und insoweit der nach § 14 RVG vorzunehmenden Bewertung nicht gerecht wird.“

Klare Worte, die hoffentlich auch das Schleswig-Holsteinsche Landessozialgericht irgendwann einmal dazu bewegen werden, einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der „Kieler Kostenkästchen-Rechtsprechung“ der 21. Kammer am SG Kiel nicht weiter auszuweichen.

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Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss nahtlosen Übergang in die Grundsicherung sicherstellen

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Jobcenter müssen vor einer Ablehnung von ALG II (Hartz IV) sicherstellen, dass der zukünftig zuständige Sozialleistungsträger die Leistungsgewährung nahtlose ab den Tage seiner Zuständigkeit aufnimmt.

Der Antragsteller stand im laufenden ALG II-Bezug beim Jobcenter Kiel. Aufgrund einer Erkrankung prüfte das Jobcenter, ob die Landeshauptstadt Kiel als Träger der Grundsicherung bei Erwerbsminderung für den Antragsteller zuständig ist. Den Weiterbewilligungsantrag des Antragstellers vom 21.08.2017 auf ALG II für den Zeitraum ab 01.10.2017 lehnte das Jobcenter erst mit Bescheid vom 21.09.2017 ab und verwies diesen auf Grundsicherungsleistungen, ohne sich hierüber zuvor ins Benehmen mit der Stadt Kiel zu setzen und dieser die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Zuständigkeit zu prüfen.

Hierzu war das Jobcenter Kiel nicht berechtigt. Denn aus § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I und § 44a SGB II folgt, dass der zuerst angegangene Sozialleistungsträger vorläufig so lange Leistungen zu erbringen hat, bis der eigentlich zuständige Träger die Leistungsgewährung tatsächlich aufnimmt. Die Verpflichtung, die lückenlose Gewährung existenzsichernder Leistungen sicherzustellen, traf damit das bisher zuständige Jobcenter Kiel. Etwas anders galt auch nicht deswegen, weil der Hilfebedürftige um die Feststellung seiner Erwerbsunfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger wusste, denn das Jobcenter Kiel traf die Verpflichtung, den lückenlosen Übergang der Leistungsgewährung sicherzustellen und die Stadt Kiel hätte die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit auch anzweifeln können.

SG Kiel, Kostenbeschluss vom 26.10.2017, S 37 AS 254/17 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Mietobergrenzen in der Ratsversammlung

Am 18.01.2018 hat die Kieler Ratsversammlung die neuen Mietobergrenzen debattiert und mehrheitlich beschlossen. Für Interessierte habe ich die Aufzeichnung des Tagesordnungspunktes 13.7, Anpassung der Regel-Höchstbeträge für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) und dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII), Drucksache: 1223/2017, hier einmal verlinkt:


Kieler Ratsversammlung beschließt neue Mietobergrenzen

In der heutigen Ratsversammlung hat eine Mehrheit aus SPD, CDU und SSW die neuen Mietobergrenzen beschlossen. Da der Sozialausschuss zuvor nicht beteiligt worden ist, hat die Fraktion Bündnis90/DIE GRÜNEN richtigerweise einen Antrag auf Überweisung zur Beratung in den Sozialausschuss gestellt, dem sich die Fraktion DIE LINKE angeschlossen hat, der aber von einer Mehrheit aus SPD, CDU und SSW abgelehnt wurde.

Das von der Stadt vorgelegte – mit knapp 12 Seiten ungewöhnlich kurze – Konzept dürfte einer sozialgerichtlichen Prüfung absehbar nicht standhalten, da in ihm weder die Berechnungen der Nettokaltmieten noch der Betriebskosten nachvollziehbar dargelegt worden sind. Auffällig ist auch, dass die durchschnittlichen Betriebskosten (arithmetisches Mittel) im MOG-Konzept bei 1,55 €/qm liegen sollen, der Kieler Mietspiegel 2016/2017 hingegen einen Durchschnittswert von 1,91 €/qm nennt. Eine Erklärung auch hierfür findet sich im Konzept nicht.

Zum Schluss ein wenig Lokalkolorit aus der Kieler Ratsversammlung: Der Vertreter der Fraktion DIE LINKE  musste sich vom Sozialdezernenten der Stadt, Gerwin Stöcken (SPD), den eigenwilligen Anwurf gefallen lassen, „da habe ich keinen bösartigeren Grund als zu sagen, dass das hier Wahlkampf ist“. Dass DIE LINKE in Kiel Sozialpolitik macht, das geht aber auch wirklich nicht. Das macht die SPD doch auch nicht! Das ist wirklich ganz und gar ungehörig von den Linken und da muss der SPD-Sozialdezernent – was sonst ja gar nicht seine Art ist – doch ausnahmsweise mal ganz bösartig werden.

Presseerklärung der Ratsfraktion DIE LINKE zum Thema: Mietobergrenze: Pleiten, Pech und Pannen auf Kosten der Betroffenen

Kieler Nachrichten vom 23.01.2018: Streit um neue Mietobergrenzen in Kiel

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Konzept zur Berechnung der ab 01.01.2017 geltenden Kieler Mietobergrenzen

Die Stadt Kiel hat heute – zwei Tage vor der Sitzung der Ratsversammlung am 18.01.2018, auf der die neuen Mietobergrenzen (MOG) beschlossen werden sollen – den Ratsherren und Ratsfrauen ihr Konzept zu Bestimmung der neuen, ab 01.01.2017 geltenden Mietobergrenzen übersandt. Das Konzept findet sich hier. Dass die Ratsmitglieder aufgrund der Kürze der ihnen eingeräumnten Einarbeitungszeit über das Konzept sachkompetent beraten und beschließen können, ist nicht anzunehmen. Nach hiesigen Informationen sollen zudem die Grundlagendaten zum Mietspiegel 2017 und damit auch zum MOG-Konzept nicht mehr verfügbar sein. Sollte sich dies bewahrheiten, dürfte das Konzept und damit auch die neuen MOG vor Gericht keinen Bestand haben.

Nachtrag 20.01.2018: Die Kritik von Teilen der Ratsversammlung entzündet sich offenbar daran, dass die Fragebögen zum Kieler Mietspiegel 2017 vernichtet wurden (siehe dazu Seite 20 in der Dokumentation zum qualifizierten Kieler Mietspiegel 2017). Soweit die Grundlagendaten selbst noch verfügbar sind, dürfte dies allerdings unproblematisch sein.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt 


Neue Mietobergrenzen der Stadt Kiel derzeit nicht anzuwenden

Das Sozialgericht Kiel hat in einem Beschluss vom heutigen Tage entschieden, dass die neuen Mietobergrenzen (MOG) der Stadt Kiel zur Bestimmung der grundsicherungsrechtlichen „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten von Beziehern von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) und SGB XII (u.a. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) derzeit nicht heranzuziehen sind, weil für das Gericht nicht überprüfbar ist, ob die neuen – von der Ratsversammlung noch nicht beschlossenen – MOG auf einem „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen (SG Kiel, Beschluss vom 11.01.2018, S 31 AS 1/18 ER). Denn das angeblich „schlüssige Konzept“ der Stadt Kiel wurde bisher nicht veröffentlicht und auch dem Gericht nicht bekannt gegeben.

Hinzuweisen ist darauf, dass nach § 45 GO SH i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 5 der Hauptsatzung der Stadt Kiel i.V.m. § 1, § 2 g) der dieser Satzung als Anlage beigefügten Zuständigkeitsverordnung neue MOG zunächst vom Sozialausschuss sachverständig vorzubereiten sind. Eine Befassung des Sozialausschuss der Stadt Kiel mit den neuen MOG ist indessen bisher nicht erfolgt und der Sozialausschuss hat den MOG bislang auch nicht zugestimmt (§ 1 der Zuständigkeitsverordnung spricht von „entscheiden“). Allerdings ist die Vorbereitung durch die Fachausschüsse entgegen einer hier zunächst vertretenen Auffassung kein rechtliches Erfordernis für das wirksame Zustandekommen von Beschlüssen (Bracker/Dehn, GO SH, § 45 Nr. 6).

Ernsthafte Zweifel sind an der neuen MOG für Zweipersonenhaushalte angezeigt. Nach Angaben der Stadt sollen die Mietkosten bruttokalt (Grundmiete zuzüglich kalter Betriebskosten) zwischen 2014 und 2017 von 411,00 € auf 406,50 € gesunken sein (siehe Gegenüberstellung der Mietobergrenzen 2014 / 2017). Dies widerspricht allen Berichten zu den in diesem Zeitraum erheblich gestiegenen Grundmieten und Betriebskosten in Kiel.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2018

Das Jobcenter Kiel hat heute auf seiner Homepage die neuen Mietobergrenzen veröffentlicht. Die neuen Obergrenzen sollen erst ab dem 01.01.2018 gelten. Unklar bleibt, welche Mietobergrenzen in der Zeit vom 01.12.2016 bis 31.12.2017 Gültigkeit haben sollen. Die alten Mietobergrenzen aus dem Jahre 2014 hatte das Sozialgericht Kiel in dieser Zeit als nicht mehr aktuell verworfen und Antragstellern in Eilverfahren Leistungen für die Unterkunft bis zur Höhe der alten Mietobergrenzen zuzüglich 10 % zugesprochen. Ungewöhnlich ist auch, dass weder der Sozialausschuss noch die Ratsversammung der Landeshaupstadt Kiel für die Stadt Kiel als anteilige Kostenträgerin den neuen Mietobergrenzen vor deren Veröffentlichung zugestimmt haben. Dass Wohnraum zwischen 50 und 60 Qudartmetern in Kiel seit 2014 nicht teurer geworden sein soll, erscheint wenigstens kontraintuitiv.

Nachtrag 03.01.2018: Das Jobcenter Kiel hat die Angaben auf seiner Homepage korrigiert. Die neuen MOG sollen rückwirkend ab dem 01.01.2017 gelten. Die rückwirkende Anpassung soll von Amts wegen erfolgen, so dass Betroffene keinen Überprüfungsantrag stellen müssen. Für den Monat Dezember 2016 soll offenbar nicht nachgezahlt werden.

Nachtrag 05.01.2018: Das Jobcenter Kiel lehnt in Überprüfungsverfahren, die noch im Jahre 2017 anhängig gemacht worden sind, eine Anerkennung der neuen MOG für den Monat Dezember 2016 ab.

Nachtrag 12.01.2018Neue Mietobergrenzen der Stadt Kiel derzeit nicht anzuwenden

Nachtrag 16.01.2018: Konzept zur Berechnung der MOG 2017/2018

Personenzahl qm MOG seit 01.12.2014 MOG ab 01.01.2017 Differenz
1 bis 50 342,50 Euro 361,00 Euro + 18,50 Euro
2 50-60 411,00 Euro 411,00 Euro +/- 0,00 Euro
3 60-75 510,00 Euro 533,50 Euro + 23,50 Euro
4 75-85 628,50 Euro 642,00 Euro + 13,50 Euro
5 85-95 702,50 Euro 728,00 Euro + 26,00 Euro
6 95-105 776,00 Euro 802,00 Euro + 26,00 Euro
7 105-115 850,00 Euro 876,00 Euro + 26,00 Euro
je weitere Pers. + 10m² 74,00 Euro

Jobcenter muss Kosten einer Brillenreparatur übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Bezieher von ALG II (Hartz IV) haben einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Reparatur ihrer Brille.

Nach § 24 Abs. 3 Nr. 3 SGB II haben ALG II-Bezieher gegenüber dem Jobcenter einen Anspruch auf Übernahme ihrer Kosten für die „Anschaffung und Reparaturen von orthopädischen Schuhen, Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten“. Auf dieser Grundlage beantragte der Kläger beim beklagten Jobcenter die Übernahme der Kosten für die Einarbeitung eines Brillenglases (Einarbeiten: 10 Euro, 1 Glas links: 65,50 Euro, Entspiegelung: 44 Euro, abzüglich 9,50 Euro, Gesamtpreis: 110 Euro). Das Jobcenter lehnte diesen Antrag ab. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte das Jobcenter, dem Kläger die Kosten in Höhe von 66 Euro zu erstatten, weil die Brille ein therapeutisches Gerät sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil medizinische Gründe für die Entspiegelung nicht ersichtlich seien. Mit der vom LSG zugelassen Revision rügte das Jobcenter, eine Brille sei kein therapeutisches Gerät.

Das BSG hat die Berufung des Jobcenters zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Sonderbedarfe nach § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II seien eingeführt worden, um Bedarfe abzudecken, die nicht in die Ermittlung des Regelbedarfs eingeflossen sind. Nach den Ausfüllhinweisen des Statistischen Bundesamts zur EVS 2008 fielen unter die Wendung „therapeutische Geräte und Ausrüstungen“ auch Brillen. Demgemäß wurde die Reparatur von Brillen im Rahmen der EVS 2008 in eine Rubrik eingetragen, die nicht in die Regelbedarfsermittlung eingeflossen ist und deren Bedarfe durch den Sonderbedarf nach § 24 Abs. 3 SGB II abgedeckt werden sollen.

(BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 4/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2017

Siehe auch: Hartz IV: Brille als Sonderbedarf

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


34C3: Das besondere Anwaltspostfach beA als besondere Stümperei

Darmstädter Hacker zeigen, dass das besondere elektronische Anwaltspostfach, kurz beA, mit veralteter Software und einem veralteten Anwendungskonzept entwickelt wurde. Hier weiterlesen.


1.461 Kieler Hartz IV Familien müssen zu ihrer Miete zuzahlen

Auf eine kleine Anfrage des Ratsherrn Arne Langniß (Ratsfraktion Bündnis90/DIE GRÜNEN) hat die Stadt Kiel erstmals konkrete Angaben zu der Zahl der Bedarfsgemeinschaften im ALG II Bezug gemacht, die aus ihrem Regelsatz zu ihrer Miete dazuzahlen müssen, weil das Jobcenter Kiel ihre Unterkunftskosten nicht in voller Höhe anerkennt. Im Leistungsbereich des Jobcenters Kiel sind danach bei 1.461 von 18.778 Bedarfsgemeinschaften (= 7,78 %) die tatsächlichen Kosten der Unterkunft höher als die angemessenen Kosten der Unterkunft.

Im Bereich von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie der Hilfe zum Lebensunterhalt kann nach Angaben des Sozialdezernenten keine belastbare Aussage getroffen werden. Von 6.977 Bedarfsgemeinschaften wohnen 200 bis 400 Bedarfsgemeinschaften in Wohnraum, dessen Kosten über den städtischen Mietobergrenzen liegen. Wegen der besonderen persönlichen Voraussetzungen würden im Einzelfall aber erhöhte Unterkunftskosten anerkannt, so dass weniger Haushalte betroffen seien, die derzeit die Differenz von der Mietobergrenze zur tatsächlichen Miete selbst tragen müssten.

Moratorium bei Mietsenkungsverfahren und 10 % Aufschlag bei Neuanmietungen

Die Landeshauptstadt Kiel als Träger der Sozialhilfe sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung hat mit dem Jobcenter abgestimmt, bis zur Vorlage neuer Mietobergrenzen keine neuen Mietsenkungsverfahren einzuleiten. Da die Stadt Kiel davon ausgeht, dass die angemessenen Kosten der Unterkunft ansteigen, folgt sie der Empfehlung des Sozialgerichts Kiel und erkennt bei Neuanmietungen „weitestgehend“ die Werte der alten Mietobergrenzen zuzüglich 10 % an.

Überprüfungsanträge stellen!

Keine Aussagen trifft die Stadt Kiel hingegen zu ihrem Umgang mit Bestandsmietverhältnissen, in denen Leistungsberechtigte schon jetzt zu ihrer Miete dazuzahlen. Aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit – die Stadt erkannte hier die angehobenen Mietobergrenzen nicht rückwirkend an – ist Leistungsbeziehern dringend zu raten, rückwirkend ab 01.12.2016 noch in diesem Jahr Überprüfungsanträge nach § 40 Abs. 1 Satz Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 SGB X zu stellen.

Falls es Unterschiede geben sollte …

Ein wenig schmunzeln lässt die Antwort der Stadt auf die Frage, ob bei den anzuerkennenden Unterkunftskosten zwischen Angebotsmieten bei Neuanmietung und Bestandsmieten unterschieden wird. „Falls es Unterschiede geben sollte“, so der Sozialdezernent, „spielt dies bei den angemessenen Kosten der Unterkunft keine Rolle.“ Jeder, der mal einen Blick in eines der großen Wohnungssuchportale wirft, wird sich schnell davon überzeugen können: Ja, da gibt es ganz gewaltige Unterschiede.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Anwaltsgebühren: Selbst der Kostenprüfungsbeamte am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht folgt der Kostenrechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Bereits mehrfach habe ich an dieser Stelle über die höchst eigentümliche Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel berichtet. Nun zeichnet sich ab, dass selbst der Kostenprüfungsbeamte bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht der Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr zu folgen gedenkt. In einem Eilverfahren hatte ich die Festsetzung meiner Prozesskostenhilfevergütung in Höhe von 300,00 € zuzüglich Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer, zusammen 380,80 €, beantragt. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle am SG Kiel setzte meinen Gebühren auf 217,00 € zuzüglich Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer, zusammen 282,03 €, fest. Hiergegen legte ich Erinnerung ein und führte aus:

Begründung der Gebühr, § 14 RVG: Bedeutung aufgrund der erheblichen monatlichen Bedarfsunterdeckung von 96,50 € durch Zuzahlung zur Miete durch überdurchschnittlich hoch. Umfang mit 9 Schriftsätzen und einer 7seitigen Antragsschrift für ein ER-Verfahren ebenfalls überdurchschnittlich hoch. Schwierigkeit der Rechtsmaterie aufgrund neuer noch ungeklärter Rechtsfragen überdurchschnittlich. Geringe Einkommens- und Vermögensverhältnisse führen weder zu einer Herab- noch Heraufsetzung: BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, Rz. 38: “In den allermeisten Fällen werden jedoch, wie hier, schlechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse mit einer überdurchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit einhergehen, sodass eine Kompensation dieser Kriterien [Anm: der unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse] eintritt (vgl. hierzu OLG Thüringen, Beschluss vom 2. 2. 2005 – 9 Verg 6/ 04 = JurBüro 2005, 303, 305 f; Jungbauer in Bischof, RVG, 2. Aufl 2007, RdNr 72 mwN).“ Das besondere Haftungsrisiko kann die Gebühren lediglich erhöhen, aber nicht herabmessen (BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, in Rn. 20 und 39). Die von mir gewählte Mittelgebühr ist mithin eher niedrig gegriffen.“

In seiner Stellungnahme vom 23.11.2017 beantragte der Kostenprüfungsbeamte bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, meiner Erinnerung stattzugeben, weil diese begründet sei. Zur Begründung hat der Kostenprüfungsbeamte ausgeführt:

„Unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14 RVG stellt sich vorliegend der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit als zumindest durchschnittlich dar. Es ist ein mit einer Be­gründung versehener Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Schriftsatz vom 13. September 2017 gestellt sowie sechs weitere Schriftsätze mit Sachvortrag vorgelegt worden. Ein Schriftwechsel zwischen den Beteiligten hat stattgefunden. Beweis wurde nicht erhoben. Der dokumentierte Zeitaufwand hat dem entsprochen, was in einem sozialgerichtlichen Verfahren üblicherweise anfällt.

Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit entspricht ebenfalls dem Durchschnitt. In dem Verfahren wurde Über Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) gestritten. Derartige Rechtsstreitigkeiten sind den sozialgerichtlichen Durch­schnittsfällen zuzurechnen. Anhaltspunkte, die auf vom Durchschnittsfall abweichende Besonderheiten schließen lassen, sind nicht ersichtlich.

Die Bedeutung der Angelegenheit für die Antragstellerin ist grundsätzlich überdurch­schnittlich, da existenzielle Leistungen begehrt werden, aber wegen der regelmäßigen Vorläufigkeit des Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz lediglich durchschnittlich.

Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerin liegen unter dem Durchschnitt.

Bei Betrachtung aller Kriterien des § 14 RVG erscheint die Festsetzung der Verfah­rensgebühr in Höhe der Mittelgebühr als angemessen.“

Meinen Kollegen kann ich nur raten, sich gegen die Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel konsequent zur Wehr zu setzen. Wo es möglich ist, sollte über Prozesskostenhilfe abgerechnet werden, um gegen Beschlüsse der 21. Kammer am SG Kiel in die Beschwerde gehen zu können. Dass selbst der Kostenprüfungsbeamte bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht der Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr folgt, zeigt, wie weit sich die 21. Kammer am SG Kiel mit ihrer schematischen Anwendung des sog. Kieler Kostenkästchens von einer dem Einzelfall gerecht werdenden, der höchstrichterlichen Rechtsprechung Rechnung tragenden und die anwaltliche Arbeit angemessen honorierenden Rechtsprechung entfernt hat.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Fahrtkosten zur Waldorfschule übernehmen

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Schulpflichtige Kinder, deren Eltern von ALG II leben und die für den Besuch der „nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs“ auf einen Schuldbus angewiesen sind, erhalten vom Jobcenter ihre tatsächlichen Fahrtkosten abzüglich eines Eigenanteils von 5 € erstattet. Einer Schülerin aus Husum, die die Grundschule einer privaten Waldorfschule in Flensburg besuchte, lehnte das Jobcenter die Übernahme ihrer Buskosten mit der Begründung ab, sie könne auch in Husum eine Grundschule besuchen, die sie zu Fuß erreichen könne. Das Sozialgericht Schleswig und das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht bestätigten die Entscheidung des Jobcenters. Das Bundessozialgericht gab nun der Schülerin Recht.

Die Waldorfschule in Flensburg nämlich war für die Schülerin die „nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs“. Denn die Waldorfschule in Flensburg weist gegenüber den näher gelegenen öffentlichen Grundschulen in Husum einen „eigenständigen Bildungsgang“ auf. Zur Ausfüllung des Begriffs des „Bildungsgangs“ kann nämlich nicht allein auf die Schulart „Grundschule“ zurückgegriffen werden. Vielmehr ist auf das Profil der Grundschule abzustellen, soweit hieraus eine besondere inhaltliche Ausgestaltung des Unterrichts folgt, die nicht der näher gelegenen Schule entspricht. Diese besondere Profilbildung belegen im Hinblick auf die von der Schülerin besuchten Waldorfschule schon die besonderen Anforderungen, die für den Erwerb der allgemeinbildenden Schulabschlüsse an Waldorfschulen nach Schleswig-Holsteinischem Landesrecht gelten.

(BSG, Urteil vom 05.07.2017, B 14 AS 29/16 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Altersvorsorgevermögen aus tatsächlich geförderten Riester-Renten ist unpfändbar

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Der unter anderem für Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass das in einem Riester-Vertrag angesparte Guthaben nicht pfändbar ist, soweit die vom Schuldner erbrachten Altersvorsorgebeiträge tatsächlich gefördert werden und den Höchstbetrag nicht übersteigen.

Dem Insolvenzverwalter steht ein Kündigungsrecht nur zu, wenn der Rentenversicherungsvertrag dem Insolvenzbeschlag unterliegt. Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, gehören nicht zur Insolvenzmasse. Ob das in einem Riester-Vertrag angesparte Guthaben pfändbar ist und damit der Zwangsvollstreckung unterliegt, richtet sich nach § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 97 Satz 1 EStG. Da diese Ansprüche kraft gesetzlicher Anordnung nicht übertragbar sind, sind sie auch nicht pfändbar.

§ 851c ZPO ist durch das Gesetz zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge vom 26. März 2007 (BGBl I 2007, 368) eingeführt worden. Damit hat der Gesetzgeber jedoch keine zusätzlichen Anforderungen an die Unpfändbarkeit von Ansprüchen aus Riester-Renten geschaffen. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Riester-Vertrag unkündbar ist (§ 851c Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Soweit danach § 851c ZPO für die Unpfändbarkeit von Ansprüchen aus Verträgen Anforderungen an die Ausgestaltung der Vertragsbedingungen stellt, die von Riester-Verträgen nicht eingehalten werden müssen, handelt es sich um eine unterschiedliche gesetzgeberische Wertentscheidung. Der Gesetzgeber wollte durch § 851c ZPO den Schutz von Altersvorsorgeansprüchen verbessern. Daher kann dem Gesetz nichts dafür entnommen werden, dass die Unpfändbarkeit von Ansprüchen aus Riester-Renten gegenüber der Rechtslage nach § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 97 Satz 1 EStG zukünftig erschwert werden sollte.

Allerdings hängt der Pfändungsschutz für das in einem Riester-Vertrag angesparte Kapital davon ab, ob die Altersvorsorgebeiträge tatsächlich durch eine Zulage gefördert worden sind. Ausreichend für die Unpfändbarkeit ist, wenn der Altersvorsorgevertrag im Zeitpunkt der Pfändung förderfähig war, der Schuldner bereits einen Zulagenantrag für die entsprechenden Beitragsjahre gestellt hatte und die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zulage vorlagen. Nachdem zwischen den Parteien streitig ist, ob die Schuldnerin einen Zulageantrag gestellt und eine staatliche Zulage erhalten hat, hat der Senat den Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung an das Landgericht zurückverwiesen.

BGH, Versäumnisurteil vom 16.11.2017, IX ZR 21/17


Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung

Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in „angemessener“, sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf „angemessene“ Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem am 14.11.2017 veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnt alleine eine 77 qm große Wohnung, für die das Jobcenter die Miet- und Heizkosten zunächst vollständig und seit 2008 nur teilweise übernahm. Ihre Klage auf vollständige Kostenübernahme wies das Sozialgericht ab; Berufung und Revision blieben erfolglos. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde trägt sie vor, in ihrem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt zu sein. Daneben hat das Sozialgericht Mainz dem Bundesverfassungsgericht zwei Verfahren vorgelegt, weil es die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) II zu den Kosten der Unterkunft und Heizung für verfassungswidrig hält.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

  1. Die mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen einer Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II greifen nicht durch. Die Regelung genügt der Pflicht des Gesetzgebers, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.
  2. a) Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gewährleistet das gesamte menschenwürdige Existenzminimum, zu dessen Sicherung auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu decken sind. Das Grundgesetz gibt keinen exakt bezifferten Anspruch auf Sozialleistungen vor. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss aber durch ein Gesetz gesichert sein, das einen konkreten Leistungsanspruch enthält.
  3. b) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung normiert hat. Zwar betrifft diese Bedarfsposition die grundlegende Lebenssituation eines Menschen. Doch ergibt sich daraus nicht, dass auch jedwede Unterkunft im Falle einer Bedürftigkeit staatlich zu finanzieren und Mietkosten unbegrenzt zu erstatten wären.
  4. c) Der Gesetzgeber durfte den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit verwenden, um die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung zu begrenzen. Was hier als „angemessen“ zu verstehen ist, lässt sich durch Auslegung und insbesondere unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte und der weiteren Regelungen des Sozialgesetzbuches ausreichend bestimmen. Danach ist der konkrete Bedarf der Leistungsberechtigten einzelfallbezogen zu ermitteln. Dabei gehen die Fachgerichte davon aus, dass anhand der im unteren Preissegment für vergleichbare Wohnungen am Wohnort der Leistungsberechtigten marktüblichen Wohnungsmieten ermittelt werden kann, welche Kosten konkret angemessen sind und übernommen werden müssen.
  5. Mit separatem Beschluss hat die Kammer festgestellt, dass die Vorlagen des Sozialgerichts Mainz unzulässig sind. Es fehlte eine hinreichende Darlegung durch das vorlegende Gericht, dass und wie die Anspruchsgrundlage ausgelegt werden kann, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu entsprechen.

Pressemitteilung Nr. 96/2017 vom 14. November 2017

Beschluss vom 10. Oktober 2017, Beschluss vom 06. Oktober 2017
1 BvR 617/14
1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15


Mietobergrenzen in Kiel: Bis 31.01.2018 muss die Stadt neue Mietobergrenzen beschließen

Seit dem 01.12.2016 verfügt die Landeshauptstadt Kiel über keine aktuellen Mietobergrenzen für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“), der Grundsicherung nach dem SGB XII sowie dem Asylbewerberleistungsgesetz mehr. In Eilverfahren haben – soweit hier ersichtliche – alle Kammern am SG Kiel Betroffenen, die zu ihrer Miete hinzuzahlen müssen, Leistungen für die Unterkunft in Höhe der alten Mietobergrenzen aus dem Jahre 2014 zuzüglich eines Zuschlags von 10 % zugesprochen (siehe dazu: SG Kiel: Kieler Mietobergrenzen sind seit Dezember 2016 um 10 Prozent zu erhöhen).

Hatte zunächst eine Kammer am SG Kiel der Stadt eine Frist zum Beschluss neuer Mietobergrenzen bis 30.09.2017 gesetzt (anschließend Rückgriff auf die sehr viel höheren Werte nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 %), scheint sich nun am SG Kiel kammerübergreifend die Auffassung durchgesetzt zu haben, der Stadt eine Frist bis zum 31.01.2018 zuzugestehen, um neue Mietobergrenzen zu verabschieden (siehe aktuell: SG Kiel, Beschluss vom 07.11.2017, S 23 SO 23/17 ER). Sollten bis dahin keine neuen Mietobergrenzen vorliegen, beabsichtigen einzelne Kammern am SG Kiel nach diesseitigen Informationen, auch in Hauptsacheverfahren ab 01.12.2016 Leistungen für die Unterkunft in Höhe der Wohngeldtabelle plus 10 % zuzusprechen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine vorläufige Minderung von ALG II bei möglicher Sperrzeit

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Prüft die Bundesagentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit wegen Arbeitsplatzaufgabe ohne „wichtigen Grund“ und beantragt der Arbeitslose deswegen zunächst ALG II, darf das Jobcenter Leistungen nach dem SGB II nicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II über § 41 a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Begründung vorläufig um 30 % mindern, es bestehe die Möglichkeit, dass der Arbeitslose bei vollem ALG I nicht hilfebedürftig sein könnte und bei einem Anspruch auf ergänzendes ALG II (zum ALG I) die Anspruchshöhe noch nicht klar sei.

Nach Auffassung des Sozialgerichts Schleswig lässt die Rechtsauffassung des beklagten Jobcenters „ein grundsätzliches falsches Verständnis“ der Regelung zur vorläufigen Leistungsbewilligung erkennen. Die Möglichkeit zur vorläufigen Leistungsbewilligung solle gerade bewirken, dass ein Leistungsberechtigter bereits Leistungen erhalten kann, obwohl Grund und Höhe seines Anspruches noch nicht mit Sicherheit feststellbar sind. Die Zeit, die der Leistungsträger für die zur Feststellung des Anspruches bzw. der Anspruchshöhe erforderlichen Ermittlungen benötigt, soll dabei nicht zu Lasten des Leistungsberechtigten gehen. Mit diesem Gesetzeszweck ist es nicht vereinbar, dass ein Leistungsträger – hier das Jobcenter – im Rahmen einer vorläufigen Bewilligungsentscheidung zu Lasten des Hartz-IV-Empfängers davon ausgeht, dass ein Sanktionstatbestand erfüllt ist, ohne das bislang feststeht, ob die Sanktionsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen. Eine solche Handhabung laufe „dem Gesetzeszweck diametral zuwider“. Die Leistungen waren vorläufig ungemindert zu gewähren.

SG Schleswig, Beschluss vom 11.05.2017, S 2 AS 57/17 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Rückforderung von ALG II bei Nichtbenennung aller Bescheide im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid

Bundessozialgericht in Kassel

Die Aufhebung von fehlerhaften ALG II-Bewilligungsbescheiden sowie die ensprechenden Erstattungsverlangen der Jobcenter wurden von den Gerichten bisher nicht selten aus einem einfachen, formalen Grunde aufgehoben: Die Jobcenter hatten im Verfügungssatz der Aufhebungsbescheide nicht alle für den betreffenden Zeitraum erlassenen Änderungsbescheide ausdrücklich unter Datumsangabe benannt. Wies das Gericht auf diese Problematik hin, war den Jobcentern eine Korrektur aufgrund der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X im Regefall nicht mehr möglich. Die jeweiligen nicht aufgehobenen und damit endgültig bestandkräftigen (fehlerhaften) Änderungsbescheide vermittelten den Leistungsbereuchtigen ein „Recht zum Behaltendürfen“, die fehlerhaft gewährten ALG II-Leistuntungen konnten nicht (mehr) zurückgefordert werden. Diese Rechtsprechung hat das BSG nun ein Stück weit eingeschränkt.

Sachverhalt

Der 1956 geborene Kläger handelte seit 2003 insbesondere mit Markenuhren. Die daraus erzielten Einnahmen – pro Jahr jeweils mehr als 40.000 Euro – teilte er dem beklagten Jobcenter nicht mit, sondern bezog von diesem vom 01.01.2005 bis 31.10.2007 ALG II und war über das Jobcenter kranken-, pflege- und rentenversichert. Die Leistungen wurden ihm durch mehrere Bewilligungsbescheide sowie Änderungsbescheide bewilligt. Nachdem das beklagte Jobcenter von den Einnahmen erfahren hatte, hob es die Bewilligungsbescheide ausdrücklich auf und forderte die vom 01.01.2005 bis 31.10.2007 erbrachten Leistungen einschließlich gezahlter Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung in Höhe von circa 29.200 Euro zurück.

Das SG hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des beklagten Jobcenters aufgehoben, soweit die Erstattung von mehr als circa 18.670 Euro begehrt wurde, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die im Verfügungssatz des Bescheides nicht ausdrücklich genannten Änderungsbescheide seien nicht aufgehoben worden und ständen einer höheren Erstattung entgegen. Das nur vom beklagten Jobcenter angerufene LSG hat dies bestätigt.

Mit der ebenfalls nur vom beklagten Jobcenter eingelegten Revision rügt dieses eine Verletzung von §§ 45, 50 SGB X. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid habe sich auf den gesamten Zeitraum erstreckt und alle in dieser Zeit ergangenen Änderungsbescheide umfasst, auch wenn sie nicht in seinem Verfügungssatz ausdrücklich aufgeführt worden seien.

Entscheidungsgründe des BSG

Die Revision des Beklagten ist im Wesentlichen erfolgreich gewesen. Die Urteile des LSG und des SG sind geändert worden. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist nur insoweit aufgehoben worden, wie die Erstattung von Beiträgen zur Rentenversicherung in Höhe von 2.280 Euro gefordert wird. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden.

Entgegen der Ansicht von SG und LSG ist dem angefochtenen Bescheid nicht nur die Aufhebung der in dessen Verfügungssatz ausdrücklich genannten Bescheide zu entnehmen, sondern die Aufhebung aller Bescheide, die Regelungen für den im Verfügungssatz genannten Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.10.2007 enthalten. Dies folgt nach dem zugrunde zu legenden objektiven Empfängerhorizont aus der weiteren Begründung des Bescheids, an dem hinsichtlich seiner Bestimmtheit angesichts des genannten Zeitraums und der aufgegliederten Erstattungsforderung keine Zweifel bestehen. Spätestens dem Widerspruchsbescheid konnte der Kläger genau aufgeführt für die einzelnen Zeiträume die betroffenen Änderungsbescheide entnehmen.

Die Aufhebung des Erstattungsbegehrens hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge beruht auf dem Fehlen einer Rechtsgrundlage.

BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 9/17 R


Hartz IV: Antragsstellung nicht vergessen!

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Leistungen nach dem SGB II (ALG II) werden nur ab dem Monat der Antragstellung bewilligt (§ 37 SGB II). In der anwaltlichen Beratung wird immer wieder gefragt, ob vom Jobcenter nicht auch für Monate vor der Antragstellung ALG II gezahlt werden kann, wenn ein Hilfebedürftiger ohne sein Verschulden – etwa aus gesundheitlichen Gründen – daran gehindert war, einen ALG II-Antrag zu stellen.

Die Antwort lautet: Im Regelfall nicht. Zwar kann demjenigen, der ohne sein Verschulden daran gehindert war, ein gesetzliche Frist einzuhalten, auch im Sozialrecht „Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand“ gewährt werden (§ 27 SGB X). Allerdings ist die ALG II-Antragstellung an keine „Frist“ gebunden. Es ist nur geregelt, dass es vor der Antragstellung kein ALG II gibt. Weil es keine Frist gibt, ist deswegen auch keine Wiedereinsetzung möglich. Allerdings können Hilfebedürftige in Ausnahmefällen einen sog. „sozialrechtlichen Herstellungsanspruch“ darauf haben, so gestellt zu werden, als hätten sie ihren Antrag rechtzeitig gestellt, wenn die Behörde sie nicht oder falsch beraten hat und sie deswegen keinen ALG II-Antrag gestellt haben. Eine Nichtberatung liegt etwa vor, wenn das Jobcenter auf die Erforderlichkeit der Stellung eines Weiterbewilligungsantrages nicht hingewiesen hat. Eine Falschberatung liegt z.B. vor, wenn ein Behördenmitarbeiter erklärt, ALG II gäbe es grundsätzlich nur als Darlehen oder ein Anspruch bestünde ohnehin nicht – und der Hilfebedürftige deswegen von einer Antragstellung absieht.

BSG, Urteile vom 18.11.2011, B 4 AS 29/10 R und B 4 AS 99/10 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Tätigkeitsbericht 2016: Bürgerbeauftragte berichtet von Problemen mit Hartz IV, dem Zugang zum Krankenversicherungsschutz und bei Leistungen für Kinder mit Behinderungen

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, hat heute (Donnerstag) in Kiel ihren Tätigkeitsbericht 2016 vorgestellt. Die Bürger richteten 3.323 Petitionen an die Beauftragte, um ihre Sorgen, Nöte und Ängste vorzutragen, weil sie Streitigkeiten und Probleme mit den Sozialbehörden hatten. Wie in den letzten Jahren bildeten die Eingaben zum Bereich Grundsicherung für Arbeit-suchende/Hartz IV den Schwerpunkt der Arbeit (876). Seit Bestehen des Amtes (eingerichtet 1988) gab es insgesamt 76.923 Petitionen.

Im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder im Alter ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in einigen Regionen des Landes immer noch ein gravierendes Problem. „Der Umgang der Jobcenter und auch der Sozialämter mit den schlüssigen Konzepten zur Bestimmung der Mietrichtwerte muss vor diesem Hintergrund flexibler, mit mehr Augenmaß und erhöhter sozialer Verantwortung erfolgen“, erläuterte El Samadoni. „Das bedeute auch, dass in Einzelfällen eine Miete übernommen werden muss, die über dem Mietrichtwert liegt.“ Hierzu gehöre zudem, dass die Konzepte wegen der Dynamik am Wohnungsmarkt jährlich und bei besonderen Ereignissen auch unterjährig zu überprüfen und an die Wohnungsmarktsituation anzupassen seien. Schließlich müssten auch die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und von älteren Menschen stärker berücksichtigt werden.

Sprunghaft angestiegen sind im Berichtsjahr die Petitionen rund um die gesetzliche Krankenversicherung von 353 Eingaben in 2015 auf 450 Eingaben. Das ist zugleich die höchste Zahl an Eingaben zu diesem Bereich seit Bestehen der Dienststelle. Bisher setzt sich diese Entwicklung auch im laufenden Berichtsjahr fort. Als besorgniserregend bezeichnet El Samadoni auch die Themen, mit denen sich die Hilfesuchenden an die Bürgerbeauftragte wandten: So erhalten immer mehr Menschen lediglich eine Notversorgung, weil sie wegen Beitragsrückständen keinen umfassenden Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung mehr bekommen. „Viele Bürgerinnen und Bürger können sich eine gute Gesundheitsversorgung nicht leisten, weil ihre Einkommenssituation das nicht zulässt“, erklärte El Samadoni. Auch der schwierige Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung ist für viele Menschen ein zunehmend wichtiges und existenzielles Thema. Hier sei zu beobachten, so die Bürgerbeauftragte, wie sich die seit dem 1. August geltende Erleichterung eines Zugangs zur Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner für Menschen auswirke, die Kinder erzogen haben.

Ein wichtiges Thema im vergangenen Jahr war der Bereich KiTa. Familien beklagten sich über zu hohe Gebühren und dadurch entstehende finanzielle Schwierigkeiten. Andere Betroffene wandten sich an die Bürgerbeauftragte, weil es erhebliche Probleme gab, einen bedarfsgerechten KiTa- oder Krippenplatz zu finden. Das galt insbesondere für Krippenplätze für U-3 Kinder. „In vielen Fällen stand deswegen der Rechtsanspruch auf einen KiTa- oder Krippenplatz lediglich auf dem Papier“, erläuterte El Samadoni. „Probleme nehme ich ganz besonders für U-3 Kinder mit Behinderung wahr, die wegen ihres gesteigerten Unterstützungs- und Hilfebedarfs oft erhebliche Schwierigkeiten haben, einen bedarfsgerechten Krippenplatz zu finden,“ so die Bürgerbeauftragte weiter. Sie appelliert daher an Land und kommunale Ebene, sich dieser Problematik zeitnah und intensiv anzunehmen. „Behinderte Kinder unter drei Jahren müssen als Schwächste der Schwachen genauso Zugang zu Krippenplätzen haben, wie Kinder ohne Behinderung.“ Das werde durch die momentanen Finanzierungsregelungen nicht gewährleistet. Über den Landesrahmen-vertrag müssten Grundlagen geschaffen werden, damit auch ein adäquates Angebot an Integrationsplätzen in den Krippen geschaffen werden könne.

Ein besonderes Problem war 2016 in einigen Kreisen erneut die Schulbegleitung für Kinder mit Behinderung bei inklusiver Beschulung. So war es für viele Eltern schwierig, für ihre Kinder eine bedarfsgerechte Hilfeleistung zu erhalten, da unter Hinweis auf eine Eilentscheidung des Landessozialgereichtes aus dem Jahr 2014 Leistungen gekürzt oder ganz versagt wurden. Hintergrund war hier, dass die kommunale Eingliederungshilfe die Ansicht vertrat, dass die Schule für den durch das Schulgesetz definierten „pädagogischen Kernbereich“ verantwortlich sei und daher kein Anspruch auf Schulbegleitung bestünde. Ganz im Sinne der Bürgerbeauftragten ist diese Fragestellung durch das Bundessozialgericht gelöst worden: Das Gericht hat im Dezember 2016 nochmals ausdrücklich betont, dass es beim pädagogischen Kernbereich nicht auf landesrechtliche Regelungen wie das Schulgesetz ankommt, sondern nur auf Bundesrecht. In der Folge ist in Schleswig-Holstein das Landessozialgericht von seiner bisherigen Rechtsprechung abgerückt. Das führte zu dem erfreulichen Ergebnis, dass es keine Beschwerden mehr über nicht bedarfsgerechte Entscheidungen der Eingliederungshilfe aus diesem Grund gibt.

Pressemitteilung Nr. 176 / 14. September 2017


Hartz IV: Einkommensteuernachzahlung ist Betriebsausgabe

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Müssen selbständige ALG II-Bezieher Einkommensteuer für zurückliegende Jahre nachzahlen, so ist diese Nachzahlung als Betriebsausgabe vom Einkommen aus selbständiger Tätigkeit abzusetzen.

In der Rechtsprechung wird vielfach die Auffassung vertreten, bei einer Einkommensteuernachzahlung handele es sich um eine sog. personenbezogene Ausgabe, weil alle Personen der Einkommensteuerpflicht unabhängig davon unterliegen, ob sie Einkommen  aus selbständiger oder nichtselbständiger Arbeit beziehen.  Die Einkommensteuernachzahlung könne deswegen keine Betriebsausgabe sein. Zudem handele es sich bei einer Steuernachzahlung um Schulden aus Zeiten vor dem aktuellen Bewilligungszeitraum.

Dieser Rechtsprechung ist das SG Chemnitz und ihm folgend das Sozialgericht Kiel entgegen getreten. Zutreffend weisen beide Gerichte darauf hin, dass für die Zuordnung als Betriebsausgabe allein darauf abzustellen ist, ob sich die Steuer der im Bewilligungszeitraum ausgeübten selbständigen Tätigkeit zuordnen lässt. Beruht die Steuernachzahlung auf Einkünften aus der immer noch ausgeübten selbständigen Tätigkeit, handelt es sich auch nicht um Schulden, da Steuern erst mit ihrer Festsetzung fällig und damit sozialrechtlich zu berücksichtigen sind.

(SG Chemnitz, Urteil vom 25.05.2016, S 35 AS 3984/14; SG Kiel, Vergleich vom 14.11.2016, S 40 AS 100/15)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Umzugshelfer vom Studentenwerk?

Im – grundsätzlich legitimen – Interesse einer möglichst weitreichenden Kostenminimierung lese ich in Schreiben der Jobcenter immer wieder Dinge, die mich spontan stutzig machen. Von angeblich kostenlosem Wohnraum in Kiel (in Obdachlosenunterkünften, die dann so ganz kostenlos auch wieder nicht sind) bis hin zu kostenlosen Möbeln (vom Sperrmüll) scheinen der Phantasie wenig Grenzen gesetzt.

Heute nun las ich in einem Schreiben des Jobcenters Kiel, „Umzugshelfer“ für das Einladen ihrer Möbel in Kiel könne eine Mandantin beim Studentenwerk „erfragen“. Also Umzugshelfer vom Studentenwerk? Kiel hat eine Universität. So weit, so gut. Aber dass das dortige Studentenwerk ALG II-Empfängern Umzugshelfer vermittelt, schien wenigstens kontraintuitiv. Also ein kurzer Anruf beim stellvertretenden Abteilungsleiter Personal und Recht beim Studentenwerk Schleswig-Holstein: Bekommt meine Mandantin bei Ihnen Umzugshelfer? Erstaunen. Man müsse das mal prüfen. Wenig später die E-Mail: „Sehr geehrter Herr Hildebrandt, hiermit kann ich Ihnen mitteilen, dass das Studentenwerk SH keinen Umzugshelfer für ALG II-Empfänger stellt.“ Wer hätte das gedacht?

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Kieler Kostenkästchen“ ade?

Sozialgericht Kiel

Jeder Kieler Rechtsanwalt kann ein Lied davon singen und sich dabei der mitfühlenden Anteilnahme seiner auswertigen Kollegen sicher sein: Die Rede ist vom sog. „Kieler Kostenkästchen“ (böse Zungen sprechen auch vom „Kieler Käsekästchen“), dem Versuche eines Kieler Sozialrichters, die Anwaltsgebühren im Sozialrecht auf den Cent genau zu bestimmen und festzusetzen. Dabei sollte der Gebrauch des Diminutivs nicht den Blick darauf verstellen, dass dieser „kleine Kasten“ mit schönster Regelmäßigkeit auf 10 bis 20 bedruckten Seiten Raum zu greifen pflegt – was für sich genommen schon ein Ärgernis ist (hier ein eher harmloses Beispiel mit „nur“ neun Seiten). In rechtlicher Hinsicht gravierender wiegt, dass diese Kammer-Rechtsprechung in vielfacher Hinsicht mit der Rechtsprechung des BSG zur Ausfüllung des Gebührenrahmens in sozialrechtlichen Angelegenheiten (grundlegend BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R) unvereinbar ist. Insbesondere die Auffassung, die aufgrund der „Kostenkästchen“-Rechtsprechung mutmaßlich mögliche exakten Gebührenbestimmung lasse keinen Platz mehr für den (in allen Rechtsgebieten und von allen Gerichten im Grundsatz anerkannten) Ermessensspielraum (von ungefähr 20 %) des Anwalts, ist – vorsichtig formuliert – selbstbewusst.

Die 45. Kammer am SG Kiel hat es nun etwas strenger formuliert und der „Kieler Kostenkästchen“-Rechtsprechung regelungssystematische und logische Fehler nachgewiesen und sah sich offenbar – erkennbar adressiert an die Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (UdG) des SG Kiel – zu der Feststellung genötigt, dass es sich bei dem „Kieler Kostenkästchen“ „nicht um normatives Recht“ handelt. Zur lesenswerten Begründung, dass mir tatsächlich 17,85 € und damit damit eine um 4,6 % (!) höhere Gebühr zusteht (siehe dazu: Jobcenter Kiel: Zumindest bei den Rechtsanwaltsgebühren sehr „genau“), hat das Gericht ausgeführt:

„Die Bestimmung der im Einzelfall angemessenen Gebühr ist allerdings – wie bereits ausge­führt – gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG vorrangig dem billigen Ermessen des Rechtsanwalts überlassen. Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass über die Bestimmung dessen, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten hat, leicht Streit entstehen kann. Solchen Streit wollte der Gesetzgeber möglichst vermeiden, indem er dem Rechtsanwalt ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt hat, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist (vgl. BSG 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R Rz 19 = BSGE 104, 30).

Die Literatur (vgl. nur: Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 22. Auflage 2015, § 14 Rz 12 m. w. N.; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 63 Rz 93 Stand V/2017) und ihr folgend die Rechtsprechung (vgl. nur BSG 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R Rz 19 m. w. N. = BSGE 104, 30) ge­stehen dem Rechtsanwalt darüber hinaus einen von dem Kostenschuldner wie auch von den Gerichten zu beachtenden Spielraum von 20 % (Toleranzgrenze) derjenigen Gebühr zu, die nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14 RVG angemes­sen erscheint.

Die aus der Rechtsprechung des Sozialgerichts Kiel (vgl. Beschluss vom 31.05.2011 – S 12 SF 129/10) übernommene Auffassung des Erinnerungsgegners und der UdG, das sog. Kie­ler Kostenkästchen lasse keinen Raum mehr für einen dem Rechtsanwalt einzuräumenden Spielraum, wird von der beschließenden Kammer nicht geteilt. Dabei kann hier dahinstehen, ob das Kieler Kostenkästchen die Feststellung der Billigkeit der Gebühren mit so hoher Ge­nauigkeit zulasst, dass für ein Abweichen der ermittelten Gebühren kein Erfordernis mehr besteht. Denn die genannte Auffassung lässt sich bereits mit dem oben dargestellten rege­lungssystematischen Zusammenhang nicht in Einklang bringen. Danach wird der 20 %ige Spielraum dem Rechtsanwalt im Rahmen seines Beurteilungs- und Entscheidungsvorrechts hinsichtlich der Anwendung der normativen Grundlagen der rechtsanwaltlichen Vergütung, insbesondere des Rechtsrahmens des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG und der Betragsrahmen der VV-RVG, eingeräumt und stellt mithin einen integralen Bestandteil der grundsätzlich dem Rechtsanwalt überlassenen Gesamtabwägung dar. Daraus folgt, dass er der dem UdG im Kostenfestsetzungsverfahren gemäß § 197 Abs. 1 Satz 1 SGG bzw. dem Richter im Erinne­rungsverfahren gemäß § 197 Abs. 2 SGG obliegenden Feststellung, ob die getroffene Be­stimmung i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG billig oder aber i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG unbillig und deshalb nicht verbindlich ist, logisch vorgeht und deshalb auch im Kostenfestsetzungs- bzw. Erinnerungsverfahren nicht außer Acht gelassen werden darf. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei dem sog. Kieler Kostenkästchen nicht um normatives Recht, zu dessen Beachtung der Rechtsanwalt bei der Ausübung seines Beurteilungs- und Entschei­dungsvorrechts verpflichtet wäre, sondern um eine richterrechtlich entwickelte Berech­nungsmethode, welche der Rechtsanwalt seiner Gebührenbestimmung zugrundelegen kann, jedoch nicht muss. Tut er es nicht, nimmt er aber gleichwohl – ggf. unter Berücksichtigung des 20 %igen Spielraums – eine gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG billige Bestimmung vor, so kann dem sog. Kieler Kostenkästchen deshalb allenfalls die Funktion eines Prüfinstruments im Rahmen der im Kostenfestsetzungs- bzw. Erinnerungsverfahren anzustellenden Gegen­probe zukommen, nicht aber diejenige eines die rechtsanwaltliche Gesamtabwägung regle­mentierenden Korrektivs. Insbesondere kann es in diesem Prüfungsstadium nicht an die Stelle des 20 %igen Spielraums des Rechtsanwalts treten und diesen nicht obsolet machen. Ein eigenständiger Anwendungsbereich ist vielmehr nur für den Fall denkbar, dass die Ge­bührenbestimmung des Rechtsanwalts mangels Unbilligkeit nicht verbindlich und durch eine Entscheidung des UdG oder des Richters zu ersetzen ist.

Streitig im vorliegenden Fall ist allein, ob die Terminsgebühr i. S. d. Nr. 3106 W-RVG in Hö­he der Mittelgebühr (150,00 €) – wie der Erinnerungsführer meint – oder in Höhe von 2/3 der Mittelgebühr (135,00 €) – wie der Erinnerungsgegner und die UdG meinen – angemessen ist. Dies bedarf indes nach den vorangegangenen Ausführungen keiner inhaltlichen Ent­scheidung. Denn auch wenn die Auffassung des Erinnerungsgegners und der UdG zutreffen sollten, so bleibt der Mehransatz des Prozessbevollmächtigten des Erinnerungsführers je­denfalls innerhalb des ihm zuzugestehenden 20 %igen Spielraums und ist deshalb nicht un­billig.“

Nach sage und schreibe acht Jahren kann ich dieses Klageverfahren nun also auch kostenrechtlich abschließen.

SG Kiel, Beschluss vom 21.07.2017, S 45 SF 97/15 E

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zu den rechtfertigenden Gründen für einen Umzug innerhalb der Angemessenheitsgrenzen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden nach einem nicht erforderlichen Umzug in eine teurere – aber noch angemessene – Wohnung nur die Mietkosten der bisher bewohnten Wohnung anerkannt. In einem aktuellen Urteil hat das SG Rostock die Erforderlichkeit eines Umzuges aus nachfolgenden Gründen bejaht:

  • Für eine 60jährige Leistungsberechtigte nach dem SGB II ist eine Wohnfläche mit nur 29,60 qm, welche die Angemessenheitsgrenze von hier 45 qm um 15 qm unterschreitet, sozial-untypisch klein und beengt und ein Umzug schon deswegen erforderlich.
  • Der Auszug aufgrund der Beengtheit der Wohnverhältnisse war im konkreten Fall auch aus gesundheitlichen Gründen sowie zur Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit erforderlich.
  • Der Grundsatz „Keine Deckelung der Unterkunftskosten bei Neueintritt der Hilfebedürftigkeit“ (BSG, Urteil vom 09.04.2014, B 14 AS 23/13 R) durch die Erzielung von bedarfsdeckendem Einkommen in mindestens einem Monat scheitert nicht daran, dass der Arbeitgeber das Monatseinkommen verteilt auf zwei Monate ausgezahlt hat; auch die Entgeltersatzleistung Krankengeld zählt zum Einkommen.
  • Die für die Klägerin nicht vorhersehbare vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses lässt den plausiblen Grund für den Umzug auch nicht nachträglich wieder entfallen.

Die Mietobergrenzen der Hansestadt Rostock (berechnet aufgrund der Werte des qualifizierten Mietspiegels der Stadt) beruhen im Übrigen auf einem „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

SG Rostock, Urteil vom 22.06.2017, S 13 AS 845/14

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Dauerthema Doppelmieten

(c) GesaD / pixelio.de

Bereits mehrfach habe ich auf dieser Website über das Thema Doppelmieten bei Umzug berichtet (Jobcenter muss Doppelmieten übernehmen; Doppelmieten: Konsequent rechtswidriges Verwaltungshandeln seit nunmehr 10 Jahren; Doppelmieten bei Umzug: In der Regel vom Jobcenter zu übernehmen!; Zur Übernahme doppelter Mietaufwendungen bei Umzug). Scheinbar ohne Erfolg. Die Übernahme von doppelten Mietaufwendungen wird von den Jobcentern weiterhin fast durchgängig pauschal abgelehnt. Weiteres Urteil zum Thema: SG Kiel, Urteil vom 04.04.2017, S 30 AS 407/15:

„Grundsätzlich geht die Kammer davon aus, dass bei einem Umzug eine zeitliche Über­schneidung des alten und neuen Mietverhältnisses eher die Regel als die Ausnahme dar­stellt. Gründe dafür sind zum einen darin zu sehen, dass die meisten Mieter — gerade in Zei­ten eines angespannten Mietmarktes — davor zurückschrecken, ein bestehendes Mietver­hältnis zu kündigen, ohne bereits den Mietvertrag für eine neue Wohnung unterschrieben zu haben. Weiterhin spricht eine oft vorliegende Verpflichtung zur Auszugsrenovierung der alten Wohnung gegen einen „nahtlosen“ Übergang von einem Mietverhältnis ins andere, weil für einen solchen dann keine Zeit mehr bliebe. Auch dann, wenn dem Leistungsberechtigten wegen seiner familiären oder sonstigen Situation ein kompletter Aus- und Einzug an einem Tag nicht zumutbar ist, geht die Kammer von der Angemessenheit einer „Doppelmiete“ für einen kurzen Zeitraum aus.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


SG Kiel: Kieler Mietobergrenzen sind seit Dezember 2016 um 10 Prozent zu erhöhen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Bereits im März 2017 hatte ich gefragt „Wo bleibt der Kieler Mietspiegel 2016?“ und darauf hingewiesen, dass für Kiel seit dem 01.12.2016 kein qualifizierter Mietspiegel mehr vorliegt. Für das Sozialrecht stelle sich damit die Frage, ob die aktuellen Kieler Mietobergrenzen, die aus den Werten des Kieler Mietspiegels 2014 errechnet worden sind, seit 01.12.2016 noch auf einem sog. „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen. Diese Frage hat die 32. Kammer am Sozialgericht Kiel nun verneint (Beschluss vom 26.07.2017, S 32 AS 142/17 ER – der besseren Lesbarkeit wegen wurden fehlende bzw. von der Diktiersoftware des Gerichts offenbar fehlerhaft interpretierte Worte korrigiert, die Korrekturen sind in Klammern und kursiv gesetzt).

Sei 01.12.2016 keine aktuellen Mietobergrenzen mehr in Kiel

„Die Mietobergrenze basierte auf einem Konzept, für das der qualifizierte Mietspiegel 2014 der Landeshauptstadt Kiel zugrunde gelegt worden war und das in modifizierter Form vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht in Bezug auf den Mietspiegel 2010 als schlüssiges Konzept im Sinne der Vorgaben des Bundessozialgerichts (erstmals BSG, Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 18/09 R – juris) qualifiziert worden war (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 19. Mai 2014 — L 6 AS 18/13 —juris).

Seit dem 20. Juni 2017 gilt für nicht preisgebundenen Wohnraum in der Landeshauptstadt Kiel ein neuer qualifizierter Mietspiegel im Sinne von § 558d Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Anders als der vorherige qualifizierte Mietspiegel, der nach der Tabellenmethode aufgebaut war, ist der aktuelle qualifizierte Mietspiegel mit der so genannten Regressionsmethode erstellt worden, die mit einer kleineren Stichprobe auskommt. Neue Mietobergren­zen sind auf Basis des neuen qualifizierten Mietspiegels bei der Landeshauptstadt Kiel noch nicht ermittelt und veröffentlicht worden.“

Dennoch kein Rückgriff auf die Werte der Wohngeldtabelle

„Dies führt nach Auffassung der Kammer jedoch weder dazu, dass die bisherigen Mietober­grenzen weiterhin uneingeschränkt Geltung haben können, noch dazu, dass nunmehr kein schlüssiges Konzept mehr vorliegt und dementsprechend für die Bestimmung der Angemes­senheit von Unterkunftskosten auf die Werte der Wohngeldtabelle zu § 12 WoGG zurückzu­greifen ist.“

Gericht kann Mietobergrenzen nicht selbst ermitteln

„Zwar fehlt es derzeit an dem Datenmaterial, auf dessen Basis das untere Preissegment im Rahmen der ortsüblichen Vergleichsmieten, die der Mietspiegel ausweist, ermittelt werden könnte. Ohne Kenntnis der dem Mietspiegel zugrunde liegenden Daten kann auch das Ge­richt im Rahmen seiner eigenen Befugnis zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit von Unterkunftskosten die abstrakte Angemessenheitsgrenze nicht ermitteln.“

Trotzdem kein „Erkenntnisausfall“

„Allerdings geht die Kammer davon aus, dass in einer begrenzten Übergangszeit, in der das bisher geltende schlüssige Konzept auf der Basis des – andersartigen – neuen qualifizierten Mietspiegels angepasst werden muss, kein Erkenntnisausfall hinsichtlich der angemessenen Referenzmiete im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 16. Juni 2015 – B 4 AS 44/14 R – juris) anzunehmen ist, der einen Rückgriff auf die Tabellen­werte des § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlages erforderlich machen würde. In dem hier vom BSG entschiedenen Fall lagen Mietspiegeldaten gerade nicht vor.“

Übergangsfrist bis 30.09.2017

„Dem Antragsgegner ist vielmehr eine angemessene Übergangszeit einzuräumen, in der wei­terhin die bisherigen Mietobergrenzen als Grundlage herangezogen werden dürfen. Als an­gemessen sieht die Kammer dabei eine Zeit bis zum 30. September 2017 an. Wenn, was der Kammer nicht bekannt ist, die Ratsversammlung der Landeshauptstadt Kiel über die Mietobergrenzen entscheiden sollte, wäre dies in der nächsten stattfindenden Sitzung am 21. September 2017, deren Tagesordnung noch nicht veröffentlicht ist, möglich. Auch im Übrigen dürfte die Zeit von drei Monaten ab Inkrafttreten des neuen Mietspiegels ausreichen, um auf der Basis des dem Mietspiegel zugrunde liegenden Datenmaterials neue Mietobergren­zen zu ermitteln.“

In der Übergangszeit 10 % Aufschlag auf die bisherigen Mietobergrenzen

„Bei der Gewährung einer Übergangszeit ist jedoch zu berücksichtigen, dass der qualifizierte Mietspiegel 2014, der als Fortschreibungsmietspiegel in Anpassung des Mietspiegels 2012 gemäß § 558d Abs. 2 Satz 1 BGB erstellt worden war, nur bis zum 30. November 2016 Gül­tigkeit hatte. Bereits zum 01. Dezember 2016 wäre gemäß § 558d Abs. 2 Satz 3 BGB ein neuer qualifizierter Mietspiegel zu erstellen gewesen. Unabhängig von den Ursachen für die zeitliche Verzögerung entspricht es nicht den Aktualitätsanforderungen an die Vergleichsdaten, die sich sowohl aus § 558d Abs. 2 BGB als auch aus § 22c Abs. 2 SGB II ergeben, dass im Ergebnis damit ein Dreivierteljahr ohne Neufestsetzung toleriert wird.

Dauer und Höhe der zusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts. Die Kammer hält es angesichts der ver­strichenen Zeit seit Ablauf der Geltungszeit des Mietspiegels 2014 für geboten, einen pau­schalen Mietpreisentwicklungszuschlag von 10% bei der bisherigen Mietobergrenze zu be­rücksichtigen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass bereits nach einer online-Meldung der Presseabteilung der Landeshauptstadt Kiel vom 30. Mai 2017 im Vorgriff auf den neuen Mietspiegel eine Steigerung der Mietpreise von 3,1 % bei Bestands- und 4,6 % bei Neuvertragsmieten mitgeteilt wurde. Zuzüglich eines weiteren Sicherheitszuschlages auf insgesamt 10 % ergeben sich bei dem Antragsteller nach dem Kopfteilprinzip anteilig zu berücksichti­gende Unterkunftskosten von 452,10 EUR bruttokalt.“

Nachtrag: Wie hier (alte Mietobergrenze zuzüglich 10 %) haben bisher entschieden: SG Kiel, Beschluss vom 26.07.2017, S 32 AS 142/17 ER, SG Kiel, Beschluss vom 01.09.2017, S 43 AS 175/17 ER; SG Kiel, Beschluss vom 02.10.2017, S 43 AS 225/17 ER; SG Kiel, Beschluss vom 02.01.2017, S 40 AS 230/17 ER).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung für Rentner künftig einfacher möglich

Bislang haben viele Betroffene, die zeitweise privat krankenversichert waren, ab Beginn ihrer Rente nicht die Möglichkeit einer Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Für viele Rentnerinnen und Rentner, die Kinder erzogen haben, wird eine Pflichtmitgliedschaft ab dem 1. August 2017 aufgrund einer Gesetzesänderung nun möglich. „Ich empfehle allen Betroffenen, die von der neuen Regelung profitieren könnten, den Mitgliedschaftsstatus von der Krankenkasse prüfen zu lassen“, äußerte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten Samiah El Samadoni heute in Kiel. Die Kassen seien dazu nicht von Amts wegen verpflichtet.

Wegen der sog. „9/10-Regelung“ werden Personen im Ruhestand nur dann Pflichtmitglied in der gesetzlichen KVdR, wenn sie in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens mindestens zu 90 % gesetzlich krankenversichert waren. Personen, die jene Vorversicherungszeit nicht erfüllen, werden entweder als freiwilliges Mitglied gesetzlich versichert oder müssen privat versichert bleiben. Damit sind in aller Regel deutlich höhere Kosten gegenüber einer Pflichtmitgliedschaft verbunden. Künftig werden pro Kind pauschal drei Jahre auf die Vorversicherungszeit angerechnet – sowohl für die Mütter als auch für die Väter.

„Die Gesetzesänderung entlastet insbesondere Frauen, die während der Kindererziehung privat versichert waren und später in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zurückgekehrt sind“, hob Frau El Samadoni hervor. In anderen Konstellationen führe die 9/10-Regelung jedoch weiterhin zu unverhältnismäßigen Nachteilen, häufig zum Beispiel im Falle der Scheidung von Beamten. „Zudem sind bei der Anwendung der neuen Regelung noch einige rechtliche Detailfragen zu klären“, betonte die Bürgerbeauftragte. Sie werde die Umsetzung daher genau beobachten.

Pressemitteilung Nr. 158 vom 28.07.2017

Siehe auch:

sueddeutsche.de: Rentner können leichter in gesetzliche Krankenkasse zurück


Jobcenter muss Kosten einer Räumungsklage tragen

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Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 27.06.2017 (L 9 AS 1742/14) entschieden, dass ein Jobcenter die Kosten einer Räumungsklage zu tragen hat, wenn es einem Leistungsberechtigten zu Unrecht die Leistungen versagt, dadurch Mietrückstände entstehen und der Vermieter in der Folge Räumungsklage erhebt.

Mit dieser Entscheidung betritt das Gericht insofern juristisches Neuland, als es die angefallenen Gerichtskosten als (einmalige anfallende) Bedarfe den Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II zuordnet. Durch diese Zuordnung kann der Anspruch auf Ersatz der entstandenen Gerichtskosten vor den Sozialgerichten verfolgt werden, vor denen kein Anwaltszwang besteht und Leistungsberechtigten auch keine Gerichtskosten entstehen.

Die bisherige – wohl herrschende – Rechtsauffassung, wonach ein Anspruch auf Ersatz der Kosten einer von einem Leistungsträger verursachten Zwangsräumung als Schadensersatzanspruch im Wege der Amtshaftung nach Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB bereits in der ersten Instanz vor dem örtlich zuständigen Landgericht durchzusetzen ist, hat demgegenüber erhebliche Nachteile: Vor den Zivilgerichten sind vom Kläger Gerichtskosten einzuzahlen, es besteht vor den Landgerichten Anwaltszwang und auch die Leistungsträger müssen sich anwaltlich vertreten lassen mit der Folge, dass der leistungsberechtigte Kläger, verliert er den Prozess und wird ihm keine Prozesskostenhilfe bewilligt, die Gerichtskosten, seine Anwaltskosten und auch die Kosten des Gegenanwalts zu tragen hat. Zudem trifft den Kläger vor dem Zivilgericht die volle Darlegungs- und Beweislast aller Tatbestandsvoraussetzungen des § 839 BGB, denn anders als die Sozialgerichte (§ 103 Satz 1 SGG) erforscht das Zivilgericht den Sachverhalt nicht von Amts wegen.

Das Landessozialgericht hat wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schwangerschaft macht noch kein Kind

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Ziehen künftige Eltern bereits vor der Geburt ihres ersten Kindes zusammen und lebt einer der zukünftigen Eltern von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), so werden die zukünftigen Eltern häufig schon vor der Geburt ihres Kindes ab dem Tage ihres Zusammenzuges als so genannte Bedarfsgemeinschaft behandelt. Folge: Der verdienende zukünftige Elternteil muss den anderen ab dem Tage des Zusammenzuges finanziell bis zur Grenze seiner eigenen Hilfebedürftigkeit unterhalten. Hintergrund dieser weit verbreiteten Praxis ist die Regelung in § 7 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 3a Nr. 2 SGB II. Danach kann das Jobcenter das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft vermuten, wenn Eltern „mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben“.  Dieses „Zusammenleben“ wird von vielen Jobcenter auch bereit schon vor der Geburt des Kindes angenommen.

Das Landessozialgericht Hamburg hat dieser Praxis bereits früh widersprochen und entschieden, dass die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3a Nr. 2 SGB II – Zusammenleben mit einem gemeinsamen Kind – nicht dahingehend ausgelegt werden kann, dass diese bereits bei Bestehen einer Schwangerschaft eingreift, da dies in klarem Widerspruch zum Wortlaut der Norm steht.

(LSG Hamburg, Beschluss vom 28.01.2008, L 5 B 21/08 ER AS)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Wichtige Änderungen in der Sozialhilfe ab Juli

Zum 1. Juli 2017 sind zahlreiche Änderungen im SGB XII erfolgt. Die Bürgerbeauftragte Samiah El Samadoni weist darauf hin, dass sich das auf die Bewilligungspraxis bei der Hilfe zum Lebensunterhalt, bei der Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung auswirken kann. „Die Rechtsänderungen erfüllen mich allerdings mit Sorge, da zahlreiche Regelungen die Rechtslage des Bürgers verschlechtern, die Rechtsanwendung verkomplizieren und der Verwaltungsaufwand höher wird“, sagte El Samadoni heute in Kiel.

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Änderungen:

Der neu eingeführte § 37a SGB XII sieht vor, dass Betroffenen auf Antrag ein Darlehen zu gewähren ist, wenn sie ihr anzurechnendes Einkommen – wie zum Beispiel beim erstmaligen Rentenbezug – erst am Monatsende erhalten und ihren Lebensunterhalt bis zum tatsächlichen Zuflusszeitpunkt nicht selber decken können. Das Darlehen wird ab dem Folgemonat mit Raten in Höhe von fünf Prozent des Eckregelsatzes (derzeit 20,45 Euro) mit den laufenden Leistungen aufgerechnet bis zu einem Höchstbetrag von 50 Prozent des Eckregelsatzes (derzeit 204,50 Euro). In der Vergangenheit wurde in diesen Fällen trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage oftmals ebenfalls ein Darlehen gewährt, das dann aber aufgrund finanzieller Überforderung der Betroffenen in eine Beihilfe umgewandelt beziehungsweise niedergeschlagen wurde. Diese Möglichkeit besteht nun nicht mehr.

Grundsicherungsberechtigte, die sich länger als vier Wochen ununterbrochen im Ausland aufhalten, erhalten nach Ablauf der vierten Woche bis zu ihrer nachgewiesenen Rückkehr ins Inland keine Leistungen mehr (§ 41 a SGB XII). Bislang konnten Grundsicherungsempfänger ohne Verlust des Leistungsanspruchs ins Ausland fahren, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in Deutschland hatten. Hierfür wurde von der Verwaltungspraxis und den Gerichten teilweise ein Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Monaten als unschädlich angesehen.

Eine weitere Neuregelung (§ 42a SGB XII) wurde hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung bei Grundsicherungsempfängern, die in der Wohnung von Eltern, Geschwistern oder eines volljährigen Kindes leben und keinen gesonderten Mietvertrag abgeschlossen haben, eingeführt. Für diesen Personenkreis werden die Kosten für Unterkunft und Heizung künftig in pauschalierter Form nach einer Differenzmethode als Bedarf berücksichtigt. Ferner wurde für Leistungsberechtigte in Wohngemeinschaften ohne eigenen Mietvertrag eine Regelung geschaffen, wonach sie Anspruch auf kopfteilige Aufwendungen für Unterkunft und Heizung eines entsprechenden Mehrpersonenhaushaltes haben. Damit ist ausgeschlossen, dass jede Person der Wohngemeinschaft Anspruch auf Unterkunftskosten eines Einpersonenhaushaltes hat. „Das ist nicht nur kompliziert, sondern wird in der Praxis auch zu finanziellen Verschlechterungen für zahlreiche Betroffene führen“, kommentierte die Bürgerbeauftragte.

Schließlich regelt § 44a SGB XII, dass Leistungen der Grundsicherung nur noch vorläufig zu bewilligen sind, wenn bereits bei deren Bewilligung Veränderungen in den Einkommensverhältnissen der Leistungsberechtigten oder bei den anzuerkennenden Bedarfen zu erwarten sind. Hauptsächlich betroffen sind von dieser Änderung Personen, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten und schwankendes Arbeitseinkommen (Urlaubs-, Weihnachtsgeld) erhalten. „Auch diese Vorschrift bedeutet aus meiner Sicht eine Verkürzung der Rechte der Betroffenen. Vorläufige Entscheidungen begründen nämlich keinerlei Vertrauensschutz und sind daher mit einer weitgehenden Erstattungspflicht verbunden“, erklärte El Samadoni.


Betriebskostenübernahme auch für ehemalige Wohnung

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In der Hempels-Ausgabe 9/2015 wurde kritisch über ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) berichtet, in dem das Gericht entschieden hatte, dass Betriebskostennachforderungen vom Jobcenter grundsätzlich nur für die aktuell bewohnte Wohnung zu übernehmen seien.

Von dieser Rechtsprechung ist das BSG nun ein gutes Stück weit wieder abgerückt und hat entschieden, dass Betriebskostennachforderungen auch für ehemals bewohnte Wohnungen dann zu übernehmen sind, wenn die Leistungsberechtigten durchgehend schon zum Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Nachforderung bis zu deren Geltendmachung und Fälligkeit im Leistungsbezug nach dem SGB II standen.

Zur Begründung hat das BSG ausgeführt, dass die Nichtübernahme einer Nachforderung in diesem Fall faktisch wie eine Umzugssperre wirken würde, weil ALG II‑Empfänger bei unzureichenden Nebenkostenvorauszahlungen dem Risiko, Schulden zu machen, ausgesetzt wären. Zudem mindere ein Nebenkostenguthaben unabhängig von der Frage eines vorangegangenen Umzugs den ALG II-Anspruch. Umgekehrt sei dann aber auch eine Nachforderung zu übernehmen.

(BSG, Urteil vom 30.03.2017, B 14 AS 13/16 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2017

Nachtrag 13.07.2017:

Mit Urteil vom 13.07.2017 zum Az. B 4 AS 12/16 R hat das BSG – unter neuerlichen sprachlichen Verrenkungen – eine weitere Korrektur seiner verfehlten Rechtsprechung zur Übernahme von Betriebskostennachforderungen vorgenommen. Zwar seien Betriebs‑ und Heizkostennachforderungen grundsätzlich nur für die konkret genutzte Wohnung als tatsächlicher, aktueller Bedarf im Fälligkeitsmonat zu berücksichtigen. Auch bei einem Wohnungswechsel bestehe aber ein Anspruch auf Übernahme der Nebenkostennachforderung für die frühere Wohnung, wenn eine „existenzsicherungsrelevante Verknüpfung“ der Nachforderung für eine in der Vergangenheit bewohnte Wohnung mit dem aktuellen unterkunftsbezogenen Bedarf der Leistungsbezieher zu bejahen sei. Dies sei bei einer Zusicherung des Leistungsträgers hinsichtlich des Umzugs jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Leistungsberechtigte sowohl im Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Nebenkosten SGB II‑Leistungen erhielt als auch im Zeitpunkt der Fälligkeit noch im „nahtlosen“ Bezug von existenzsichernder Leistungen steht (vgl. bereits Urteil des 14. Senats des BSG vom 30.3.2017 ‑ B 14 AS 13/16 R; vgl auch BSG vom 20.12.2011 ‑ B 4 AS 9/11 R: Übernahme der Nebenkostennachforderung bei Aufforderung zur Kostensenkung).

Diese Rechtsprechung des BSG zeigt einmal mehr, wie sich ein Gericht mit sich selbst beschäftigen kann: Es wird ohne Not ein falsches (Grundsatz-)Urteil (B 14 AS 40/14) gefällt, welches mit den einfachsten Regeln der Logik und Systematik bricht, um sodann in einer Reihe weiterer Urteile zahllose „Ausnahmen“ vom angeblichen Grundsatz zu kreieren.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neuer Kieler Mietspiegel 2017 veröffentlicht

Mit fast 8 Monaten Verspätung hat die Landeshauptstadt Kiel den Kieler Mietspiegel 2017 veröffentlicht, der am 20. Juni 2017 in Kraft getreten ist. Es handelt sich um einen qualifizierten Mietspiegel nach § 558 d BGB, der ein wissenschaftlich abgesichertes und differenziertes Bild der aktuell in Kiel gezahlten durchschnittlichen Mieten liefert. Der Mietspiegel bildet damit eine repräsentative und rechtssichere Grundlage für die Mietpreisgestaltung. Ihm kommt insbesondere im Rahmen von Mieterhöhungsverlangen eine herausragende Bedeutung zu.

Die neue Mietspiegelbroschüre, mit der jeder Mieter und Vermieter die sog. „ortsübliche Vergleichsmiete“ berechnen kann, findet sich hier: Kieler Mietspiegel 2017.

Die Stadt Kiel beabsichtigt, „in Kürze“ auf ihrer Hompage einen Online-Mietspiegelrechner zur Verfügung stellen. Durch ein einfaches Eingeben und Anklicken der Wohnungsmerkmale soll damit auf schnellem Wege die ortsübliche Vergleichsmiete für die jeweilige Wohnung ermittelt werden können.

In den Kommentaren habe ich für Interessierte die Presseerklärung der Stadt sowie das dazugehörige Ratsdokument eingestellt.

Die neuen Mietobergrenzen für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) sowie Grundsicherung bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII sind hier derzeit noch nicht bekannt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein ALG II bis zum tatsächlichen Ausbildungsbeginn

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In meinem Beitrag „ALG II trotz Immatrikulation“ habe ich die Rechtsauffassung vertreten, Studenten und Auszubildende könnten in dem Zeitraum nach ihrer Immatrikulation (und damit grundsätzlichen BAföG-Förderungsfähigkeit) bis zum Tag des tatsächlichen Ausbildungsbeginns ALG II beziehen. Zur Begründung hatte ich auf eine Entscheidung des BSG (Urteil vom 28.03.2013, B 4 AS 59/12 R, Rn. 19 f.) zum Regelungsbereich SGB II/ALG II verwiesen. Dort hat das BSG ausgeführt:

„[19] Der Bescheid vom 5. 9. 2005 war bereits im Zeitpunkt seines Erlasses insoweit rechtswidrig, als der Beklagte über den tatsächlichen Beginn der Ausbildung am 25. 8. 2005 hinaus SGB II-Leistungen gewährt hat. Ab diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen mehr, weil der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II eingriff. Nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II (idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. 12. 2003, BGBl I 2954) haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Eine Ausnahme hiervon galt nach § 7 Abs 6 SGB II aF nur für bestimmte Gruppen von Auszubildenden, zu denen die Klägerin nicht gehörte.“

Aus der recht klaren Formulierung „über den tatsächlichen Beginn der Ausbildung am 25.08.2005 hinaus“ hatte ich geschlossen, dass im Umkehrschluss bis zum tatsächlichen Ausbildungsbeginn ALG II zu Recht bewilligt worden ist. Auch in der folgenden Rz. 20 stellt das BSG auf den Tag des Beginns des tatsächlichen Besuchs („besuchte“) der Ausbildungsstätte bzw. den „Ausbildungsbeginn am 25.08.2005“ (Rz. 28) ab.

Das Sozialgericht Kiel hat diese Rechtsfrage unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Gesetzes nun anders entschieden und ausgeführt (SG Kiel, Urteil vom 15.02.2017, S 37 AS 347/15):

„Die Klägerin nahm am 29. September 2014 eine schulische Ausbildung auf, die dem Grunde nach förderungsfähig nach dem BAföG war. Sie hatte daher keinen Anspruch auf die ausgezahlten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für September 2014; auch wenn sie für diesen Monat keine Leistungen nach dem BAföG erhalten hat. Nach § 15b Abs. 1 BAföG gilt die Ausbildung im Sinne des Gesetzes als mit dem Anfang des Monats aufgenommen, in dem Unterricht oder Vorlesungen tatsächlich begonnen werden. Korrespondierend hierzu wird nach § 15 BAföG die Ausbildungsförderung vom Beginn des Monats an geleistet, in dem die Ausbildung aufgenommen wird; frühestens jedoch vom Beginn des Antragsmonats an. Das SGB II knüpft den Ausschluss in § 7 Abs. 5 SGB II an eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung nach dem BAföG an und gerade nicht an die tatsächliche Leistungsgewährung. (vgl. hierzu Gutachten des Deutschen Vereins, Lebensunterhaltssicherung beim Übergang vom SGB II zum BAföG, G 1-14 vom18.08.2014, S. 2 (…).“

Dem Sozialgericht Kiel ist einzuräumen, dass der Wortlaut des § 15b Abs. 1 BAföG recht eindeutig ist und sich das BSG in der Entscheidung B 4 AS 59/12 R mit der hier strittigen Rechtsfrage nicht auseinandergesetzt, sondern vielmehr den SGB II-Ausschluss (erst) mit dem Tag des tatsächlichen Ausbildungsbeginns schlicht vorausgesetzt hat. Wie das SG Kiel jetzt auch LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17.9.2018, L 6 AS 111/16 (siehe auch in den Kommentaren).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Freigabe von Rentennachzahlungen bei Kontopfändung

Wird eine Rentennachzahlung auf einem Pfändungsschutzkonto nach § 850k ZPO gutgeschrieben, die über dem pfändungsfreien Betrag liegt (hier 3.949,49 € für rund 19 Monate), kann das zuständige Amtsgericht die Rentennachzahlung durch Beschluss nach § 850k Abs. 4 ZPO freigeben, wenn die monatliche Rente (hier rund 287,00 €) innerhalb der Pfändungsfreigrenze liegt. Denn Nachzahlungen sind für den Abrechnungszeitraum zu berücksichtigen, für den sie geleistet werden (Beschluss AG Kiel vom 19.05.2017 unter Bezugnahme auf Stöber, Forderungspfändung, 16. Aufl. Rn. 1042).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt 


Stadt Kiel darf Obdachlose nicht abschieben

Die Stadt Kiel fährt zunehmend einen härteren Kurs gegen Obdachlose. Um Obdachlose möglichst aus dem Stadtgebiet fernzuhalten, werden nur noch denjenigen Wohnungslosen Hilfen zur Unterkunftssicherung und Sozialleistungen nach dem SGB II oder SGB XII gewährt, die bereits einwohnermelderechtlich in Kiel gemeldet sind. Neu hinzuziehende Obdachlose können sich mangels einer Wohnung in Kiel nicht beim Einwohnermeldeamt anmelden und werden als „Nichtkieler“ an ihre Herkunftsgemeinden verwiesen.

In einer aktuellen Entscheidung hat das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig die Stadt Kiel nun verpflichtet, einem neu zugezogenen Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Zur Begründung hat das VG darauf abgehoben, maßgeblich für die Zuständigkeit sei, wo die Obdachlosigkeit eintrete. Dies sei der tatsächliche Aufenthaltsort des Wohnungslosen, hier also Kiel. Unerheblich sei demgegenüber, wo der Wohnungslose zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Auch ein Obdachloser habe im Übrigen ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen (Art. 11 Abs. 1 GG).

(VG Schleswig, Beschluss vom 30.03.2017, 3 B 42/17, VG Schleswig, Beschluss vom 31.05.2017, 3 B 79/17)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2017

Siehe zum Thema auch: Kiel first – Landeshauptstadt will Wohnungslosenhilfe „schärfen“ –  und künftig nur noch Kielern helfen

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein ALG II bei bloß tatsächlichem Teilzeitstudium

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Studenten sind vom Arbeitslosengeld II (ALG II) ausgeschlossen, wenn ihr Studium dem Grunde nach BAföG-förderungsfähig ist. Ein BAföG-Anspruch besteht für Studierende aber nur dann, wenn das Studium die Arbeitskraft des Studierenden im Allgemeinen voll in Anspruch nimmt. Für ein formelles Teilzeitstudium besteht deswegen kein BAföG-Anspruch, es kann aber ALG II beantragt werden. An der Universität in Kiel können etwa alle 2-Fächer-Bachelor und Masterstudiengänge sowie die 1-Fach-Bachelor- und Masterstudiengänge Biologie und Chemie in Teilzeit studiert werden. Voraussetzung ist jedoch, dass der Student entweder einer Erwerbstätigkeit von mehr als 18 Stunden pro Woche nachgeht, die Betreuung oder Pflege eines Kindes oder eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen geleistet wird oder eine Behinderung oder chronische Erkrankung vorliegt, welche die Studierfähigkeit so herabsetzt, dass ein ordnungsgemäßes Vollzeitstudium ausgeschlossen ist (vgl. die Infos der CAU zum Teilzeitstudium).

Von einigen Landessozialgerichten wurde ein ALG-II-Anspruch auch bei einem bloß faktischen Teilzeitstudium angenommen, also wenn ein Vollzeitstudiengang tatsächlich – etwa aus persönlichen, familiären oder gesundheitlichen Gründen – nicht in Vollzeit studiert werden kann. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht ist dieser Rechtsprechung nicht gefolgt. Nach Auffassung des Gerichts kommt es ausschließlich auf die von der Ausbildungsstätte vorgenommene Ausgestaltung der Ausbildung an und nicht auf die individuellen Verhältnisse des Auszubildenden, derentwegen tatsächlich nur in Teilzeit studiert werden kann.

(Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15.12.2016, L 6 AS 223/16 B ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2017

Zum Verfahren siehe auch meinen ersten Kommentar in den Kommentaren.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Verfassungsgericht kippt Maulkorb wegen PIRATEN-Kritik an Postenschieberei

Im Streit um einen Ordnungsruf des Päsidenten des Schleswig-Holsteinschen Landtags Klaus Schlie (CDU) gegen den Vorsitzenden der Piratenfraktion Dr. Patrick Breyer wegen dessen Kritik an der Besetzung hoher Ämter ohne öffentliche Ausschreibung hat das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht heute zugunsten von Breyer entschieden. Breyer habe Kritik am nicht-öffentlichen Auswahlverfahren und auch an der Qualifikation der zur Wahl stehenden Person äußern dürfen, entschied das Gericht. Kein Sozialrecht, aber es wird hier trotzdem mal vermerkt. Die Piraten werden fehlen.

Hier geht es zur Presseerklärung des Schleswig-Holsteinischen Verfassungsgerichts: http://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/LVG/Presse/PI/2017_05_17_Ordnungsruf_Urteil.html

Und hier zu der Entscheidung im Volltext: http://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/LVG/Entscheidungen/Dokumente/Urteil_1_17.html?nn=1268214

Seiner Schriftverkehr in dem Verfahren hat der Abgeordnete Dr. Breyer auf seiner Homepage veröffentlicht: http://www.patrick-breyer.de/?p=562890

Und hier findet sich das Video der beanstandeten Rede: https://www.youtube.com/watch?v=y4ggLRghedY

Siehe zum Thema auch:

http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lverfg-ssh-1-17-patrick-breyer-piraten-ordnungsruf-unzulaessig-rederecht-abgeordnete/

https://kielkontrovers.wordpress.com/2017/05/17/breyer-pm-verfassungsgericht-kippt-maulkorb-wegen-piraten-kritik-an-postenschieberei/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1051485.richter-tadeln-praesidenten-des-landtags.html

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich

Bundessozialgericht in Kassel

Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht in § 1a Nr 2 in seiner früheren Fassung (wie in der derzeit gültigen Normfassung) die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt. Der 7. Senat des Bundessozialgerichts hat am heutigen Tag entschieden, dass diese Regelung verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Zugrunde lag der Fall eines aus Kamerun stammenden Klägers, dessen Asylantrag bereits im Jahr 2004 abgelehnt worden war, der aber seitdem an der Beschaffung von Passpapieren nicht mitwirkt, obwohl er dazu ausländerrechtlich verpflichtet ist. Allein deshalb konnte die Abschiebung des Klägers noch nicht vollzogen werden. Er hat daher nur Sachleistungen zur Sicherung der physischen Existenz (Unterkunft, Kleidung, Ernährung) erhalten, nicht aber Geldleistungen (bis zu 137 Euro monatlich) zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens, also etwa Kosten für Telekommunikation oder öffentlichen Nahverkehr oder auch Freizeitaktivitäten (sogenanntes soziokulturelles Existenzminimum).

Das Bundessozialgericht hält diese Regelung für verfassungsgemäß. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen. § 1a Nr 2 Asylbewerberleistungsgesetz füllt diesen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum in verfassungsrechtlich zulässiger Weise aus. Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann. Die Vorschrift sieht weiter vor, dass die Bedürfnisse des konkreten Einzelfalls maßgeblich sind. Auch dass der Kläger hier über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hat, war verfassungsrechtlich unbedenklich, denn er war sich der Möglichkeiten zur Beendigung der Leistungsabsenkung bewusst. Er war regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden. Der Erhalt ungekürzter Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz setzt damit zwar voraus, dass der Ausländer aktiv daran mitwirkt, seinen Aufenthalt im Inland zu beenden. Diese Verknüpfung des Leistungs- mit dem Ausländerrecht ist bei bestehender Ausreisepflicht nicht zu beanstanden.

Pressemitteilung des BSG, Nummer 23 vom 12.05.2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Erstattung der den Eltern eines Säuglings entstandenen Kosten für dessen Versorgung mit einer Kopforthese zur Behandlung einer auffälligen Schädelform

Bundessozialgericht in Kassel

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat am 11. Mai 2017 in drei Revisionsverfahren (Az. B 3 KR 17/16 R, B 3 KR 6/16 R und B 3 KR 1/16 R) entschieden, dass Krankenkassen die Kosten für die Versorgung von Säuglingen mit einer Kopforthese zur Behandlung einer Schädelasymmetrie beziehungsweise -deformation nicht erstatten müssen. Eine Kostenerstattung scheidet aus, weil die Versorgung mit einer bei der ärztlichen Behandlung eingesetzten Kopforthese nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Zwar kann schweren Formen der Schädelasymmetrie nicht von vornherein jeder Krankheitswert abgesprochen werden. Die Kopforthese ist aber untrennbar mit einer neuen Behandlungsmethode verbunden, die darauf zielt, das Wachstum eines Säuglingskopfes mithilfe eines Helms in eine symmetrische Kopfform zu bringen. Für diese Methode fehlt eine erforderliche positive Bewertung des dafür zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses. Die Ausnahmefälle der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung, eines Seltenheitsfalls oder eines Systemversagens liegen nicht vor. Zudem gibt es insoweit die herkömmlich angewandte Lagerungs- und Physiotherapie. Nach medizinischen Studien fehlen auch Anhaltspunkte dafür, dass eine unbehandelte Schädelasymmetrie andere schwerwiegende Erkrankungen verursachen könnte.

In einem vierten Fall (Az. B 3 KR 30/15 R) konnte das BSG nicht abschließend über die Voraussetzungen der gesetzlichen Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V entscheiden und hat die – erfolgreiche Revision an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Nach dieser Vorschrift besteht ein Kostenerstattungsanspruch für die selbst beschaffte Leistung (hier die Kopforthese), wenn die Leistung erst nach Ablauf der den Krankenkassen zur Bescheiderteilung gesetzlich eingeräumten 3-Wochen-Frist selbst beschafft wurde. In diesem Fall wird die Genehmigung gesetzlich fingiert.

(Quelle: Pressemitteilung des BSG, Nummer 22 vom 12.05.2017)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Seit 01.05.2016 auch in Kiel Geldleistungen statt Sachleistungen für die Erstausstattung der Wohnung

Bereits zum 01.05.2016 hat nun auch Kiel die Leistungen für die Erstausstattung einer Wohnung nach § 24 Abs. 3 Nr. 1 SGB II bzw. § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII von Sachleistungen (die bisher über die Möbelbörse der evangelischen Stadtmission zu beziehen waren) auf Geldleistungen umgestellt. Die Gründe hierfür sind in der Druchsache 0142/2016 aus der Ratsversammlung vom 17.03.2016 nachzulesen. Interessant: Nach eigenem Bekunden der Stadt Kiel sind die Kosten, die für eine Versorgung über die Möbelbörse der Stadtmission aufgewandt werden mussten, „vergleichbar“ mit der Kosten der Versorgung über den freien Möbelmarkt des unteren Preissegments.

In welcher Höhe seit dem 01.05.2016 Geldleistungen erbracht werden, ist in der Drucksache 0142/2016 bzw. im Austauschblatt zu Punkt 7.1 (IV. Richtlinien für einmalige Beihilfen nach § 24 Abs. 3 SGB II / § 31 Abs. 1 SGB XII, n.F.) nachzulesen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Richter finden: Straßenzeitungen werden nicht aus Interesse an der Zeitung gekauft

Ich schreibe schon seit vielen Jahren für das Straßenmagazin Hempels. Und nun muss ich erfahren, dass viele Richter finden, dass die Leser der Straßenzeitungen in Wahrheit gar kein Interesse an den Zeitungen, also auch daran, was ich schreibe, haben. So finden die Richter am 7. Senat des Hessischen Landessozialgerichts:

„Zwar können gegen ein geringes Entgelt Passanten auf der Straße die angebotene Obdachlosenzeitung erhalten. Darin kommt aber in der Regel nicht ein sich in geldwerter Nachfrage ausdrückendes Interesse an der Zeitung zum Ausdruck, sondern mit dem Angebot der Zeitung ist wesentlich das Ziel verbunden, bei den Straßenpassanten niederschwellig die Bereitschaft zu wecken oder zu erhöhen, den Verkäufern in ihrer sozialen Lage finanziell in Form einer Geldspende helfen zu wollen. (…) Das steht im Einklang mit persönlichen Erfahrungen des Senats, soweit er selber vor allem in innerstädtischen Einzelhandelszonen solchen Zeitungsverkäufern begegnet ist.“

Das ist gemein, findet nun – Kopieren geht über Studieren, das haben auch einige Berliner Richter aus ihrem Studium behalten – aber auch die Vorsitzende der 191. Kammer am SG Berlin:

„Bezüglich des Verkaufs von Straßenzeitungen können zwar Passanten oder Nutzer des ÖPNV diese gegen ein (geringes) Entgelt erhalten. Darin kommt aber in der Regel nicht ein sich in geldwerter Nachfrage ausdrückendes Interesse an der Zeitung zum Ausdruck, sondern mit dem Angebot der Zeitung ist wesentlich das Ziel verbunden, bei den Straßenpassanten die Bereitschaft zu wecken oder zu erhöhen, den Verkäufern in ihrer sozialen Lage finanziell in Form einer Geldspende helfen zu wollen (so Hessisches LSG, a.a.O.). Es handelt sich also um eine Form des (aktiven) Bettelns. Das steht im Einklang mit den persönlichen Erfahrungen der entscheidenden Kammer-Mitglieder, soweit diese selber, vor allem in innerstädtischen ÖPNV, solchen Zeitungsverkäufern alltäglich begegnen.“

Was kann man daraus lernen? Die Richter begegnen Straßenverkäufern. In Hessen „in innerstädtischen Einzelhandelszonen“ und in Berlin „vor allem in innerstädtischen ÖPNV“. Was sie aber offenbar auf keinen Fall machen, ist, einfach mal so eine Zeitung zu kaufen und zu lesen. Ob nun aus Interesse, weil diese Zeitungen soziale Themen gelegentlich als erste aufgreifen, um „den Verkäufern in ihrer sozialen Lage finanziell in Form einer Geldspende“ zu helfen (auch nicht ganz verkehrt) oder vielleicht auch einfach nur, um zukünftig ein wenig differenzierter in ihren Judikaten über Straßenzeitungen referieren zu können.

Ich bekomme immer Belegexemplare vom Hempels e.V. Demnächst werde ich vielleicht mal – als kleine Spende – jeweils ein Exemplar an das Hessische Landessozialgericht und das Sozialgericht Berlin schicken. Möglicherweise fallen dann zukünftige Urteilsbegründungen ja etwas freundlicher aus.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Übernahme von Hotelkosten nach § 22 SGB II

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Sind Kosten für ein Hotelzimmer nach § 22 Abs. 1 SGB II zu übernehmen, ist die Berechnung der Kosten für die Übernachtung vom letzten Tag eines Monats auf den ersten Tag des Folgemonats dann nicht unproblematisch, wenn der Leistungsanspruch erst ab dem ersten Tag des Folgemonats besteht. Denn Hotelzimmer werden nicht für einen Tag, sondern eine Übernachtung angemietet. In der Rechtsprechung wurde diese Problematik – soweit hier ersichtlich – noch nicht behandelt. Das Sozialgericht Kiel ist in einer aktuellen Entscheidung nun der von mir vertretenen Rechtsauffassung gefolgt, wonach die Kosten ab dem ersten Tag des Folgemonats, 00.00 Uhr, anteilig zu übernehmen sind. In dem entschiedenen Fall wurde das Hotelzimmer nach den AGB des Hotels vom 28.01.2014 ab 14.00 Uhr bis 01.03.2014, 11.00 Uhr angemietet. Auf den Bewilligungszeitraum ab 01.03.2014 entfielen mithin für den ersten Tag 11/21 von 56,00 € = 29,33 €. Diese Kosten musste das Jobcenter nach § 22 Abs. 1 SGB II übernehmen.

Für Betroffene, die mit diesem Problem konfrontiert sind, habe ich meinen ersten Schriftsatz aus dem Klageverfahren sowie das Urteil des SG Kiel vom 17.11.2016, S 28 AS 581/14 zur vertieften Lektüre beigefügt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kiel first

Landeshauptstadt will Wohnungslosenhilfe „schärfen“ –  und künftig nur noch Kielern helfen

TEXT: PETER BRANDHORST

Erschienen in: Straßenmagazin HEMPELS, 04/2017

Sind bestimmte Gruppen wohnungsloser Menschen in Kiel – und in der Folge womöglich auch in anderen Städten und Kommunen – künftig von Hilfeangeboten ausgeschlossen? Können Wohnungslose in der Landeshauptstadt bald nur noch dann Unterstützung erwarten, wenn sie als Kieler oder Kielerin gelten? Um diese Fragen geht es im Kern bei der Diskussion jetzt bekannt gewordener Pläne der Stadt.

Auch in Schleswig-Holstein ist die Anzahl der Wohnungslosen in den vergangenen Jahren stark angestiegen, nicht nur in größeren Städten. Die in Berlin ansässige Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) geht davon aus, dass sich die Zahlen schon bis zum kommenden Jahr insgesamt und bundesweit weiter drastisch erhöhen werden.

In Kiel leben laut stadt.mission.mensch gut 600 Menschen ohne festen Wohnsitz, 50 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren (490 von ihnen Männer; Stand Ende Januar). 280 haben Unterschlupf gefunden bei Freunden oder Bekannten, die anderen leben in öffentlicher Unterbringung im Bodelschwinghhaus oder in Pensionen. Knapp vierzig schlafen auf der Straße. 72 Prozent der Kieler Wohnungslosen galten 2016 als ortsansässig. Um das restliche knapp ein Drittel geht es nun.

Der Streit entzündet sich an einer Vorlage, die Ende Februar im Sozialausschuss der Stadt öffentlich wurde. Unter der Überschrift „Verhinderung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Kiel“ werden in einem Diagramm die Personenkreise und die ihnen offenen Hilfewege definiert. Ergebnis: Nur wer sich als „Kieler Bürger/Bürgerin“ in der Stadt wohnungslos meldet, mit dem werde künftig eine Hilfeplanung erstellt und erhalte Beratung und Unterstützung. Andere Personen sollen auf ihren Wohnort verwiesen werden; sie bekommen noch eine Fahrkarte dorthin plus „ggf. Unterbringung in Schlichtwohnraum für eine Nacht“. Danach: „Ende“ der helfenden Unterstützung.

Sozialstadtrat Gerwin Stöcken rechtfertigt die Pläne gegenüber HEMPELS damit, man habe sich eine „Nachjustierung und Schärfung“ des Hilfesystems vorgenommen. Künftig wolle man die Prävention ausbauen, um Wohnungslosigkeit bereits im Vorfeld verhindern zu können. Mit der Wohnungswirtschaft habe die Stadt einen Masterplan verabredet, Wohnungslosen wieder Wohnraum zu verschaffen.

„Es geht um die, die in Kiel ihre Wohnung verloren haben“, so Stöcken, „um die wollen wir uns besonders stark bemühen.“ Wer anderswo wohnungslos geworden ist, für den sei die jeweilige Heimatkommune zuständig. Man dürfe das Problem nicht in die größeren Städte delegieren und sagen, „weil man sich anderswo nicht um genügend Wohnraum gekümmert hat, tragen wir das in Kiel mit.“ Finanzielle Aspekte spielten dabei keine Rolle, so Stöcken, die Vorwürfe der Selektion und Vertreibung seien falsch: „Wir wollen genauer hingucken: Warum brechen Menschen soziale Bindungen oder Therapien in anderen Orten ab, um dann wohnungslos in Kiel zu sein?“

HEMPELS-Vorstand Jo Tein nennt die Pläne in großen Teilen „erschreckend und fern der Lebensrealität von Obdachlosen“. Viele besäßen schon lange kein festes Zuhause mehr, oder sie erlebten dort Stress und wanderten in andere Regionen. Ein  Ausweiseintrag zum Wohnort sei für sie bedeutungslos. „Jede Kommune ist verpflichtet, diesen Menschen zu helfen, es darf nicht unterschieden werden zwischen Einheimischen oder Ortsfremden“, so Tein. Er befürchtet auch, dass eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird, sollten  Kiels Pläne Realität werden: „Andere Kommunen sehen sich dann gezwungen, ihre Leistungen auch zurückzuschrauben.“ Gut sei hingegen, dass künftig verstärkt präventiv gearbeitet werden soll.

Der Kieler Sozialrechtsexperte und HEMPELS-Kolumnist Helge Hildebrandt hält die geplante Regelung ebenfalls „nicht nur sozialpolitisch für höchst problematisch, sondern nach geltendem Recht auch schlicht rechtswidrig“. Die Unterbringungspflicht der Kommunen, so Anwalt Hildebrandt, der für die Linke 2013 kurzzeitig parteiloses Mitglied im Kieler Stadtrat war, sei an den „tatsächlichen Aufenthalt“ geknüpft: „Der ist dort, wo jemand gerade ist. Bei einem Obdachlosen, der gerade in Kiel ankommt und erklärt, hier bis auf weiteres zu bleiben, ist das Kiel.“

Bei der Berliner BAG W nennt Geschäftsführer Thomas Specht auf HEMPELS-Nachfrage die Pläne der Stadt Kiel „ein Modell der Hilfeverweigerung, gegen das man sofort erfoglreich wird juristisch angehen können – komplett rechtswidrig ohne Wenn und Aber.“ Man wisse von keiner anderen Kommune in Deutschland, die auf ähnlich „dreiste Art und Weise“ gegen Obdachlose vorgehe oder das tun wolle. Specht: „Es darf nicht unterschieden werden zwischen ortsansässigen und fremden Obdachlosen“, ein Rechtsgutachten bestätige diese Sicht.

Bei der Kieler stadt.mission.mensch, im Auftrag der Stadt einer der großen Dienstleister in der Wohnungs- und Obdachlosenarbeit, spricht Geschäftsführerin Karin Helmer von einer bislang erst „groben Skizze. Das Papier kann als qualifizierte Diskussionsgrundlage verstanden werden, die es jetzt aber auszugestalten gilt“. Die Wohnungslosenszene habe sich in letzter Zeit stark verändert, es gebe viele Ursachen für den Verlust einer Unterkunft. Hilfsangebote müssten deshalb ausgebaut und neu organisiert werden. Helmer unterstreicht aber auch: „Wir stehen dafür, dass legitime Ansprüche durchgesetzt werden können und nicht nach unten geschraubt werden. Die Definition, wo der gewöhnliche und tatsächliche Aufenthalt eines Wohnungslosen ist, ist jetzt die politische Herausforderung.“

Im Laufe dieses Jahres will die Stadt mit den verschiedenen Trägern der Obdachlosenhilfe ihre Pläne diskutieren. Man werde nicht das Recht brechen und auch nichts mit der Brechstange durchsetzen, versichert Sozialstadtrat Stöcken angesichts der schon jetzt laut gewordenen Kritik.

Nachdem das Straßenmagazin HEMPELS in seiner April-Ausgabe 2017 zuerst über das Thema berichtete, haben auch verschiedene andere Zeitungen und TV-Sender das Thema groß aufgegriffen. Links zu diesen Veröffentlichungen hier:

http://taz.de/Obdachlosen-Auslese-nach-Aschenputtel-Prinzip-in-Kiel/!5396404/

http://www.bento.de/politik/kiel-plant-nur-noch-obdachlosen-aus-der-eigenen-stadt-zu-helfen-1299943/

http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/schleswig-holstein_magazin/Schleswig-Holstein-Magazin,sendung629386.html

https://www.sat1regional.de/videos/article/umstrittene-verordnung-stadt-will-nur-noch-obdachlose-aus-kiel-unterstuetzen-231045.html

http://www.shz.de/regionales/kiel/stadt-kiel-hilfe-nur-noch-fuer-eigene-obdachlose-id16555351.html

http://www.kn-online.de/News/Nachrichten-aus-Kiel/Vorstoss-aus-dem-Rathaus-Wirbel-um-Plaene-fuer-Wohnungslosenhilfe

HEMPELS wird in seiner Mai-Ausgabe weitere Artikel zu dem Thema veröffentlichen.


Wo bleibt der Kieler Mietspiegel 2016?

Sybille Kambeck / janefire.de

Der neue Mietspiegel für Kiel lässt auf sich warten. Grund hierfür sind die schwachen Rückmeldungen durch die angeschriebenen Mieterhaushalte sowie der Umstand, dass der neue Mietspiegel 2016 erstmals nach dem sog. Regressionsmodell erstellt werden soll. Das hat Folgen für das Miet- und Sozialrecht.

Eine Indexfortschreibung der Werte des Kieler Mietspiegels 2014 nach § 558 d Abs. 2 Satz 2 BGB ist nicht möglich, da der Mietspiegel 2014 bereits auf den fortgeschriebenen Werten des Mietspiegels 2012 beruht. Bei Streitigkeiten zwischen Vermieter und Mietern um Mieterhöhungen dürfte der Kieler Mietspiegel als sog. „einfacher Mietspiegel“ heranzuziehen sein. Für die Spanneneinordnung ist gegebenenfalls ein (teures) Gerichtsgutachten erforderlich.

Für das Sozialrecht wirft sich die Frage auf, ob die aktuellen Kieler Mietobergrenzen, die aus den Werten des Kieler Mietspiegels 2014 errechnet worden sind, seit 01.12.2016 noch auf einem sog. „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen. Betroffene, die aktuell eine Mietsenkungsaufforderung erhalten oder deren Miete in 2017 bereits auf die Mietobergrenze 2014 abgesenkt werden soll, ist zu raten, jedenfalls bei geringfügigen Überschreitungen der Mietobergrenze (bei Bestandsmieten: zuzüglich 10%-Toleranz) Widerspruch gegen die entsprechenden Bewilligungsbescheide zu erheben.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Alleinerziehende sollten Kosten der Unterkunft prüfen

(c) GesaD / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

In zwei aktuellen Beschlüssen hat das Sozialgericht Kiel klargestellt, dass alleinerziehende Eltern im ALG II-Bezug, deren Kinder aufgrund von eigenem bedarfsdeckenden Einkommen nicht hilfebedürftig sind, einen Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft für eine Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaft (in Kiel derzeit: 342,50 € bruttokalt) haben.

Bei alleinerziehenden Eltern im ALG II-Bezug kann es vorkommen, dass die Kinder aufgrund von eigenen Einkünften wie etwa Unterhalt, Kindergeld und Kinderwohngeld keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) haben. In diesem Fall bilden die Kinder mit ihrem Elternteil, bei dem sie leben, keine so genannte „Bedarfsgemeinschaft“ (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Dies wiederum hat zur Folge, dass das Jobcenter Leistungen für die Unterkunft nur dem allein erziehenden Elternteil erbringt und sich folglich die Angemessenheitsgrenze an der Mietobergrenze für einen Ein-Personen-Haushalt zu orientieren hat. Bei einer alleinerziehenden Mutter sind in Kiel deswegen für die Mutter bis zu 342,50 € bruttokalt anstatt lediglich die Hälfte der Mietobergrenze für eine Zwei-Personen-Bedarfgemeinschaft in Höhe von 411,00 € bruttokalt (also 205,50 € bruttokalt) anzuerkennen.

(SG Kiel, Beschluss vom 11.08.2016, S 43 AS 185/16 ER und SG Kiel, Beschluss vom 30.11.2016, S 39 AS 289/16 ER unter Berufung auf BSG, Urteil vom 18.02.2010, B 14 AS 73/08)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2017

Nachtrag 25.04.2018: So jetzt auch ausdrücklich BSG, Urteil vom 25.04.2018, B 14 AS 14/17 R (Terminbericht in den Kommentaren).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Feststellungsklage gegen Kostensenkungsaufforderung zulässig

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Erachtet das Jobcenter die Kosten der Unterkunft von Beziehern von ALG II (Hartz IV) für zu hoch, fordert es diese auf, ihre Kosten innerhalb einer Frist von regelmäßig sechs Monaten auf ein angemessenes Maß zu senken. Erfolgt eine Kostensenkung, die in der Regel durch einen Umzug wird erfolgen müssen, nicht, werden nach Ablauf der sechs Monate nur noch Kosten in angemessener Höhe (sog. „Mietobergrenze“) anerkannt. Da es sich bei der Kostensenkungsaufforderung nicht um einen Verwaltungsakt handelt, kann gegen diese kein Widerspruch erhoben werden.

Mit Urteil vom 15.06.2016 hat das Bundessozialgericht (BSG) nun allerdings unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen entschieden, dass sich ein ALG II-Bezieher gegen eine Kostensenkungsaufforderung unmittelbar mit einer Feststellungsklage zur Wehr setzen kann. Denn nur durch eine Klage auf Feststellung des Nichtbestehens einer Kostensenkungsobliegenheit kann in diesen Fällen dem verfassungsrechtlichen Gebot aus Art. 19 Abs. 4 GG, effektiven Rechtschutz zu gewährleisten, Rechnung getragen werden. Weil existenzsichernde Leistungen im Streit stehen, ist es den von einer Umzugsaufforderung Betroffenen nicht zumutbar, abzuwarten, ob und wann das Jobcenter die Leistungen für die Unterkunft tatsächlich absenkt. Allerdings ist die Feststellungsklage nach Auffassung des BSG ultima ratio und kann  deswegen nicht mit der allgemeinen Behauptung begründet werden, die Mietobergrenze sei vom Jobcenter unzutreffend bestimmt worden. Ein Feststellungsinteresse besteht vielmehr nur dann, wenn eine Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Kostensenkung geltend gemacht wird.

(BSG, Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 36/15 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Vermieter muss Parabolantenne iranischer Familie dulden

(c) GesaD / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Immer wieder gehen Vermieter wie selbstverständlich davon aus, sie könnten von ihren Mietern die Demontage von Satellitenantennen verlangen. Hinweise auf die besonderen Informationsbedürfnisse der Mieter sind dabei – gerade gegenüber institutionellen Vermietern und deren ebenso „institutionellen“ Anwaltskanzleien, die irgendwo in Deutschland ihren Sitz haben – regelmäßig in den Wind gesprochen.

Zur Durchsetzung ihrer vermeintlichen Ansprüche wird – selbst bei schmucklosesten Plattenbauten – mit dem „ästhetischen Gesamteindruck des Hauses“, der „Aufrechterhaltung des intakten Eigentums“ oder der gefährlichen „Segelwirkung“ von Parabolspiegelantennen argumentiert. Die rechtliche Argumentation der Mieteranwälte wird im schriftlichen Verfahren nicht selten pauschal als „unerheblich“, „vollkommen unerheblich“, von „Mangel an Substanz“ gekennzeichnet, nicht „einlassungsfähig“ usw. abgetan.

Nun ersetzt Überheblichkeit keine rechtliche Argumentation und so hat dann das AG Kiel mit Urteil vom 10.02.2017 zum Aktenzeichen 116 C 25/16 die Klage eines großen Vermieters in Kiel abgewiesen. In der Urteilsbegründung werden einige Grundsätze aufgestellt, die auch für andere ausländische Mieter von Interesse sein dürften:

„Der Klägerin steht auch nicht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch zu. Die Aufstellung einer Satellitenempfangsantenne auf einen mitvermieteten Balkon einer Wohnung ist dann ver­tragswidrig, wenn sie sich nicht im Rahmen des den Mietern gemäß § 535 Abs. 1 BGB zu ge­wahrenden vertragsgemäßen Gebrauchs hält bzw. wenn der Vermieter nicht aufgrund einer aus § 242 BGB herzuleitenden Nebenpflicht aus dem Mietvertrag eine solche Aufstellung zu dulden hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Grundrecht des Mieters aus Artikel 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, auch in zivilgerichtlichen Streitigkeiten über die Anbringung von Satellitenempfangsanlagen an Mietwohnungen Rechnung zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das – gleichrangige – Grundrecht des Vermieters aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG berührt ist, wenn von ihm verlangt wird, ei­ne Empfangsanlage an seinem Eigentum zu dulden. Das erfordert in der Regel eine fallbezogene Abwägung der von dem eingeschränkten Grundrecht und dem grundrechtsbeschränkenden Ge­setz geschützten Interessen, die im Rahmen auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale des bür­gerlichen Rechts (§ 535 Abs. 1 S. 1, 2 i.V.m. § 541 BGB unter Beachtung von § 242 BGB) vor­zunehmen ist.

Unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Vertragsparteien und Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls hat das aus Art. 14 Abs. 1 GG herzuleitende Eigentumsinteresse hinter dem Informationsbedürfnis der Beklagten aus Art. 5 GG zurückzutreten. Der Empfang von digita­len Zusatzprogrammen kann dann zum Duldungsanspruch führen, wenn damit den durch den Ausländerstatus begründeten besonderen Interessen Rechnung getragen wird. Ausländische Mieter sind regelmäßig daran interessiert, ihre sprachliche und kulturelle Verbindung zu ihrem Heimatland zu erhalten. Bei dem Empfang von digitalen Zusatzprogrammen bleibt der Duldungs­anspruch des Mieters auf Errichtung einer Parabolantenne ebenfalls bestehen, wenn das in das Netz eingespeiste ausländische Programm lediglich ein – in zeitlicher oder sachlicher – Hinsicht nur eingeschränktes Programm bietet. Zugunsten des Mieters ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit einer Auswahl und der zeitverschobenen Nutzung mehrerer Programme der Gefahr einseitiger Informationen entgegen wirkt. Zudem eröffnet eine breite Angebotspalette dem Fernsehnutzer Auswahlalternativen, die seinen Neigungen und Bedürfnissen entgegenkommen können.

Das Interesse der Beklagten geht dahin, ihren Kindern es zu ermöglichen, Kindersendungen aus dem Iran auf Persisch zu empfangen, damit diese spielerisch die Sprache erlernen können. Die­sem Informationsbedürfnis wird durch den Empfang von digitalen Zusatzprogrammen nicht genü­ge getan. Die Beklagten haben hierzu dargelegt, dass die übers Internet zu empfangenen Sender ihrem Informationsbedürfnis ihren Kindern ein kindergerechtes, weltanschaulich neutrales Fern­sehen zu ermöglichen, nicht gewahrleistet werden und darüber hinaus dargelegt, welche über Satellit zu empfangenen Sender dies nur ermöglichen.

Zwar ist auf Vermieterseite zu berücksichtigen, dass mit der Anbringung kein erheblicher Eingriff in die Bausubstanz verbunden sein darf, der Mieter den Vermieter von anfallenden Kosten – auch Folgekosten – und Gebühren freistellen muss, die Antenne fachmännisch installiert werden muss und der Mieter das Haftungsrisiko des Vermieters abzudecken hat sowie ihm auf dessen Verlan­gen für die voraussichtlichen Kosten der Entfernung der Anlage Sicherheit zu leisten hat.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Lange Elternzeit kann zum Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld führen

ltsh_logo„Wer nach dem dritten Lebensjahr des Kindes Elternzeit von mehr als zwölf Monaten nimmt, muss aufpassen, dass er seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht verliert“, teilte die Bürgerbeauftragte Samiah El Samadoni heute (Montag) in Kiel mit.

Voraussetzung für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ist, dass innerhalb der letzten zwei Jahre vor Beginn der Arbeitslosigkeit mindestens 12 Monate ein Versicherungspflichtverhältnis bestanden hat. In der Regel wird das durch ein Beschäftigungsverhältnis erreicht. Gleiches gilt auch, wenn man in diesem Zeitraum Krankengeld bezogen oder Elternzeit in Anspruch genommen hat. „Bei Letzterem ist aber zu beachten, dass dies nicht gilt, wenn die Elternzeit nach dem drittem Lebensjahr des Kindes genommen wird“, erläuterte die Bürgerbeauftragte.

Im vom Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (Urteil vom 30.08.2016, Aktenzeichen L 1 AL 61/14) entschiedenen Fall hatte die Mutter 15 Monate Elternzeit nach dem dritten Geburtstag ihres Sohnes genommen. Davor hatte sie gearbeitet, während der Elternzeit dagegen nicht. Unmittelbar im Anschluss an die Elternzeit wurde sie arbeitslos. Weil sie in den letzten zwei Jahren vor Beginn der Arbeitslosigkeit nicht mindestens 12 Monate ein Versicherungspflichtverhältnis gehabt hatte – die Elternzeit zählte nicht mit –, lehnte die Bundesagentur für Arbeit einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ab. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg.

„Wenn Eltern die Elternzeit auf einen Zeitraum nach dem dritten Geburtstag des Kindes übertragen, sollten sie unbedingt darauf achten, dass ein möglicher Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht verloren geht“, warnte El Samadoni. Seit August 2016 besteht für Erziehende zudem die Möglichkeit, sich freiwillig in der Arbeitslosenversicherung weiter zu versichern, um mögliche Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden (§ 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch III).

Unter dem folgendem Link  http://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb_/pressemitteilungen.html stehen Ihnen weitere Presseinformationen zur Verfügung.

Die vollständige Pressemitteilung des  Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (PM 18/2016) finde sich hier und ist als Kommentar zu diesem Beitrag hinterlegt.


Kein höheres ALG II wegen Hundehaftpflichtversicherung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Beiträge, die für eine gesetzlich vorgeschriebene Haftpflichtversicherung eines Hundes gezahlt werden, können vom Halter nicht vom Einkommen abgesetzt werden, um so höheres ergänzendes steuerfinanziertes Arbeitslosengeld II zu erhalten. Dies hat der 14. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Februar 2017 entschieden und damit eine Entscheidung der Vorinstanz bestätigt (B 14 AS 10/16 R).

Geklagt hatte eine Hundehalterin, die ergänzend zu ihrem Einkommen aus Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II bezogen hatte. Das Bundessozialgericht begründete die fehlende Absetzmöglichkeit der Versicherungsbeiträge mit Sinn und Zweck der einschlägigen gesetzlichen Bestimmung (§ 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II): Danach sollen nur solche Versicherungen, die einen spezifischen Bezug zu den Zielen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch aufweisen, vom Einkommen abgesetzt werden können, so zum Beispiel die Gebäudebrandversicherung, weil sie dem Wohnen dient, oder die Kfz-Haftpflichtversicherung, weil durch ein Auto die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert wird. Ein derartiger Bezug zur Existenzsicherung oder zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist bei der Tierhaltung nicht gegeben, auch wenn ein Hund für viele Menschen von großer Bedeutung ist. Ist ein Hund aus gesundheitlichen Gründen notwendig, werden zum Beispiel von der Krankenkasse die Kosten eines Blindenführhundes übernommen.

Quelle: Pressemitteilung 3/2017 vom 8. Februar 2017


Hartz IV: Glücksspiel lohnt sich nicht

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Glückspielgewinne sind im ALG II-Bezug als Einkommen anzurechnen. Und zwar auch dann, wenn nach Abzug der Spieleinsätze tatsächlich ein Verlust entstanden ist.

Aus vorgelegten Kontoauszügen wurden dem Jobcenter zahlreiche bar eingezahlte Beträge des späteren Klägers  bekannt. Als Herkunft der Gelder gab der ALG II-Bezieher Gewinne am Spielautomaten an. Aufgrund der Anrechnung der Glücksspielgewinne als Einkommen hob das Jobcenter daraufhin die dem Kläger über mehrere Jahre bewilligten ALG II-Leistungen teilweise auf. Mit seinem Vorbringen, dass er unter dem Strich keinen „Gewinn“ erzielt habe, weil die Spieleinsätze insgesamt die Spielgewinne überstiegen, ist der Kläger auch vor dem Bundessozialgericht (BSG) ohne Erfolg geblieben.

Die Bareinzahlungen des Klägers, die aus Glücksspielgewinnen stammen, sind als Einkommen nach den Vorschriften über Einkommen in sonstigen Fällen zu berücksichtigen. Es handelt sich dabei nicht um Einkommen aus einem Gewerbebetrieb. Entgegen der Ansicht des Klägers sind als notwendige Ausgaben zur Gewinnerzielung  nur die Einsätze vom Spielgewinn absetzbar, die zum Spielgewinn geführt haben, nicht hingegen sämtliche aufgewendete Spieleinsätze. Denn für die Einkommensberechnung unbeachtlich sind Ausgaben, die überwiegend dem privaten Bereich zugeordnet werden können – wie die in erster Linie zur Befriedigung des Spielbedürfnisses aufgewendeten weiteren Spieleinsätze, die nicht unmittelbar zu einem Gewinn geführt haben.

(BSG, Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 41/15 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Erhöhtes Schonvermögen im SGB XII / In Härtefällen schon jetzt anzuwenden

Zum 1. April 2017 steigt im SGB XII das Schonvermögen für alle volljährigen Personen, die alleine oder in einer sozialrechtlichen Einstandsgemeinschaft leben von 1.600/2.600 EUR und 614 EUR für Partner auf 5.000 EUR pro Person (einschließlich Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege und Blindenhilfe), für jede weitere unterhaltene Person um 500 EUR. Damit werden dann auch KFZ’s innerhalb der Schonvermögensgrenzen in Geldeswert möglich.

Diese Regelung  gilt ab 1. April 2017, das BMAS hat aber mitgeteilt, dass in Erwartung der kommenden Regelung in Härtefällen die neue Regelung schon angewendet werden könnte.

Die BMAS Mitteilung liegt noch nicht vor, aber eine Mitteilung vom hessischen Sozialministerium: http://www.harald-thome.de/media/files/Hinweis-HSM-21.12.2016.pdf

Quelle: Thomé Newsletter 05/2017 vom 29.01.2017


Wartezeiten von mehr als 15 Minuten bei der Höhe der Terminsgebühr zu berücksichtigen

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Wartezeiten eines Rechtsanwalts vor einem Termin zur mündlichen Verhandlung, welche die in der Ladung mitgeteilte Uhrzeit um mehr als 15 Minuten überschreiten und die allein der Sphäre des Gerichts zuzurechnen sind, sind bei der Bestimmung der Terminsgebühr gebührenerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Wartezeit von 1 ½ Stunden ist die Mittelgebühr um 1/3 heraufzusetzen (Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22.11.2016, L 5 SF 91/15 B E).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: „Ausnahmsweise“ einmaliger telefonischer Klärungsversuch ausreichend

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 23.01.2017 zum Aktenzeichen 7 UR II 23/16 hat das AG Kiel einen Rechtspflegerbeschluss aufgehoben, mit dem ein Antrag auf Beratungshilfe mit der Begründung abgelehnt worden war, der Rechtsuchende hätte sich ohne anwaltliche Hilfe selbst um eine Lösung der Angelegenheit bemühen können, die Beantragung von Beratungshilfe sei deswegen „mutwillig“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs 3 BerHG gewesen.

Im Erinnerungsverfahren wurde nun richterlich bestätigt, dass der Rechtsuchende seine vor Aufsuchen eines Anwalts stattgehabten „Eigenbemühungen“ glaubhaft gemacht hat. Aufgrund der Dringlichkeit und der Bedeutung der Angelegenheit sowie der glaubhaft gemachten Reaktion des Gegners sei „ausnahmsweise ein einmaliger telefonischer Klärungsversuch ausreichend“ gewesen.

Anmerkungen

Das Vertretungsmandat in dieser Angelegenheit hat vom 15.03.2012 bis zum 28.03.2012 gedauert. Es konnte für den Rechtsuchenden am 28.03.2012 in zwei Telefonaten erfolgreich bearbeitet und abschlossen werden. Das Verfahren über die Beantragung von Beratungshilfe sowie das sich anschließende Erinnerungsverfahren haben vom 30.12.2015 bis zum 26.01.2017 gedauert und es waren insgesamt 9 Schriftsätze abzusetzen. Ich lasse das jetzt einfach einmal kommentarlos so stehen.

Rechtsuchenden und auch der Rechtsanwaltschaft ist vor dem Hintergrund der neueren Rechtspraxis an vielen Amtsgerichten, die Beratungshilfe von der Glaubhaftmachung zuvor stattgehabter sog. „Eigenbemühungen“ des Rechtsuchenden abhängig zu machen, zu raten, diese im Fall der nachträglichen Beantragung von Beratungshilfe (vgl. dazu Stichwort Beratungshilfe, 1.) genau zu notieren und etwaige schriftliche Nachweise zur Akte zu nehmen. Gegebenenfalls empfiehlt es sich, gleich in der ersten Beratung eine Versicherung des Rechtsuchenden über Art um Umfang seiner „Eigenbemühungen“ aufzunehmen. Im Regelfall wird der Anwalt vor dem Hintergrund der stark von Kontingenzen geprägten Rechtsprechung zu der Frage, wann die Inanspruchnahme von Beratungshilfe mutwillig ist, auf die Vorlage eines Berechtigungsscheins bestehen. Dies ist die logische Folge einer Gesetzgebung, die – anstatt Ansprüche klar zu formulieren – in zunehmendem Umfang nicht nur mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert, sondern zur (scheinbaren) Konkretisierung der von ihr bemühten unbestimmten Rechtsbegriffe neue – genauso unbestimmte – Rechtsbegriffen einführt. § 1 Abs. 3 BerHG steht hierfür als Paradefall:

Mutwilligkeit liegt vor, wenn Beratungshilfe in Anspruch genommen wird, obwohl ein Rechtsuchender, der keine Beratungshilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände der Rechtsangelegenheit davon absehen würde, sich auf eigene Kosten rechtlich beraten oder vertreten zu lassen. Bei der Beurteilung der Mutwilligkeit sind die Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers sowie seine besondere wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen.“

Mit dieser Formulierung hat der Gesetzgeber zum 01.01.2014 die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zur „zumutbaren Selbsthilfe“ umgesetzt. Wie derartiges soft law indessen in der tagtäglichen (Beratungshilfe)Praxis umgesetzt werden soll, erschließt sich vermutlich nur mit höheren Weihen gesegneten obersten Bundesrichtern und unserem bundesdeutschen Gesetzgeber des 21. Jahrhunderts.

Das Amtsgericht Kiel jedenfalls hat nun festgestellt: Eigenbemühungen können auch fernmündlich erfolgen und wenn es sehr eilt und um wichtige Rechtsgüter geht, dann genügt ausnahmsweise auch ein einmaliger Klärungsversuch. Derartiger Kasuistik gehört offenbar die Zukunft.

Siehe auch: AG Halle (Saale), Beschluss vom 08.02.2012, 103 II 931/11: Auch Telefongespräche mit dem Gegner stellen eine Vertretung im Sinne des § 2 Abs. 1 BerHG dar.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Doppelmieten übernehmen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Bei einem Umzug lässt es sich häufig nicht vermeiden, dass Mieten für zwei Wohnungen – die ehemalige und die neue Wohnung – gezahlt werden müssen. Denn die alte Wohnung sollte erst gekündigt werden, wenn der Vertrag für die neue Wohnung unterschrieben ist. Denn sonst droht Wohnungslosigkeit, wenn der Vertrag später doch nicht zustande kommt. Bezieher von ALG II (Hartz IV) müssen mit den Jobcentern immer wieder um die Übernahme unvermeidbarer Doppelmieten streiten.

Das Sozialgericht Kiel hat in einem aktuellen Urteil erneut entschieden, dass Doppelmieten als Kosten der Unterkunft vom Jobcenter zu übernehmen sind, wenn der Umzug notwendig war und der Leistungsberechtigte alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, Doppelmieten zu vermeiden beziehungsweise so gering wie möglich zu halten. So hatte sich die Klägerin in diesem Verfahren vergeblich an den neuen Vermieter gewandt, um den Beginn des Mietverhältnisses auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen. Sie hatte aktiv einen Nachmieter gesucht und zu diesem Zwecke unter anderem Kleinanzeigen und Annoncen aufgegeben. Damit hat sie nach Auffassung des Gerichts alles ihr Mögliche und Zumutbare getan, um ihre Mietaufwendungen so gering wie möglich zu halten. Das Jobcenter musste die doppelten Mietaufwendungen deswegen übernehmen.

(Sozialgericht Kiel, Urteil vom 27.09.2016, S 40 AS 500/15)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren, wenn für das Überprüfungsverfahren Beratungshilfe gewährt wurde?

Logo BVerfGWurde Beratungshilfe für die Stellung eines Überprüfungsantrages gewährt, soll die Ablehnung der Beratungshilfe für ein anschließendes Widerspruchsverfahren den Rechtssuchenden nicht in seinem grundgesetzliche verbürgten Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG verletzen. Denn mit der anwaltlichen Beratung im Überprüfungsverfahren sei auch die anwaltliche Beratung im anschließenden Widerspruchsverfahren als bereit gewährt anzusehen (BVerfG, Beschluss vom 7. November 2016 – 1 BvR 1517/16 – ).

Bewertung

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überzeugt nicht. Verwaltungsverfahren, Überprüfungsverfahren und Widerspruchsverfahren sind – was gebührenrechtlich vollkommen unstrittig weil gesetzlich eindeutig normiert – verschiedene Angelegenheiten (§ 17 Nr. 1a RVG). Sie werden deswegen vom Rechtsanwalt auch gesondert abgerechnet. Die vom anwaltlichen Vergütungsrecht abweichende Rechtsprechung des BVerfG im Bereich der Beratungshilfe führt damit dazu, dass unbemittelte Bürger ihre Rechte nicht in gleicher Weise wahrnehmen können wie bemittelte Bürger, die ihren Anwalt in beiden Verfahren – Überprüfungs- und Widerspruchsverfahren – bezahlen können.

Zudem vermag die These, mit der Gewährung von Beratungshilfe für das Überprüfungsverfahren sei auch die gewünschte Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren als bereits gewährt anzusehen, nur in Fällen zu überzeugen, in denen im widerspruchsfähigen Ablehnungsbescheid keine neuen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen zu beurteilen sind, die im vorangegangenen Überprüfungsverfahren noch nicht aufgeworfen worden sind.

Zuletzt relativiert das BVerfG mit dieser Entscheidung seine bisherige ständige Rechtsprechung, wonach für Widerspruchsverfahren stets Beratungshilfe zu gewähren ist (vgl. Stichwort Beratungshilfe, dort unter 3.3.3). Da die Beschlüsse des Amtsgerichts Bayreuth nicht veröffentlicht sind, lässt sich hier allerdings nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Gründe für diese Entscheidung sich in dem konkreten Einzelfall finden lassen.

Dem Rechtsanwalt kann aufgrund von Entscheidungen wie dieser nur geraten werden, Beratungshilfe nur noch gegen Vorlage eines Berechtigungsscheins zu gewähren, da sich die Voraussetzungen der Beratungshilfegewährung zunehmend der rationalen Vorhersehbarkeit entziehen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bei Untätigkeitsklage keine Anrechnung der Geschäftsgebühr aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Immer wieder versuchen es Behörden – hier das Justitiariat des Norddeutschen Rundfunks – weswegen es an dieser Stelle noch einmal klar gesagt werden soll:

Die Geschäftsgebühr aus einem Verwaltungs- oder Vorverfahren ist auf die Gebühren in einem Untätigkeitsklageverfahren auch im Verwaltungsrecht nicht anzurechnen. Zu beachten ist nämlich, dass Voraussetzung für eine Anrechung ist, dass der Streitgegenstand derselbe ist. Im Verwaltungs- oder Nachprüfungsverfahren ist der Anwalt in der Hauptsache tätig. Im Verfahren der Untätigkeitsklage geht es bei der verwaltungsgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO ausschließlich um den Anspruch auf Bescheidung, nicht aber um die Sache selbst. Es handelt sich also faktisch um einen eigenen Instanzenzug. Da ein Verwaltungs- oder Nachprüfungsverfahren zur isolierten Untätigkeitsklage nicht vorgesehen ist, kann insoweit auch keine Vorbefassung gegeben sein. Daher ist bei einer Untätigkeitsklage keine Anrechnung einer vorangegangen Geschäftsgebühr vorzunehmen.

Dem folgend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 14.09.2016, 4 A 64/16.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Reparaturkosten bei Eigenheim voll übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Als Bedarf für die Unterkunft werden nach § 22 Abs. 2 SGB II bei selbst bewohntem Wohneigentum auch unabweisbare Aufwendungen für Instandhaltung und Reparatur als Zuschuss anerkannt, soweit hierdurch die für Mietwohnraum geltenden örtlichen Angemessenheitsgrenzen in 12 Monaten nicht überschritten werden. Beispiel: Laufende Kosten der selbst genutzten Immobilie: 300,00 € monatlich ohne Heizung, Mietobergrenze für angemessene Mietwohnung 400,00 €, Reparaturkosten bis 1.200,00 € im Jahr können als Zuschuss übernommen werden, ein etwaiger Rest nur als Darlehen.

Das Sozialgericht Dortmund hat nun entschieden, dass ein Jobcenter die Kosten für die Erneuerung einer defekten Gasheizung (5.200,00 €) ungeachtet der Frage der Angemessenheit der Wohnkosten tragen muss, wenn es zuvor der langzeitarbeitslosen Hauseigentümerin keine Kostensenkungsaufforderung zugestellt hat. Es könne dahinstehen, ob die Wohnkosten – wie von dem Jobcenter angenommen – unangemessen seien. Jedenfalls habe die Behörde es versäumt, der Klägerin vorab eine Kostensenkungsaufforderung zuzustellen. Das Erfordernis der Kostensenkungsaufforderung gelte für Mietwohnungen wie für selbstbewohntes Wohneigentum gleichermaßen. Mieter und Eigentümer seien als Grundsicherungsbezieher insoweit gleich zu behandeln.

Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 19.09.2016, S 19 AS 1803/15

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte fordert vollständige Abschaffung der Zwangsverrentung für Arbeitslose

ltsh_logoDie umstrittene Zwangsverrentung von älteren ALG II Empfängern wird ab dem kommenden Jahr eingeschränkt. Das regelt die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegte Erste Verordnung zur Änderung der Unbilligkeitsverordnung. „Diese Änderung ist zu begrüßen, greift aber nicht weit genug“, sagte die Bürgerbeauftragte Samiah El Samadoni heute in Kiel. „Die Zwangsverrentung muss komplett abgeschafft werden. Niemand darf gegen seinen Willen zum Eintritt in eine vorgezogene Altersrente gezwungen werden.“

Nach der Verordnung, die ab 1. Januar 2017 in Kraft tritt, sollen die Leistungsberechtigten von der Zwangsverrentung ausgenommen werden, bei denen die geringe Höhe der vorgezogenen Rente zur Bedürftigkeit führen würde – und die dann auf Grundsicherungsleistungen angewiesen wären. „Diese Beschränkung der Zwangsverrentung ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber auf keinen Fall ausreichend. Alle Leistungsbezieher sollen freiwillig entscheiden, ob sie den Bezug der vorzeitigen Altersrente wählen oder weiterhin die Chance nutzen, auf dem Arbeitsmarkt einen Job zu finden. Deshalb ist es unumgänglich und notwendig, die Zwangsverrentung vollständig abzuschaffen“, forderte die Bürgerbeauftragte.

Nach dem SGB II sind alle Leistungsbezieher ab Vollendung des 63. Lebensjahres verpflichtet, ihre Altersrente vorzeitig in Anspruch zu nehmen – obwohl sie dabei dauerhaft Abschläge hinnehmen müssen. Jeder Monat vorzeitiger Ruhestand bedeutet dann 0,3 % weniger Rente. Wer also im Dezember dieses Jahres 63 Jahre alt wird und in Rente gehen muss, obwohl sie regulär erst mit 65 Jahren und sieben Monaten beginnen würde, dem stehen ein Leben lang 9,3 % (31 Monate x 0,3 %) weniger Altersrente zu. Dadurch, dass der Eintritt in die Rente sich nach hinten ver-schiebt, erhöhen sich die Abschläge zudem stetig weiter. Wenn das reguläre Renteneintrittsalter bei 67 Jahren liegt, stehen den Betroffenen sogar 14,4 % (48 x 0,3 %) weniger Rente zu.

Daneben hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe (RBEG) vorgelegt.

Das RBEG regelt die Höhe der Regelbedarfe nach dem SGB XII (Nichterwerbsfähige, Menschen mit Behinderung, Bezieher von Grundsicherung im Alter) und der Regelleistung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (Erwerbsfähige). Nach diesem erhalten ab 2017 Allein-stehende 409 Euro (+5 Euro), Partner in einer Bedarfsgemeinschaft 368 Euro (+4 Euro), weitere Erwachsene 327 Euro (+3 Euro), Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahren 311 Euro (+4 Euro), Kinder von 6 bis unter 14 Jahre 291 Euro (+21 Euro), Kinder unter 6 Jahren 237 Euro (+0 Euro). Der Bundesrat muss dem Gesetz noch zustimmen.

Quelle: http://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb_/pressemitteilungen.html


Neue Mietobergrenzen im Kreis Plön seit 01.06.2016

Ortsschild PlönSeit 01.06.2016 gelten im Kreis Plön neue Mietobergrenzen, die – soweit hier ersichtlich – vom Jobcenter Kreis Plön bisher nicht veröffentlicht worden sind. Eine am 18.10.2016 stattgehabte Abfrage ergab vielmehr, dass das Jobcenter Kreis Plön auf seiner Website noch immer die alten, lediglich bis einschließlich Mai 2016 gültigen Mietobergrenzen veröffentlicht hat, obgleich das Jobcenter Kreis Plön im Rahmen eines Klageverfahrens von hieraus bereits mit Schriftsatz vom 16.08.2016 auf die fehlerhaften Informationen hingewiesen wurde. Die ab 01.06.2016 geltenden höheren Mietobergrenzen im Kreis Plön finden sich hier:

Mietobergrenzen Kreis Plön, gültig ab 01.06.2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Eingliederungsvereinbarung muss Bewerbungskostenübernahme regeln

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Der Verstoß eines ALG-II-Beziehers gegen eine nichtige Eingliederungsvereinbarung (EGV) löste keine Sanktionsfolgen aus. Eine EGV ist nichtig, wenn in ihr die Eignung und individuelle Lebenssituation des Leistungsberechtigten keine Berücksichtigung finden und sie keine individuellen, konkreten Leistungsangebote zur Eingliederung in Arbeit enthält. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) in einem aktuellen Fall entschieden.

Der Kläger schloss mit dem beklagten Jobcenter mehrere EGV. Nach diesen war er verpflichtet, mindestens zehn Bewerbungsbemühungen pro Monat zu unternehmen. Das Jobcenter bot pauschal Unterstützungsleistungen zur Beschäftigungsaufnahme an. Eine Regelung zur Erstattung von Bewerbungskosten enthielten die EGV nicht. Der Kläger erfüllte nach Auffassung des Jobcenters seine Verpflichtung nicht und strich ihm deswegen sein ALG II vollständig.

Nach Auffassung des BSG waren diese Sanktionsentscheidungen schon deshalb rechtswidrig, weil der Kläger durch die EGV nicht zu Bewerbungsbemühungen verpflichtet war. Denn diese sahen keine individuellen, konkreten und verbindlichen Unterstützungsleistungen für die Bewerbungsbemühungen des Klägers insbesondere durch Übernahme von Bewerbungskosten vor. Damit fehlte es an der Verpflichtung des Klägers zu Bewerbungsbemühungen und deswegen bereits an den Grundlagen für die angefochtenen Sanktionsentscheidungen.

(BSG, Urteil vom 23.06.2016, B 14 AS 30/15 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht verletzt Sozialhilfeempfänger durch Ablehnung von Prozesskostenhilfe in seinem Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit

Logo BVerfGIn einem aktuellen Beschluss vom 04.08.2016 zum Aktenzeichen 1 BvR 380/16 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht einen Sozialhilfeempfänger durch die Ablehnung seines Antrages auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein Antragsverfahren auf Aussetzung der Vollstreckung in seinem Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verletzt hat. Zur Begründung hat das BVerfG ausgeführt (Rn. 14 ff.):

c) Die Entscheidung des Landessozialgerichts beruht auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das Landessozialgericht bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Befassung mit dem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Damit ist höchstrichterlich klargestellt, dass für die anwaltliche Vertretung in Verfahren über die Aussetzung der Vollstreckung aus sozialgerichtlichen Urteilen bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen stets Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Regierung verteidigt vorzeitige Altersrente

Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Regelungen für den Bezug einer vorzeitigen Altersrente von Arbeitslosengeld-II-Beziehern (vgl. § 12a Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 SGB II) grundlegend zu reformieren. Lediglich eine Ergänzung der sogenannten Unbilligkeitsverordnung werde derzeit geprüft, schreibt die Regierung in ihrer Antwort (18/9403) auf eine Kleine Anfrage (18/9296) der Fraktion Die Linke. Die Unbilligkeitsverordnung regelt Ausnahmen, wonach der Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht in Anspruch genommen werden muss.

Quelle: http://www.bundestag.de/presse/hib/201609/-/438432


SG Kiel: Wohnraummehrbedarf von 5 Quadratmetern bei Wahrnehmung des Umgangsrechts mit einem Kind

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

In einer aktuellen Entscheidung vom 09.08.2016 hat die 33. Kammer am SG Kiel einem arbeitslosen Vater in Kiel, der an rund 150 Tagen im Jahr im Rahmen seines Umgangsrechts seinen Sohn in seiner Wohnung aufnimmt, Leistungen für die Unterkunft für eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 55 Quadratmetern (= 376,75 € bruttokalt) zugesprochen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt:

„Mit Blick auf die grundrechtliche Bedeutung des Schutzes der Familie hält die Kammer im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens angesichts der hier festzustellenden temporären Bedarfsgemeinschaft eine Erhöhung der Wohnflächengrenzen für geboten, so dass das Vor­liegen einer temporären Bedarfsgemeinschaft nicht nur im Rahmen des anteiligen Sozial­gelds für den Sohn leistungsrechtliche Berücksichtigung findet (der Antragsgegner gewährt bereits anteiliges Sozialgeld), sondern auch im Bereich der Unterkunftskosten Beachtung zu finden hat. Diesen Standpunkt hat auch das BSG in seinem Urteil vom 17. Februar 2016 zum Az. B 4 AS 2/15 R eingenommen: Soweit hiernach dem umgangsberechtigten Elternteil gerade wegen der Wahrnehmung des Umgangsrechts zusätzliche oder höhere Wohnkosten entstehen, stellen diese – ebenso wie andere ihm entstehende Kosten im Zusammenhang mit dem Umgangsrecht – einen zusätzlichen Bedarf des umgangsberechtigten Elternteils dar; besteht wegen der Wahrnehmung des Umgangsrechts etwa ein zusätzlicher Wohnraumbedarf, kann dieser im Rahmen der konkreten Angemessenheit der Unterkunfts- und Heizaufwendungen zu berücksichtigen sein (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2016, aaO).

Allerdings hält die Kammer nicht die Wohnfläche für einen 2-Personenhaushalt in Höhe von 60 qm für angemessen, sondern nur in Höhe von 55 qm.

Im Hinblick auf die grundrechtliche Bedeutung des Umgangsrechts ist grundsicherungsrechtlich zu gewährleisten, dass regelmäßige Aufenthalte von Kindern bei dem umgangsberechtigten Elternteil in einem angemessenen Wohn- und Lebensraum stattfinden können. Wenn eine besondere Schutz- und Förderpflicht des Staates im Hinblick auf die Ausübung des Sorge- und Umgangsrechtes besteht, muss auch grundsicherungsrechtlich sichergestellt sein, dass die grundgesetzlich geschützten und zu fördernden regelmäßigen Aufenthalte von Kindern bei dem sorge- bzw. umgangsberechtigten Elternteil stattfinden können. Das heißt, es muss dafür auch ein entsprechender Wohnraum zur Verfügung stehen. Dass in Fällen der vorliegenden Art von einem erhöhten Unterkunftsbedarf auszugehen ist, hat inzwischen auch der Gesetzgeber anerkannt. Denn er hat mit dem am 1. April 2011 in Kraft getretenen § 22b Abs.3 S.2 Nr.2 SGB II bestimmt, dass eine kommunale Satzung zur Bestimmung der Ange­messenheit der Höhe der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach Maßgabe des § 22a SGB II den erhöhten Raumbedarf wegen Ausübung des Umgangsrechts im Wege einer Sonderregelung berücksichtigen muss.

Die Wahrnehmung des grundgesetzlich geschützten Umgangs- und Elternrechts des Hilfebedürftigen erfordert es jedoch nicht, dauerhaft den vollen Raumbedarf – vorliegend den eines 2-Personenhaushalts – als angemessen anzusehen. Staatliche Leistungen zur Existenzsicherung im Rahmen familienrechtlicher Beziehungen sind nicht dazu bestimmt, die Ausübung des Umgangsrechts bei Bedürftigkeit zu optimieren, sie sollen diese nur ermöglichen (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006, Az. B 7b AS 14/06 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Januar 2016, Az. L 10 AS 480/12; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2014 Az L 3 AS 1895/14 ER-B – alle zitiert nach JURIS). Nach Überzeugung der Kammer entsteht bei Ausübung des Umgangsrechts mit minderjährigen Kindern in der temporären Bedarfsgemeinschaft im Vergleich zu einer dauerhaften Bedarfsgemeinschaft mit Kindern daher nur ein reduzierter zusätzlicher Wohnbedarf, insbesondere für vornehmliche Wochenendaufenthalte und jüngere Kinder erscheint es in der Regel nicht angemessen, die Maßstäbe durchgängiger Bedarfsgemeinschaften anzulegen (so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 25. Januar 2016, Az L 7 AS 914/15 B ER – zitiert nach JURIS).

Zur Ermittlung des konkreten Wohnflächenbedarfs unter Berücksichtigung der Anzahl und des Alters der Kinder und der Dauer und Häufigkeit ihres Aufenthalts bietet es sich nach Auffassung der Kammer im Fall des Antragstellers an, von einem Mittelwert der für einen Haushaltsangehörigen (50 qm) und für zwei Haushaltsangehörige (60 qm) als angemessen festgelegten Wohnfläche auszugehen, da hierdurch der regelmäßig stattfindende Aufenthalt (zwei Nachte wöchentlich sowie die Hälfte der Ferien) des nur einen Kindes im Alter von derzeit 10 Jahren bei dem Antragsteller ermöglicht, das Umgangsrecht also nicht verhindert wird, gleichzeitig aber keine dauerhafte Berücksichtigung des vollen Wohnraumbedarfs grundsicherungsrechtlich notwendig ist. Damit ergibt sich hier ein Wert von 55 qm (vgl. entsprechend LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2014 Az. L 3 AS 1895/14 ER B; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 4. Januar 2012, Az. L 11 AS 635/11 B ER – beide zitiert nach JURIS; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 7. September 2015, Az. L 6 AS 164/15 B ER; SG Kiel, Beschluss vorn 19. Februar 2013, Az. 5 33 AS 33/13 ER), aus dem angemessene Kosten der Unterkunft in Höhe von 376,75 EUR (55 qm x 6,85 EUR) bruttokalt folgen. Diese Unterkunftskosten hat der Antragsgegner vollständig dem Antragsteller – und nicht anteilig dem Sohn des Antragstellers – zuzuordnen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2016 Az B 4 AS 2/15 R – zitiert nach JURIS).“

SG Kiel, Beschluss vom 09.08.2016, S 33 AS 193/16 ER

Zum Thema siehe auch:

Wohnraummehrbedarf zur Wahrnehmung des Umgangsrechts

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


SH LSG zur „Erforderlichkeit“ eines Umzuges nach § 22 Abs. 4 Satz 2 SGB II

Schleswig-Holsteinisches LSG

Schleswig-Holsteinisches LSG

Im Rahmen einer Kostenentscheidung hat sich das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zu den Voraussetzungen eines Umzugsgrundes geäußert und ausgeführt:

„Ein Umzug ist erforderlich, wenn ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund vorliegt, von dem sich auch ein Nichtleistungsempfänger leiten lassen würde. Dies ist u.a. anzunehmen, wenn er durch den kommunalen Träger veranlasst wurde, bei unzureichender Deckung des Wohnraumbedarfes, insbesondere bei ungünstiger Wohnflächenaufteilung und bevorstehender Geburt eines Kindes, bei baulichen Mängeln, Mängeln am Mietobjekt bzw. schlechten sanitären Verhältnissen und gesundheitlicher Belastung durch Ofenheizung, aber auch bei sonstigen dringenden persönlichen Gründen, wie einer nachhaltigen Störung des Vertrauensverhältnisses in einer Wohngemeinschaft, wegen einer Trennung oder auch zur Herstellung einer ehelichen bzw. eheähnlichen Lebensgemeinschaft (vgl. dazu Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 22 Rn. 186 m.w.N.).“

Entscheidung zur Eheschließung ist Umzugsgrund

„Die vorgetragene und durch Vorlage der standesamtlichen Bescheinigung vom ____ Juli 2016 glaubhaft gemachte Entscheidung zur Eheschließung und Gründung einer eigenen Familien ist aber ein für den Wohnungswechsel plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund, von dem sich auch ein Nichthilfebedürftiger hätte leiten lassen. Stellt schon die Heirat eines unter 25 ­jährigen (die zur Auflösung der Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern führt) einen sonstigen Grund im Sinne des § 22 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 SGB II dar, der den Leistungs­träger zur Erteilung einer Zusicherung für die (angemessenen) Kosten der neuen Unterkunft verpflichtet, gilt dies erst m Falle von über 25 jährigen Personen, die noch gemeinsam mit ihrer Mutter eine Unterkunft bewohnen und das gemeinsame Zusammenleben wegen Ehe­schließung und der Gründung einer eigenen Familie beenden wollen. Dass nicht der Sohn, sondern die Antragstellerin diejenige ist, die aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, ist dabei allein der Tatsache geschuldet, dass sie nicht Hauptmieterin der Wohnung ___ ist und diese Wohnung im Übrigen für sie allein auch nicht angemessen wäre.“

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17.08.2016, L 6 AS 113/16 B ER


Jobcenter muss Kosten für Nachsendeauftrag und Telefonanschluss übernehmen

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Wenn ALG II-Bezieher umziehen müssen, muss das Jobcenter auch für die Bereitstellungskosten eines neuen Telefon- und Internetanschlusses sowie die Kosten eines Nachsendeauftrags bei der Post aufkommen. Dies hat heute das BSG im Verfahren BSG B 14 AS 58/15 R entschieden.

Sachverhalt

Umstritten ist die Übernahme von Kosten als Umzugskosten. Nachdem der im Alg II-Bezug stehende Kläger sich von seiner Ehefrau getrennt hatte, sicherte ihm das beklagte Jobcenter die Berücksichtigung der Aufwendungen für die neue Wohnung und die Übernahme der Umzugskosten zu.

Im Rahmen des Umzugs beantragte der Kläger u.a. die Übernahme der Kosten für einen Telefon-und Internetanschluss sowie einen Nachsendeantrag bei der Post. Der Beklagte bewilligte dem auf einen Rollstuhl angewiesenen Kläger die Kosten zur Durchführung des Umzugs sowie für bestimmte Einrichtungsgegenstände als Erstausstattung und lehnte in dem letzten Bescheid u.a. die Übernahme der Kosten für einen Telefon- und Internetanschluss sowie einen Nachsendeantrag ab. Die gegen beide Bescheide erhobenen Widersprüche wurden durch zwei Widerspruchsbescheide zurückgewiesen.

Das SG hat die genannten Bescheide abgeändert und den Beklagten verpflichtet, „dem Kläger die nachgewiesenen Kosten für den Umzug des Telefon- und Internetanschlusses sowie für den Nachsendeantrag zu gewähren“. Der Kläger habe vom Beklagten eine Zusicherung zu dem Umzug erhalten, weshalb dessen Ermessen auf Null reduziert und er zur Erstattung der notwendigen und erforderlichen Umzugskosten verpflichtet sei. Dazu gehörten auch die Kosten für den Telefon- und Internetanschluss sowie für den Nachsendeantrag.

In seiner vom LSG zugelassenen Revision führt der Beklagte aus, der Begriff der Umzugskosten sei restriktiv auszulegen. Sog „Zusammenhangskosten“, die nur anlässlich eines Umzugs oder im zeitlichen Zusammenhang mit diesem und damit lediglich mittelbar beim Leistungsberechtigten entstünden, seien nicht von § 22 Abs. 6 SGB II umfasst, sondern aus dem Regelbedarf zu bestreiten.

Entscheidung des BSG

In der Sache kann der Kläger dem Grunde nach Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Bereitstellung seines Telefon- und Internetanschlusses sowie für seinen Nachsendeantrag als Umzugskosten nach § 22 Abs. 6 SGB II gegen den Beklagten haben.

Umzugskosten sind, wie die von den allgemeinen Unterkunftskosten in § 22 Abs 1 SGB II abweichende Sonderregelung in § 22 Abs. 6 SGB II zeigt, die Kosten, die einmalig durch die besondere Bedarfslage „Umzug“ verursacht werden. Dabei ist zwischen einem Umzug, der vom Jobcenter veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist, und anderen Umzügen zu unterscheiden, wie das dem Jobcenter eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Erteilung einer Zusicherung für die Kostenübernahme zeigt.

Bei einem vom Jobcenter – wie vorliegend – aufgrund der Trennungssituation zu Recht als notwendig anerkannten Umzug mit einer entsprechenden Zusicherung hinsichtlich der Umzugskosten gehören zu den als Bedarf zu berücksichtigenden Umzugskosten heutzutage auch die Kosten für einen Telefon- und Internetanschluss sowie die für einen Nachsendeantrag. Denn beides ist notwendig, um nach einem Umzug die Kommunikation mit anderen Menschen, Behörden usw aufrecht zu erhalten, die, wie die Aufnahme der Abteilung 8 (Nachrichtenübermittlung) in die Ermittlung der Regelbedarfe zeigt, ein vom Gesetzgeber anerkanntes Grundbedürfnis darstellt (vgl. §§ 5 f RBEG). Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG, das die Höhe der dem Kläger hinsichtlich der zwei Streitpunkte entstandenen Kosten genau ermittelt hat, Feststellungen zu deren Angemessenheit nachzuholen haben.

Verfahrensgang

SG Hannover – S 46 AS 1146/12 –
LSG Niedersachsen-Bremen – L 6 AS 1349/13 –
Bundessozialgericht – B 14 AS 58/15 R –


Versicherungspauschale von 30 € für jeden Monat abzusetzen

(c) GesaD / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Sind Kindergeldzahlungen das einzige Einkommen von Eltern im ALG II-Bezug, ist von dem Kindergeld die sog. Versicherungspauschale von 30 € abzusetzen. Von derzeit 190 € für ein Kind sind also nur 160 € auf den ALG II-Anspruch anzurechnen. Häufig kommt es vor, dass die Kindergeldkasse das Kindergeld für mehrere Monate in einem Monat nachzahlt, also etwa für drei Monate 570 €. In diesem Fall ist die Versicherungspauschale von 30 € nicht etwa nur einmal von dem Gesamtbetrag von 570 € abzuziehen, sondern für jeden der drei Monate, also in Höhe von insgesamt 90 €.

Zur Begründung wird in der Rechtsprechung darauf verwiesen, dass mit der Versicherungspauschale zu berücksichtigende Aufwendungen für die Einkommenserzielung abgegolten werden, die in jedem Monat der Einkommenserzielung entstehen. Der Verordnungsgeber habe dabei die Absetzung der Versicherungspauschale auch von Sozialleistungen wie etwa dem Kindergeld in § 4 der ALG II Verordnung ausdrücklich geregelt. Dann sei es nur folgerichtig, die Absetzung für die Anzahl derjenigen Monate vorzunehmen, für die das Kindergeld gezahlt wurde. Die erst nachträgliche, zusammengefasste  Auszahlung von Kindergeld könne dem Leistungsempfänger ebenso wenig zum Nachteil gereichen wie verspätet und deshalb für mehrere Monate ausgezahltes Arbeitsentgelt.

(BSG, Urteil vom 17.07.2014 B 14 AS 25/13 R für nachgezahltes Arbeitsentgelt; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.09.2015, L 31 AS 1571/15 für nachgezahltes Kindergeld)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte: Hartz IV-Reform völlig unzureichend

ltsh_logoDie Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samiah El Samadoni, zeigt sich enttäuscht von der jetzt beschlossenen SGB II-Änderung. „Die Gesetzesänderung enthält zwar einzelne positive Punkte. Unbefriedigend ist aber, dass trotz vieler konstruktiver Vorschläge so wenig umgesetzt wurde. Damit ist auch das Hauptanliegen dieser Reform, das Recht zu vereinfachen, nicht erfüllt worden“, sagte die Bürgerbeauftragte heute (Donnerstag) in Kiel.

Der Bundesrat hat am 8. Juli 2016 dem 9. Änderungsgesetz SGB II zugestimmt. Mit dem Gesetzentwurf sollten zahlreiche Regelungen des SGB II vereinfacht und neu strukturiert werden. „Leider bringt auch die jetzt beschlossene Gesetzesänderung des SGB II nicht die von Vielen geforderten Verbesserungen und Vereinfachungen, weder für die Bürger noch für die Verwaltung“, kritisierte El Samadoni. „Stattdessen wird das Gesetz zum Nachteil der Leistungsempfänger verschärft und zudem noch bürokratischer durch zusätzliche komplizierte Regelungen.“

Der Bewilligungszeitraum wird zwar auf 12 Monate verlängert und die Gesamtangemessenheitsgrenze bei den Kosten für Unterkunft und Heizung eingeführt, wie die Bürgerbeauftragte forderte. Das schafft mehr Flexibilität bei der Wahl der Wohnung und insbesondere können höhere Bruttokaltmieten zum Beispiel bei energetisch saniertem Wohnraum durch geringere Heizkosten ausgeglichen werden. Aber grundlegende Probleme und Themen wie die Sanktionen für unter 25-Jährige und die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen ab dem 63. Lebensjahr in Anspruch zu nehmen, bleiben trotz verfassungsmäßiger Bedenken bestehen. El Samadoni fordert weiterhin, dass diese Regelungen abgeschafft werden.

Auch die Probleme im Zusammenhang mit der sogenannten temporären Bedarfsgemeinschaft wurden nicht gelöst. Diese entsteht, wenn getrennt lebende Eltern abwechselnd das Umgangsrecht mit ihren Kindern ausüben. Die temporäre Bedarfsgemeinschaft ist bisher nicht im Gesetz geregelt, sondern ein Konstrukt der Rechtsprechung. Sie besteht für die Zeit des Aufenthalts beim anderen Elternteil. Bezieht der überwiegend betreuende Elternteil Leistungen nach dem SGB II, sieht die Rechtsprechung des BSG vor, dass der Sozialgeldanspruch bei dieser Bedarfsgemeinschaft gekürzt wird.

Die dadurch entstehenden Probleme und Komplikationen durch Rückforderungen oder gar Verhinderungen des Umgangsrechtes aus finanziellen Gründen könnten nach Ansicht der Bürgerbeauftragten durch einen Umgangsmehrbedarf gelöst werden. Dieser könnte dann gewährt werden, wenn sich das Kind beim getrennt lebenden Elternteil aufhält, ohne dass die Leistungen des anderen Elternteils gekürzt werden.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 153 / 21. Juli 2016


Jobcenter muss doppelte Krankenversicherungsbeiträge übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Für freiwillig in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung Versicherte (sog. Selbstzahler) gilt gemäß § 10 Abs. 1 der Beitragsverfahrensgrundsätze, dass die Beiträge für den jeweiligen Beitragsmonat erst zum 15. des Folgemonats fällig werden. Beantragen Selbstzahler ALG II, werden sie ab dem Monat des Leistungsbezuges über das Jobcenter pflichtversichert (§ 252 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Die Versicherungsbeiträge bei Pflichtversicherten werden am drittletzten Bankarbeitstag des Beitragsmonats fällig (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Bei freiwillig Versicherten hat dies zur Folge, dass sie im ersten Monat des Bezuges von ALG II zweimal Versicherungsbeiträge zahlen müssen.

Das Jobcenter Kiel lehnte bei einer ALG II-Empfängerin die Übernahme der Versicherungsbeiträge für den Monat vor dem Leistungsbezug mit der Begründung ab, Doppelzahlungen der Kranken- und Pflegeversicherung seinen gesetzlich nicht vorgesehen. Im anschließenden Klageverfahren gab das Jobcenter später ein Klageanerkenntnis ab. Denn das BSG hatte zwischenzeitlich entschieden, dass auch die Beiträge aus dem Monat vor dem ALG II-Bezug übernommen werden müssen, wenn diese erst im Zeitraum des ALG II Bezuges fällig werden. Dies nämlich sei zur Abwendung einer sonst eintretenden Deckungslücke geboten. Es könne dem Hartz-IV-Empfänger weder abverlangt werden, einen Betrag in dieser Höhe aus seinen Regelleistungen zu bestreiten, noch sich wegen eines zur Existenzsicherung notwendigen Krankenversicherungsschutzes zu verschulden.

(BSG, Urteil vom 15.11.2012, B 8 SO 3/11 R; SG Kiel, Anerkenntnis im Verfahren S 40 AS 50/13 vom 25.01.2016)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 6/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Satzung über Wohnkosten für „Hartz IV“- und Sozialhilfe Empfänger in Neumünster unwirksam

Wappen NeumünsterDer 11. Senat des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts hat sich in seiner heutigen Sitzung vom 30. Mai 2016 erstmals mit einer Normenkontrolle gegen eine Satzung zur Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft im SGB II und SGB XII Bereich für Bezieher von Grundsicherungsleistungen und Sozialhilfe befasst (Az.: L 11 AS 39/14 NK). Er hat dem Normenkontrollantrag einer 39-jährigen Antragstellerin stattgegeben und die Satzung der Stadt Neumünster unter anderem in der aktuellen Fassung vom 17. September 2015 für unwirksam erklärt. Wesentlicher Grund für die Entscheidung war, dass die angemessene Wohnfläche in Neumünster um jeweils 5 m² geringer bemessen worden ist als in den Förderrichtlinien zum sozialen Wohnungsbau für das Land Schleswig-Holstein insgesamt. Der Senat hat den Nachweis dafür, dass die in der Satzung bestimmten Flächengrenzen dem spezifischen örtlichen Wohnungsmarkt entsprechen, nicht als erbracht angesehen. Es könne insbesondere nicht statistisch belegt werden, dass bezogen auf die gleiche Zahl der Haushaltsangehörigen in Neumünster signifikant kleiner gewohnt werde als im Landesdurchschnitt. Der Fehler schlägt auf die in der Satzung für die unterschiedlichen Haushaltsgrößen festgelegten Mietobergrenzen durch und führt zur Unwirksamkeit der Satzung insgesamt.

Das bedeutet aber nicht, dass wegen der Mietobergrenze bis zur Inkraftsetzung einer neuen Satzung zwingend auf die hohen Auffangwerte der Wohngeldtabelle zuzüglich von 10% zurückgegriffen werden müsste oder die Wohnkosten unbegrenzt von den Leistungsträgern zu übernehmen wären. Der Senat hat keine Bedenken gegen die Ermittlung des angemessenen Quadratmeterpreises durch die Stadt Neumünster. Deshalb kann ‑ ggf. mit Modifikationen ‑ auf das Produkt des im Konzept der Stadt bestimmten angemessenen Quadratmeterpreis mit den Flächengrenzen im sozialen Wohnungsbau zurückgegriffen werden, wie dies der Senat bereits in einem früheren Eilverfahren entschieden hat (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14. Juli 2015 ‑ L 6 AS 41/15 B ER). Für einen Zwei-Personen-Haushalt führte das in diesem Fall zu einem Anspruch von 364,80 Euro, statt der vom Jobcenter zuvor gezahlten 335,00 Euro.

Auswirkungen hat die Entscheidung des Senats auf die laufenden und zukünftigen Verfahren, in denen die Wohnkosten streitig sind. Bestandskräftig gewordene Entscheidungen aus der Vergangenheit sind davon in der Regel nicht betroffen.

Quelle: Presseerklärung vom 30.05.2016


Ausschluss für bestimmte Ausländer von der Grundsicherung – Gesetzesentwurf liegt vor

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat am 04.05.2016 den Entwurf für eine Reform der Regelungen im Recht der wirtschaftlichen Grundsicherung, die Ausländerinnen und Ausländer betreffen, veröffentlicht. Das Ministerium reagiert damit auf die Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 03.12.2015: Das BSG hatte entschieden, dass der Leistungsausschluss für Personen, die lediglich über ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche verfügen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II) zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden sei. Allerdings seien dann, wenn der Aufenthalt sich verfestigt habe, stets Leistungen der Sozialhilfe zu erbringen. Das ergebe sich aus § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Eine Verfestigung des Aufenthaltes trete regelmäßig nach 6 Monaten ein (BSG, 03.12.2015, B 4 AS 59/13 R; B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 43/15 R). Die Entscheidungen sind sehr umstritten. Die Instanzgerichte sind dem BSG in großer Zahl nicht gefolgt. In vielen Eilverfahren haben sie Leistungen versagt, weil sie einerseits den Leistungsausschluss mit dem BSG für verfassungskonform halten, andererseits die Auffassung, das Ermessen aus § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII sei in diesen Fällen regelmäßig auf Null reduziert, nicht teilen.

Der Entwurf des BMAS für eine Neufassung von § 7 Abs. 1 SGB II und § 23 SGB XII sieht vor, dass Hilfebedürftige ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die bislang vom Leistungsausschluss betroffen sind, für maximal vier Wochen Übergangsleistungen nach dem SGB XII erhalten. Außerdem sollen sie eine einmalige Hilfe für eine Fahrkarte in ihr Heimatland bekommen. Wenn sie fünf Jahre im Wesentlichen ununterbrochen in Deutschland gelebt haben und auch hier gemeldet waren, sollen sie Leistungen nach dem SGB II bekommen.

Außerdem sieht der Entwurf vor, dass Personen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, gar keine Leistungen bekommen können. Bislang ist das im Gesetz nicht vorgesehen. Das BSG hat allerdings in den Entscheidungen vom 03.12.2015 die Auffassung vertreten, dass Personen ohne Aufenthaltsrecht erst recht keine Leistungen bekommen dürfen, wenn bereits Personen, die sich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten dürfen, von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Das Asylbewerberleistungsgesetz bleibt davon unberührt: Wer einen Anspruch nach diesem Gesetz hat, soll auch weiterhin Leistungen nach dem AsylbLG bekommen.

Mit den Entscheidungen vom 03.12.2015 hatte das BSG den Versuch unternommen, die Vorschriften des Grundsicherungsrechtes so auszulegen, dass sie mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus den Entscheidungen vom 09.02.2010, 1 BvL 1/09 (Hartz- IV-Urteil) und vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10 (AsylbLG-Entscheidung) noch vereinbar sind. Dieser Versuch wird – unabhängig von der Frage, ob er überzeugend ausgefallen ist, vgl. dazu BVerfG, 16.12.2014, 1 BvR 2142/11 – mit der nun geplanten Novelle obsolet. Das wird voraussichtlich dazu führen, dass die Frage, ob der Menschenwürdegrundsatz aus Art. 1 Abs. 1 GG es erlaubt, Personen mit dem Argument, sie könnten in ihr Heimatland zurückkehren, von Grundsicherungsleistungen auszuschließen, durch das BVerfG wird entschieden werden müssen.

Textwiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Roland Rosenow, Referent für Sozialrecht (Kontakt), Link: Ausschluss für bestimmte Ausländer von der Grundsicherung – Gesetzesentwurf liegt vor

Nachtrag: Die Änderungen sind zum 29.12.2016 in Kraft getreten.


Widerspruch gegen Mahngebühren der Bundesagentur für Arbeit: 150,00 € Anwaltskosten sind erstattungsfähig

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Legt der Rechtsanwalt für seinen Mandanten erfolgreich Widerspruch gegen einen Mahnung der Bundesagentur für Arbeit im Hinblick auf die festgesetzten Mahngebühren ein, ist die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet, dem Widerspruchsführer seine Anwaltskosten zu erstatten (BSG, Urteil vom 02.11.2012, B 4 AS 97/11 R).

In einer aktuellen Entscheidung hat sich das BSG nun auch zur Höhe der erstattungsfähigen Kosten geäußert und die halbe Schwellengebühr (seit 01.08.2013 150,00 € zuzüglich Auslagen und Umsatzsteuer) für erstattungsfähig erachtet. Zur Begründung hat das BSG ausgeführt:

„Die Revision der Klägerin ist begründet, die Anschlussrevision der beklagten BA unbegründet. Zutreffend hat das SG entschieden, dass dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin für das Widerspruchsverfahren innerhalb des Betragsrahmens von 40 bis 520 Euro eine Geschäftsgebühr nach Nr 2400 VV RVG [Anm: Ab 01.08.2013 2302 VV RVG] zwar nicht in Höhe von 240 Euro [Anm.: Ab 01.08.2013 300 Euro], aber von 120 Euro zusteht. Zwar ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, dass Gegenstand des Widerspruchsverfahrens nur der Mahngebührenbescheid über 7,85 Euro war, weil nur ihm und nicht auch der Mahnung bzw. der Zahlungsaufforderung Verwaltungsaktqualität zukam. Bei der Gebührenbemessung hat das SG unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin im Ergebnis gleichwohl zu Recht berücksichtigt, dass die Beklagte auf den Widerspruch nicht nur den Gebührenbescheid aufgehoben, sondern auch die angedrohte Vollstreckung selbst eingestellt hat. Infolgedessen ist die Klägerin im Verhältnis zu ihrem Anwalt gemäß § 15 Abs 2 RVG einem einheitlichem Vergütungsanspruch ausgesetzt, in dessen Bemessung in diesem Verhältnis auch das Interesse der Klägerin an der Abwendung der Zwangsvollstreckung über den Mahnbetrag von 1512,78 Euro eingeht. Das gebietet es, im kostenerstattungsrechtlichen Verhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten auch diese Wirkungen des erfolgreichen Widerspruchs gegen den Mahngebührenbescheid als von seinen Folgen umfasst („Soweit der Widerspruch erfolgreich ist“ <§ 63 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 SGB X>) zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen hat das SG nach den Kriterien des § 14 Abs 1 RVG zu Recht eine Geschäftsgebühr nach Nr 2400 des VV zum RVG aF in Höhe von 120 Euro für angemessen erachtet und der Klägerin deshalb einen weiteren Erstattungsanspruch über 109,48 Euro zuerkannt.“

BSG, Urteil vom 09.03.2016, B 14 AS 5/15 R (Terminbericht)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schadensersatz bei zu später Zahlung von ALG II

(c) GesaD / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Bezieher von Arbeitslosengeld II (ALG II) haben einen Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens, der ihnen durch die zu späte Zahlung des Arbeitslosengeldes II entsteht.

In dem dem Verfahren zugrunde liegenden Fall hatte der Kläger am 28.01.2010 seinen Antrag auf Fortzahlungen von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab 01.03.2010 frühzeitig abgegeben. Das Jobcenter Kiel schaffte es dennoch nicht, dem Kläger rechtzeitig Leistungen zu bewilligen, so dass diese zum 01.03.2010 nicht ausgezahlt wurden. Zahlreiche Abbuchungsaufträge konnten deshalb zum Monatsanfang nicht ausgeführt werden. Hierdurch entstanden dem Kläger Rücklastschriften in Höhe von 29,65 Euro. Die Entstehung dieses Schadens konnte der Kläger nicht verhindern, weil er erst durch ein Schreiben seiner Bank am 04.03.2010 Kenntnis davon erhielt, dass das Arbeitslosengeld nicht auf sein Konto überwiesen worden war. Zu diesem Zeitpunkt waren aber bereits alle Lastschriften rückläufig.

Der Antrag des Klägers beim Jobcenter Kiel auf Übernahme der Rücklastkosten wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass dafür keine Anspruchsgrundlage existiere. Tatsächlich bestand ein Amtshaftungsanspruch nach Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB, der vor dem Landgericht Kiel geltend zu machen war und auf den Schaden gerichtet ist, den ein Behördenmitarbeiter durch vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtverletzung einem anderen zufügt. Die Klage war dabei gegen den Dienstherren des betroffenen Jobcentermitarbeiters zu richten, der hier nicht die Agentur für Arbeit, sondern die Landeshauptstadt Kiel war (Verfügung des LG Kiel vom 02.09.2010).

(Landgericht Kiel, Anerkenntnisurteil vom 13.12.2010, 17 O 160/10)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2011

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Möglichkeit zur drei Jahre zurückwirkenden Befreiung vom Rundfunkbeitrag wird Gesetz

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Nach § 4 Abs. 4 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages (RBStV) beginnt die Befreiung oder Ermäßigung vom Rundfunkbeitrag mit dem Ersten des Monats, zu dem der Gültigkeitszeitraum des Bescheids beginnt, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach dem Erstellungsdatum des Bescheids gestellt wird. Wird der Antrag erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt, so beginnt die Befreiung oder Ermäßigung mit dem Ersten des Monats, der der Antragstellung folgt. Diese Regelung führte dazu, dass in ganz erheblichem Umfange bedürftige Bürger zum Rundfunkbeitrag herangezogenen wurden, bei denen eigentlich die Befreiungsvoraussetzungen vorgelegen haben, die sich aber in Unkenntnis der Rechtslage oder weil Befreiungsanträge bei den Rundfunkanstalten bzw. dem sog. Beitragsservice (bis 2012 GEZ) angeblich nicht angekommen waren, nicht fristgerecht gestellt wurden.

Inwieweit die Betroffenen einen Antrag auf rückwirkende Befreiung vom Rundfunkbeitrag stellen können bzw. einem Härtefallantrag stattzugeben ist, war und ist umstritten (mehr dazu hier: Zur rückwirkenden Befreiung vom Rundfunkbeitrag).

Mit dem 19. Rundfunkänderungsstaatsvertrag sollen die Fristen für eine rückwirkende Befreiung nun auf drei Jahre ab Stellung des Befreiungsantrages ausgedehnt werden. In der Vertragsbegründung heißt es hierzu auf Seiten 18:

Der neue Satz 2 modifiziert den bisherigen Satz 1. Dieser sah vor, dass die Befreiung oder Ermäßigung nur dann mit dem Ersten des Monats, in dem der Gültigkeitszeitraum beginnt, eintritt, wenn der entsprechende Antrag innerhalb von zwei Monaten nach dem Erstellungsdatum des Bescheids nach Absatz 7 Satz 2 gestellt wird. Befreiungen und Ermäßigungen können künftig für einen Zeitraum von drei Jahren ab Antragstellung für die Vergangenheit gewährt werden, wenn entsprechende Nachweise für das Vorliegen der Befreiungs- bzw. Ermäßigungstatbestände für diesen Zeitraum vorgelegt werden. Mit der Regelung wird das Verfahren deutlich bürgerfreundlicher ausgestaltet; zugleich werden eine höhere soziale Gerechtigkeit und der Abbau von Bürokratie beim Beitragsservice erreicht.

Diese beabsichtigte Neuregelung ist ausdrücklich zu begrüßen. Sie wird in Zukunft in vielen Fällen verhindern, dass Befreiungsberechtigte entgegen jedem Gerechtigkeitsempfinden zur Beitragszahlung herangezogen und mit Vollstreckungsmaßnahmen bis hin zur Beugehaft überzogen werden. Noch besser wäre es freilich gewesen, eine rückwirkende Beitragsbefreiung bei Nachweis der Befreiungsvoraussetzungen ganz ohne Ausschlussfristen zu ermöglichen.

Das Inkrafttreten der Änderungen beim Rundfunkbeitrag wurde auf dem 01.01.2017 festgelegt. Damit der 19. Rundfunkänderungsstaatsvertrag mit all seinen Änderungen gültig werden kann, müssen aber noch bis Ende September 2016 alle 16 Land­tage das Vertragswerk verabschiedet haben.

Betroffenen ist zu raten, sich gegenüber den Landesrundfunkanstalten bzw. dem Beitragsservice schon jetzt auf die noch nicht in Kraft getretene Neuregelung zu berufen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Gedeckelte Leistungen für KdU an Mietentwicklung anpassen

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Zieht ein Hartz-IV-Bezieher innerhalb seiner Gemeinde in eine teurere Wohnung, ohne dass hierfür eine Notwendigkeit bestanden hat, erkannten die Jobcenter bisher nur die Unterkunftskosten der günstigeren Wohnung an. Bereits mit Urteil vom 9. April 2014 hatte das Bundessozialgericht (BSG) im Verfahren B 14 AS 23/13 R entschieden, dass die Voraussetzungen für die fortgesetzte Begrenzung der vom Grundsicherungsträger zu zahlenden Kosten für Unterkunft und Heizung auf die geringeren Kosten der vorherigen Wohnung entfallen, wenn der Hartz-IV-Bezieher aufgrund von bedarfsdeckendem Einkommen für mindestens einen Monat aus dem Leistungsbezug ausgeschieden war.

In einem aktuellen Urteil hat das BSG sich nun auch der Rechtsauffassung angeschlossen, nach der die Leistungen für die neue Wohnung nicht statisch auf die Aufwendungen der zuvor bewohnten Wohnung begrenzt sind. Es habe vielmehr eine Dynamisierung unter Berücksichtigung der Veränderungen der Angemessenheitsgrenze ab den Zeitpunkt des Umzuges zu erfolgen. Kurz gesagt: Die gedeckelten Leistungen für die neue Unterkunft sind an die allgemeine Mietentwicklung anzupassen.

(BSG, Urteil vom 17.02.2016, B 4 AS 13/15 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 3/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Bruttokalt-Mietobergrenzen im Kreis Rendsburg-Eckernförde seit 01.03.2016

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Seit dem 01.03.2016 gelten im Kreis Rendsburg-Eckernförde neue Mietobergrenzen, die aufgrund der – freilich verfehlten – Entwicklung in der Rechtsprechung hin zu Gesamtangemessenheitsgrenzen erstmals Bruttokaltbeträge (Grundmiete inklusive kalter Betriebskosten) ausweisen. Die Mietobergrenzentabelle findet sich hier. Urteile oder Beschlüsse zu der Frage, ob diese Mietobergrenzen auf einem sog. schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen, sind hier nicht bekannt und dürften wohl auch noch nicht vorliegen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Immer mehr Menschen in SH klagen gegen Rundfunkbeitrag

Marlies Schwarzin / pixelio.de

Marlies Schwarzin / pixelio.de

Wie die Schleswig-Holstein Zeitung berichtet, türmen sich am Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht die Akten von Klagen und Anträgen gegen den Rundfunkbeitrag und damit gegen den Norddeutschen Rundfunk (NDR). Ein Drittel aller Verfahren der zuständigen Kammer in Schleswig befasst sich danach mit Klagen von Schleswig-Holsteinern, die den geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag nicht mehr zahlen können oder wollen. „Derzeit sind 107 Verfahren anhängig“, sagt nach Angaben von shz.de der Pressesprecher des Gerichts. Allein in diesem Jahr seien bereits 26 Klagen und Anträge in Schleswig eingegangen (2015: 86). Mehr lesen: http://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/nach-gez-gebuehr-immer-mehr-menschen-in-sh-klagen-gegen-rundfunkbeitrag-id12953076.html


Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar!

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar.

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein.

Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. Dies gilt zumal für die Aufrechnung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Denn diese knüpft an eine vorwerfbare Veranlassung des Erstattungsanspruchs durch den Leistungsberechtigten und damit an seine Eigenverantwortung als Person an, die Teil der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist. Zudem enthalten die gesetzlichen Regelungen mit der Einräumung von Ermessen hinsichtlich des Ob und der Dauer einer Aufrechnung, der Möglichkeit einer Aufhebung des Dauerverwaltungsakts der Aufrechnung bei Änderung der Verhältnisse sowie mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.

BSG, Urteil vom 09.03.2016, B 14 AS 20/15 R

Die vollständige Medieninformation 7/16 findet sich hier.


Amtsgericht Kiel: Erneut rechtswidriger Verweis an das Büro der Bürgerbeauftragen

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Wie in diesem Blog berichtet, häuften sich bereits im Jahre 2009 bei dem Büro der Bürgerbeauftragten und in der Anwaltschaft die Hinweise, dass RechtspflegerInnen am Amtsgericht Kiel Rechtsuchenden die Gewährung von Beratungshilfe unter Hinweis auf die angeblich vorrangige Inanspruchnahme der Bürgerbeauftragten für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein verweigern. Das Büro der Bürgerbeauftragen war seinerzeit an das Amtsgericht Kiel mit seinem Schreiben vom 04.09.2009 herangetreten. Auf dieses Schreiben hat das Büro der Bürgerbeauftragten – wie es mir gegenüber einmal mit Recht kritisch angemerkt hat – nie eine Antwort erhalten.

Offenbar versucht das Amtsgericht Kiel 7 Jahre später erneut, Rechtsuchenden ihr verfassungsrechtlich geschütztes Grundrecht auf Rechtswahrnehmungsgleicheit vorzuenthalten, indem es Rechtsuchende neuerlich an das Büro der Bürgerbeauftragen verweist – und dies selbst dann, wenn die Rechtsuchenden bereits einen Rechtsanwalt aufgesucht hatten. Zu dieser rechtswidrigen Gerichtspraxis hat das Büro der Bürgerbeauftragten mit Schreiben vom 25.02.2016 nun erneut in der gebotenen Deutlichkeit Stellung genommen:

„Ich danke Ihnen zunächst für den Hinweis, dass das Amtsgericht Kiel die Gewährung von Beratungshilfe von einer vorrangigen Inanspruchnahme der Bürgerbeauftragten abhängig macht. Zuletzt wurde diese Problematik im Jahr 2009 an uns herangetragen.

Grundsätzlich begrüße ich es, wenn die Einrichtung der Bürgerbeauftragten von anderen Institutionen empfohlen wird, um kompetente Hilfe, Beratung und Unterstützung zu erhalten. Ich möchte jedoch darauf aufmerksam machen, dass die Bürgerinnen und Bürger eine Petition beim Schleswig-Holsteinischen Landtag führen (vgl. §§ 2 und 3 BÜG), wenn sie sich an die Bürgerbeauftragte wenden. Das in der Verfassung verankerte Petitionsrecht beruht ausnahmslos auf Freiwilligkeit. M. E. kann daher das Führen einer Petition keine Voraussetzung für die Gewährung von Beratungshilfe sein.

Ich möchte hier auch auf das Wahlrecht der Petenten hinweisen. Übersenden Petenten ihre Petition in einer sozialen Angelegenheit an den Petitionsausschuss des Landtages, leitet dieser die Petitionen nur mit dem Einverständnis der Petenten an die Bürgerbeauftragte weiter. Die Petenten haben somit das Recht, eine Bearbeitung ihrer Petition durch den Petitionsausschuss zu verlangen. Es wäre ein seltsames Ergebnis, wenn die Petenten nun bei einer geplanten Inanspruchnahme von Beratungshilfe gezwungen wären, zunächst eine Petition bei der Bürgerbeauftragten zu führen.

Abschließend möchte ich anmerken, dass Petenten die bereits einen Anwalt aufgesucht haben, nur dann von der Bürgerbeauftragten unterstützt werden dürfen, wenn der Anwalt zustimmt (vgl. § 3 Abs. 3 BüG). Wird also ein Petent vom Amtsgericht zur Bürgerbeauftragten geschickt und berichtet, dass er bereits einen Anwalt aufgesucht hat, werden wir in der Sache unmittelbar nicht tätig, sondern nehmen Kontakt zum Anwalt auf. Dieser kann dann eine Hilfe durch die Bürgerbeauftragte ablehnen und der Verweis des Amtsgerichtes auf die angeblich vorrangige Hilfe der Bürgerbeauftragten gebt ins Leere. Dieser wenig hilfreiche ‚Kreisverkehr‘ sollte unbedingt vermieden werden.

Ich hoffe, dass Sie beim Gericht erreichen können, dass derartige Verweise in Zukunft unterbleiben.“

Es bleibt zu hoffen, dass auch die betreffenden RechtspflegerInnen am Amtsgericht Kiel zu einer rechtmäßigen Bewilligungspraxis zurückfinden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


PSD Bank Kiel: Keine Bank für Jedermann!

(c) Rainer Sturm / pixelio.de

(c) Rainer Sturm / pixelio.de

Während die Bundesregierung gerade in Umsetzung der EU-Zahlungskonten-Richtlinie jedem Bürger das Recht auf ein Girokonto einräumen will, sieht die Realität für viele Arbeitslose (trotz der freiwilligen Selbstverpflichtung der Banken und Sparkassen in Deutschland aus dem Jahre 1995) noch ganz anders aus. Besonders dreist lehnte jüngst die PSD Bank Kiel eG einem Arbeitslosen ohne Girokonto die Kontoeröffnung ab:

„Als Genossenschaftsbank hat die PSD Bank Kiel eG wesentlich strengere Richtlinien zu erfüllen als beispielsweise ein öffentlich-rechtliches Kreditinstitut. Deshalb werden Unterlagen zur Kontoeröffnung, die bei uns eingehen, besonders sorgfältig geprüft. Nur wenn im Ergebnis dieser Prüfung alle Voraussetzungen erfüllt sind, dürfen wir einer Kontoeröffnung zustimmen. Bei Ihrem Antrag war dies leider nicht der Fall. Wir bedauern, Ihnen keine positivere Nachricht geben zu können.“

Kunden der PSD-Bank sollten sich überlegen, ob sie wirklich mit einer Bank zusammenarbeiten wollen, die einkommensschwache Kunden derart brüsk abweist und für die offenbar eine freiwillige Selbstverpflichtung das Papier nicht wert ist, auf dem diese gedruckt steht. Dass sich die PSD-Bank dabei auch noch auf ihre Organisationsform als Genossenschaft beruft, die – jedenfalls in der Vergangenheit – dafür stand, auch soziale Aspekte besonders in den Blick zu nehmen, befremdet.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Merkzeichen „G“ im Eilverfahren

(c) Thommy Weiss / pixelio.de

(c) Thommy Weiss / pixelio.de

Wer aufgrund einer Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit derart eingeschränkt ist, dass er im Straßenverkehr eine Wegstrecke von zwei Kilometern nicht innerhalb einer halben Stunde zurücklegen kann, hat einen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ in seinem Schwerbehindertenausweis. Mit der Zuerkennung des Merkzeichens „G“ können Gehbehinderte gegen eine Eigenbeteiligung von 72 € im Jahr eine Wertmarke für die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr erhalten. Wer von Sozialleistungen (Sozialgeld bei voller Erwerbsminderung, Grundsicherung im Alter usw.) lebt, muss keine Eigenbeteiligung entrichten und erhält zudem einen Mehrbedarf in Höhe von 17 % des maßgeblichen Regelsatzes (im Jahr 2015 67,83 € für eine alleinstehende Person).

Im Anschluss an eine Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg hat das Sozialgericht Kiel entschieden, dass Grundsicherungsbezieher im Fall der Ablehnung ihres Antrages auf Zuerkennung des Merkzeichens „G“ ihren Anspruch auf dessen vorläufige Feststellung auch im sozialgerichtlichen Eilverfahren verfolgen können. Zwar sei es Betroffenen grundsätzlich zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens (Widerspruch, Klage) abzuwarten. Beziehe der Gehbehinderte allerdings Grundsicherungsleistungen und mache er einen Mehrbedarf (hier nach § 30 Abs. 1 SGB XII) in Höhe von 67,83 € geltend, den er nur nach Zuerkennung des Merkzeichens „G“ erhalten könne, so sei die Zuerkennung notwendige Voraussetzung für die Sicherstellung seines verfassungsrechtlichen garantierten Existenzminimums. Damit läge die besondere Eilbedürftigkeit für ein Eilverfahren vor.

(SG Kiel, Beschluss vom 10.11.2015, S 20 SB 7/15 ER – rechtskräftig)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Bei mehreren Darlehen ist die Aufrechnungshöhe auf 10 % begrenzt

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Bei der Aufrechnung mehrerer gleichzeitig zu tilgender Darlehen darf die Aufrechnungshöhe 10 % nicht übersteigen. Die Begrenzung auf 10 % des jeweils maßgeblichen Regelbedarfes greift allerdings nicht, wenn neben einem Darlehen nach § 42a SGB II auch noch Erstattungsforderungen nach § 43 SGB II aufgerechnet werden. In diesen Fällen ergibt sich die Obergrenze der Aufrechnungsbeträge aus § 43 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 SGB II. Die Bundesagentur wird ihre Fachlichen Hinweise zu § 42a SGB II entsprechend ändern (Schreiben der BA vom 12.01.2016 an Harald Thomé vom Tacheles e.V.).


Auswertung der Umfrage zur Beratungsbewilligungspraxis in den einzelnen Landgerichtsbezirken

Die Rechtsanwaltskammer hat im Februar 2015 die Kammermitglieder gebeten, sich an einer Umfrage zur Bewilligungspraxis der Beratungshilfe in ihren einzelnen Landgerichtsbezirken zu beteiligen. Dieser Bitte sind dankenswerterweise insgesamt 72 Kolleginnen und Kollegen nachgekommen. Die größte Anzahl der Rückläufer (31) kam aus dem Landgerichtsbezirk Kiel, die geringste Anzahl aus dem Landgerichtsbezirk Itzehoe (6).

Der Arbeitskreis hatte die Kolleginnen und Kollegen gebeten, sich mit folgender Fragestellung zu befassen:

1.) Wie sieht die Praxis ihres Amtsgerichts mit der nachträglichen Bewilligung von Beratungshilfe aus?

2.) Erhalten Sie regelmäßig zum ersten Beratungstermin einen Berechtigungsschein für Beratungshilfe? Wenn nein, wie verfahren Sie?

3.) Stimmt die „Angelegenheit“, für die nach dem Berechtigungsschein Beratungshilfe erteilt wurde überein mit dem Anliegen Ihres Mandanten?

4.) Können Sie mit einem Berechtigungsschein mehrere Angelegenheiten abrechnen? Wenn ja, in welchen Fällen?

5.) Legen Sie bei der Abrechnung Nachweise für Ihre Tätigkeit bei?

6.) Schicken Sie zum Nachweis einer mündlichen Beratung Aktenvermerke mit?

Zusammengefasst ergab sich für die einzelnen Landgerichtsbezirke ein im Kern homogenes Ergebnis. Die Bewilligungspraxis ist nicht unproblematisch. Im Einzelnen:

Landgerichtsbezirk Kiel

Die an der Umfrage teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen haben u.a. lange Wartezeiten für die Antragstellerin und Antragsteller beklagt. Zum Teil komme es, wenn der Antrag persönlich gestellt werde, zu Wartezeiten von bis zu 1 Stunde.

Wenn ein schriftlicher Antrag gestellt werde, gäbe es zum Teil Bearbeitungszeiten von 4 Wochen bis 2 Monaten, andererseits aber kurze Fristsetzung für die Ergänzung von Unterlagen, wenn der Antrag nicht vollständig gewesen sei.

Teilweise würden die Berechtigungsscheine nur per Post verschickt, was wiederum zu Zeitverlusten führe. Zudem sei diese Handhabung auch deshalb problematisch, weil der Rechtsuchende nicht weiß, ob ihm überhaupt ein Berechtigungsschein erteilt werde.

Die Amtsgerichte Rendsburg und Neumünster sind dazu übergegangen, bei nachträglicher Bewilligung keine Berechtigungsscheine an den Anwalt zu schicken, sondern ein formloses Schreiben, dass Beratungshilfe dem Grunde nach beansprucht werden könne. Daraus ergibt sich, dass in der Folge dann die Notwendigkeit anwaltlicher Tätigkeit wieder in Frage gestellt werden kann, wenn die Arbeit getan und abgerechnet ist.

Auch erteilte Berechtigungsscheine würden nachträglich vom Rechtspfleger in Frage gestellt, was ebenfalls zu einer Verunsicherung der Antragstellerinnen bzw. der Antragsteller führe.

Die häufigsten Schwierigkeiten bei der nachträglichen Bewilligung der Beratungshilfe ergeben sich daraus, dass wiederholt Belege für die Bedürftigkeit nachgefordert werden würden, obwohl die zum Zeitpunkt der Antragstellung notwendigen Belege dem Antrag beigefügt gewesen seien. In einem Fall erhielt ein Mandant Hinweise, die den beauftragten Rechtsanwalt diskreditierten.

Landgerichtsbezirk Lübeck

Im Landgerichtsbezirk Lübeck wurde beklagt, dass die Öffnungszeiten des Amtsgerichts für die Bewilligung der Beratungshilfe arbeitnehmerunfreundlich seien. Die Antragstellerinnen und Antragsteller müssten sich hierfür extra einen Tag Urlaub nehmen, denn die Öffnungszeiten der Gerichte seien nur vormittags zwischen 9.00 Uhr und 12.00 Uhr.

1/3 der Teilnehmer der Umfrage berichtete darüber, dass sie bereits Erfahrungen damit gemacht hätten, dass die Antragstellerinnen oder die Antragsteller, die persönlich den Berechtigungsschein beantragten, weggeschickt worden seien.

Wenn die Antragstellerinnen oder die Antragsteller einen Berechtigungsschein erhalten, differenziere dieser häufig im Betreff nicht zwischen zwei unterschiedlichen Gegnern, so beispielsweise im Sozialrecht. Es komme dann zu Abrechnungsschwierigkeiten.

Die nachträgliche Bewilligung der Beratungshilfe gestalte sich schwierig, denn es gäbe ein hohes Nachweiserfordernis. Zum Teil würde Belege verlangt werden, die nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellten.

Auch die Abrechnung mache Probleme, zum Teil erfolgt die Auszahlung lange Zeit nach der Antragstellung. In einem Fall wurde von einer Auszahlung erst nach 9 Monaten berichtet.

Die Einigungsgebühr sei in der Abrechnung besonders problematisch. Kolleginnen und Kollegen müssten umfangreich thematisieren, ob eine Einigung zustande gekommen sei oder nicht. Es gäbe hohe Anforderungen an die Nachweiserbringung.

Die Abrechnungspraxis in Familiensachen sei von Rechtspfleger zu Rechtspfleger unterschiedlich. Zum Teil werde z.B. in Familiensachen ein Berechtigungsschein bewilligt mit dem Verweis, dass hierauf 3 Angelegenheiten abgerechnet werden könnten. Andererseits könnten 4 Angelegenheiten abgerechnet werden, entsprechend der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandgerichts.

Die Rotation der Rechtspfleger sei ungünstig.

Landgerichtsbezirk Itzehoe

Aufgrund der Distanzen zu den jeweiligen Amtsgerichten ergab sich, dass überwiegend nachträgliche Anträge gestellt werden, deren Bearbeitungsdauer sich hinziehe.

Die Bezeichnung der Angelegenheiten sei in der Regel zutreffend. Sollte das nicht der Fall sein, gäbe es aber auch keine größeren Probleme. Die Abrechnung mehrerer Angelegenheiten in Familiensachen sei unproblematisch über einen erteilten Berechtigungsschein möglich.

Bei der Abrechnung seien Tätigkeitsnachweise beizufügen, allerdings nicht für eine mündliche Beratung.

Die Bearbeitungszeit verzögere sich zum Teil dadurch, dass neben der Begründung der Angelegenheit für die Beratungshilfe beantragt werde, vom Mandanten selbst Nachweise gefordert werden.

Problematisch sei die Abrechnung einer Tätigkeitsgebühr, nicht nur einer Beratungsgebühr in sozialhilferechtlichen Angelegenheiten.

Landgerichtsbezirk Flensburg

Berechtigungsscheine liegen überwiegend vor der Beratung vor. In den ländlichen Bereichen sei es indes für die Antragstellerinnen und Antragsteller schwierig, sich zu den Öffnungszeiten der Amtsgerichte dort hinzubegeben, um einen Schein zu beantragen.

Die nachträgliche Bewilligung der Beratungshilfe habe sich mittlerweile verbessert.

Im Rahmen der Abrechnung sind Tätigkeitsnachweise erforderlich, für die Beratung überwiegend nicht. Die Abrechnung auf einen erteilten Berechtigungsschein sei nur mit hohem Begründungsaufwand möglich und führe ggf. zu einem Fristenproblem, da die gesetzliche Frist kurz bemessen ist.

Die Anliegen auf dem Berechtigungsschein stimmen häufig nicht überein mit den Inhalten des Mandats.

Die Praxis der Amtsgerichte in Familiensachen ist unterschiedlich. Zum Teil werden direkt 4 Berechtigungsscheine erteilt. Andere Gerichte erteilen lediglich einen Schein, auf dem dann 4 Anliegen abgerechnet werden können, wobei auch hier der Begründungsaufwand nicht im Verhältnis stehe.

Die Umfrage ist zwar nicht repräsentativ, sie spiegelt lediglich einen kleinen Ausschnitt dessen wieder, was die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der Bewilligungspraxis bei den unterschiedlichen Amtsgerichten erleben. Gleichwohl lassen sich hieraus die nachfolgenden Empfehlungen ableiten:

Sinnvoll erscheint Folgendes:

1.)

  • Vorlage eines Berechtigungsscheines durch den Mandanten vor Mandatsübernahme (die überwiegende Zahl der Kollegen, die sich an der Umfrage beteiligt haben, verfährt bereits so, dass das erste Gespräche konsequent erst geführt wird, wenn der Berechtigungsschein vorliegt!)
  • Die Antragstellerinnen und Antragsteller müssen bei Gericht auf Erteilung eines Berechtigungsscheins bestehen (und von den Anwaltsbüros erforderlichenfalls entsprechend unterrichtet werden!), sofern die Voraussetzungen für die Bewilligung der Beratungshilfe vorliegen. Die Antragstellerinnen oder Antragsteller haben einen Anspruch auf Erteilung des Scheines, es ist nicht hinzunehmen, wenn dem Antragsteller lediglich ein Beratungshilfeantrag ausgehändigt wird.
  • In ländlichen Räumen sollten die Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, dass die Antragstellerinnen und Antragsteller den Berechtigungsschein auch schriftlich beim Amtsgericht beantragen können.

2.)

Es wäre wünschenswert, wenn die Amtsgerichte arbeitnehmerfreundliche Sprechstunden einrichten könnten.

3.)

Wenn Angelegenheiten im Berechtigungsschein falsch oder ungenau bezeichnet sind, zum Beispiel weil bei einer sozialrechtliche Angelegenheit der Gegner nicht genannt ist, sollte Kontakt zum Amtsgericht aufgenommen werden und Konkretisierung verlangt werden. Selbiges gilt für die Bezeichnung der Sache in Familiensachen: Hier muss klargestellt werden, ob mehrere Angelegenheiten abgerechnet werden können. Zu Beginn der Mandatsanbahnung muss dies geklärt werden. Insbesondere ist dabei auf die 4-Wochenfrist hinzuweisen, damit sowohl für den Rechtsuchenden, als auch für den Rechtsanwalt Klarheit besteht. Allerdings ist wohl davon auszugehen, dass diese Diskussionen nicht von den Mandanten selbst geführt werden können.

4.)

Bei der nachträglichen Beantragung sollte bei den Gerichten darauf hingewirkt werden, dass eine Klärung erfolgt, welche Nachweise üblicherweise verlangt werden. Es wäre hilfreich, wenn die Amtsgerichte hier detaillierte Merkzettel für die Antragstellerinnen und Antragsteller entwerfen könnten, die auch den Rechtsanwälten zugänglich gemacht werden. Zudem wäre es hilfreich, wenn die Amtsgerichte Merkzettel auch für die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte entwerfen würden, aus denen sich ergibt, welche Tätigkeitsnachweise in welchen Fällen vorzulegen sind.

5.)

Die Antragsteller bzw. ihre Anwälte sollten bei der Erteilung des Scheins größeres Augenmerk auch auf die Vermögenssituation der Antragstellerinnen und Antragsteller legen und nicht lediglich auf die Einkommenssituation. Die Maßstäbe, die hier anzusetzen sind, sind die gleichen, wie bei der Prozess,- bzw. Verfahrenskostenhilfebewilligung (es gilt Sozialhilferecht nach dem SGB XII, nicht nach dem SGB II!).

6.)

Die Kammer empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen, einen „Runden Tisch“ mit den beteiligten Rechtspflegern eines Amtsgerichtsbezirks zu initiieren, um darauf hinwirken, dass eine Vereinheitlichung der Bewilligungs- und Abrechnungspraxis erfolgt, die allen Kolleginnen und Kollegen in den jeweiligen Amtsgerichtsbezirken bekannt gemacht wird. Auch bestünde Gelegenheit, grundsätzliche „Missverständnisse“ anzusprechen, wie etwa den stereotypen Satz, dass der Antragsteller sich in einem Widerspruchsverfahren gegenüber einer Behörde doch auch selbst vertreten könne. Die Akzeptanz bei den Rechtspflegern für einen solchen Austausch wird sicher wachsen, wenn wir darauf hinweisen, dass dann auch für die Rechtspfleger die Möglichkeit bestünde, Probleme von Seiten der Antragsteller anzusprechen, die diesen den Alltag verleiden…

In bereits stattgefundenen Gesprächen, die beim Amtsgericht Schleswig und beim Amtsgericht Meldorf geführt worden sind, konnten gute Ergebnisse erzielt werden.

Der „Arbeitskreis Beratungshilfe“ bei dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer bietet hierbei gerne Unterstützung an und würde sich auch über gelegentliche Rückmeldungen freuen.

Quelle: http://www.rak-sh.de/auswertung-der-umfrage-zur-beratungsbewilligungspraxis-in-den-einzelnen-landgerichtsbezirken/


Hartz IV: Ab 01.01.2016 entfällt die Familienversicherung

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Ab dem 01.01.2016 werden grundsätzlich alle Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzli­chen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung versicherungspflichtig, soweit sie nicht der privaten Kranken- und Pflegeversicherung zuzuordnen sind. Der bisherige Vorrang der Familienversicherung gilt dann nicht mehr.

Dies bedeutet, dass ab dem 01.01.2016 alle leistungsberechtigten Personen, die bisher in der gesetzlichen Kran­kenversicherung und sozialen Pflegeversicherung familienversichert waren, mit Vollendung des 15. Lebensjahres eigenständig in der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert sind. Die­sen Personen steht als Mitgliedern der Krankenkasse zum 01.01.2016 auch die Ausübung des Krankenkassen­wahlrechts nach §§ 173 ff. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V zu.

Alle Personen der Bedarfsgemeinschaft, die bisher familienversichert sind und zum 01.01.2016 das 15. Lebensjahr bereits vollendet haben, sind grundsätzlich verpflichtet, dem Jobcenter binnen zwei Wochen – beginnend ab dem 01.01.2016 – eine Mitgliedschaftsbescheinigung der Krankenkasse vorzulegen, bei der sie versichert sein möchten (§ 175 Absatz 3 Satz 1 und 2SGB V). Dies kann die bisherige Krankenkasse oder eine neu gewählte Krankenkas­se sein. Das Jobcenter wird dann die Anmeldung bei dieser Krankenkasse vornehmen. Sofern innerhalb der Frist von zwei Wochen keine Mitgliedsbescheinigung vorgelegt wird, meldet das Jobcenter bei der Krankenkasse an bei der zuletzt die Familienversicherung bestand. Durch die Wahl oder die Anmeldung durch das Jobcenter tritt eine Bindung an die Mitgliedschaft von in der Regel 18 Monaten bei der bisherigen oder neuen Krankenkasse ein.

Für weitere Auskünfte setzen Sie sich bitte mit Ihrer Krankenkasse in Verbindung.


Keine Sozialleistungen für Unionsbürger auf Arbeitsuche – Sozialgericht Berlin widerspricht dem Bundessozialgericht

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 11. Dezember 2015S 149 AS 7191/13: Ein EU-Bürger, der in Deutschland nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche hat, hat weder Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“) noch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII. Mit dieser Begründung wies die 149. Kammer des Sozialgerichts Berlin die Klage eines 1980 geborenen Bulgaren auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ab. Das Urteil ist die erste Entscheidung des Sozialgerichts Berlin, die klar Position bezieht gegen die jüngste BSG-Rechtsprechung zu Leistungsansprüchen von arbeitsuchenden EU-Bürgern.

Zum Hintergrund: § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) sieht einen Leistungsausschluss für EU-Bürger vor, die nur zur Arbeitsuche in Deutschland sind. Rechtmäßigkeit und Anwendungsbereich dieser Vorschrift sind unter den deutschen Sozialrichtern hoch umstritten. Erst zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (Rechtssache Dano, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 und Rechtssache Alimanovic, Urteil vom 15.9.2015 – C-67/14) stellten klar, dass die Vorschrift mit dem Europarecht vereinbar ist. In mehreren Urteilen vom 3. Dezember 2015 entschied der 4. Senat des BSG daraufhin, dass arbeitsuchende EU-Bürger zwar keinen Hartz IV-Anspruch hätten, stattdessen aber bei einer „tatsächlichen Aufenthaltsverfestigung“ (nach sechs Monaten) Anspruch auf Sozialhilfe (www.bundessozialgericht – Medieninformation Nr. 28/15). Diese Rechtsprechung stieß in den Medien auf teilweise heftige Kritik (vgl. nur Jan Fleischhauer, spiegel-online, 8. Dezember 2015, Der schwarze Kanal: Seid umarmt, Ihr Rumänen). Heute entscheidet der 14. Senat des BSG über Leistungsansprüche von EU-Bügern (www.bundessozialgericht.de – Terminvorschau Nr. 61/15).

Zum Fall: Der 1980 geborene Kläger ist bulgarischer Staatsangehörigkeit und lebt seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin. Zumindest bis Ende 2013 ging er keiner Beschäftigung nach. Seinen im Februar 2013 gestellten Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes lehnte das beklagte Jobcenter Berlin Treptow-Köpenick im Herbst 2013 ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass der Kläger sich nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalte und deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Mit seiner im Dezember 2013 erhobenen Klage machte der Kläger geltend, dass der Leistungsausschluss gegen EU-Recht verstoße.

Mit Urteil vom 11. Dezember 2015 wies die 149. Kammer des Sozialgerichts Berlin (in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern) die Klage ab. Umstritten sei der Leistungsanspruch von Februar bis Dezember 2013. In diesem Zeitraum habe der Kläger, der – soweit ersichtlich – keine Arbeitsbemühungen entfaltet habe, höchstens eine Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche gehabt. Damit sei er von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Dieser Leistungsausschluss sei mit dem Europäischen Unionsrecht vereinbar, wie der Europäische Gerichtshof und auch der 4. Senat des Bundessozialgerichts bestätigt hätten. Anders als das BSG entschieden habe, habe der Kläger indes auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe, weshalb der Sozialhilfeträger am Prozess auch nicht zu beteiligen gewesen sei. Personen, die – wie der Kläger – dem Grunde nach, also nach ihrem Gesundheitszustand, erwerbsfähig seien, unterfielen nämlich gar nicht dem Regelungsbereich des Sozialhilferechts (vgl. § 21 Satz 1 SGB XII). Dies habe der Gesetzgeber auch unmissverständlich in seiner Gesetzesbegründung klargestellt. Soweit das BSG meine, sich über diesen eindeutigen Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen zu können, sei dies verfassungsrechtlich nicht haltbar. Durch das „Einlegen“ von Regelungszielen in eine Norm, die der Gesetzgeber gerade nicht verfolgt habe, werde die Grenze der richterlichen Gesetzesauslegung überschritten und damit das Prinzip der Gewaltenteilung durchbrochen. Der Kläger habe auch nicht von Verfassungs wegen einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums komme dem Gesetzgeber nämlich ein Gestaltungsspielraum zu. Anders als Asylbewerbern sei es Unionsbürgern regelmäßig möglich, ohne drohende Gefahren für hochrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren und dort staatliche Unterstützungsleistungen zu erlangen. Der deutsche Staat sei deshalb regelmäßig nur zur Gewährung von Überbrückungsleistungen verpflichtet, welche insbesondere die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthaltes in Deutschland erfassten. Derartige Leistungen habe der Kläger vorliegend jedoch nicht begehrt.

Anmerkung der Pressestelle: Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann vom Kläger mit der Berufung zum Landessozialgericht in Potsdam angefochten werden.

Quelle: Pressemitteilung vom 16.12.2015


Die „Arbeitsstätte“ im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 3b ALG II-VO ist da, wo der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitet

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Bei einem ALG II-Empfänger, der einer Arbeit nachgeht (sog. Aufstocker), können grundsätzlich die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen Ausgaben (sog. Werbungskosten) abgesetzt werden (vgl. § 11 b SGB II). Liegt das Einkommen unter 400,00 €, wird anstelle der tatsächlichen Werbungskosten ein Betrag von 100,00 € (sog. Grundfreibetrag) abgesetzt. Liegt das Einkommen über 400,00 €, können anstelle des Grundfreibetrages die tatsächlichen Werbungskosten abgesetzt werden, soweit diese nachgewiesen werden (vgl. § 11b Abs. 2 Satz 2 SGB II).

Bei der Benutzung eines Kraftfahrzeuges werden als Werbungskosten „für die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für Wegstrecken zur Ausübung der Erwerbstätigkeit 0,20 Euro für jeden Entfernungskilometer der kürzesten Straßenverbindung“ berücksichtigt (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 3b ALG II-VO). Eine Leistungsabteilung des Jobcenters Kiel hatte die Auffassung vertreten, bei einem Arbeitnehmer der Zeitarbeitsbranche sei unter „Arbeitsstätte“ der Firmensitz der Zeitarbeitsfirma zu verstehen und nicht der Einsatzort, an dem der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitet.

Die Rechtsabteilung des Jobcenters Kiel hat meinem hiergegen erhobenen Widerspruch abgeholfen und in der Verfügung an die Leistungsabteilung zur Begründung ausgeführt:

„Die Arbeitsstätte ist nicht der Dienstsitz des AG, sondern der tatsächliche Einsatzort. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der ALG II-VO (§ 6 Abs. 1 Nr. 3b).

Dort ist die Wegstrecke maßgeblich, die zur Ausübung der Erwerbstätigkeit zurückzulegen ist. Somit wird ein unmittelbarer Bezug zu dem Ort hergestellt, an dem die Tätigkeit ausgeübt wird, aufgrund derer der arbeitsvertragliche Lohn zu zahlen ist. Dies ist jedoch nicht der Sitz des AG in der Holstenbrücke, senden auf dem HDW-Gelände. Dort schuldet der Arbeitneh­mer seine Dienste, für deren Erbringung er den vereinbarten Lohn erhält.

Auch aus steuerrechtlicher Sicht ist i.Ü. die Arbeitsstätte bzw. erste Tätigkeitsstätte bei HDW ( § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG).“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Freie Hansestadt Bremen: Sozialverwaltung vor dem Kollaps?

Wappen Hansestadt BremenHeute erhielt ich vom Amt für Soziale Dienste der Freien Hansestadt Bremen die Eingangsbestätigung hiesigen Widerspruches vom 05.11.2014. Selbst diese Eingangsbestätigung dürfte ich nur deshalb erhalten haben, weil ich am 29.10.2015 Untätigkeitsklage vor dem Sozialgericht Kiel  gegen die Freie Hansestadt erhoben habe, da diese auch in diesem Widerspruchsverfahren auf meine anwaltlichen Schreiben nicht reagiert hat. Was kaum öffentlich ausgesprochen wird, hier soll es einmal gesagt werden: Die Sozialverwaltung, längst mehr von politisch gewollten Sparzwängen regiert als an rechtmäßigem Verwaltungshandeln orientiert, hat sich in Teilen Deutschlands an den Rande der Arbeitsunfähigkeit manövriert. Es wird Zeit, dass dieses Thema auf die politische Agenda kommt.

Helge Hildebrandt


Dein Feind, Dein Mitarbeiter

NDR Info – Das Feature – 06.12.2015 11:05 Uhr Autor/in: Claas Christophersen und Norbert Zeeb – Wenn Betriebsratswahlen sabotiert oder Interessensvertreter gemobbt werden, ist das „Arbeitskampf von oben“. Dabei greifen Unternehmen auch auf illegale Methoden zurück. Hörenswert: https://www.ndr.de/info/sendungen/das_feature/Dein-Feind-Dein-Mitarbeiter,sendung432406.html

Rückwirkende Änderung der Leistungshöhe in der Altersgrundsicherung erst ab Mitteilung der Änderung

Sozialgericht Kiel

Sozialgericht Kiel

Ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse eines Beziehers von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII, sind diese erst ab dem Monat, in dem die Änderung dem Grundsicherungsträger mitgeteilt wird, zu berücksichtigten.

In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Grundsicherungsempfängerin ab dem Monat Februar 2013 keine Kindergeld mehr erhalten, diese Änderung dem Grundsicherungsamt aber erst im Monat März 2013 mitgeteilt, weil ihr erst zu diesem Zeitpunkt entsprechende Nachweise vorlagen. Die Behörde nahm daraufhin ab dem Monat März 2013 das Kindergeld aus der Bedarfsberechnung, nicht jedoch für den Monat Februar. Einen Antrag auf Überprüfung der Leistungen für Februar lehnte die Behörde genauso ab wie den hiergegen erhobenen Widerspruch.

Auch die Klage blieb erfolglos. Denn – so argumentiert das Gericht – eine „wesentliche Änderung“, aufgrund derer das Grundsicherungsamt den Bescheid für Februar unter Anrechnung des tatsächlich nicht gezahlten Kindergeldes nicht hätte erlassen dürfen, läge nicht vor. Der Gesetzgeber habe in § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII vielmehr ausdrücklich festgelegt, dass eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen erst ab der Mitteilung dieser Änderungen als „wesentlich“ im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X zu berücksichtigen sei.

Leistungsberechtigen ist zu raten, Veränderungen in ihren tatsächlichen Verhältnissen der Behörde immer umgehend schriftlich und mit Zugangsnachweis mitzuteilen. Nachweisunterlagen können auch später immer nachgereicht werden. (SG Kiel, Urteil vom 27.08.2015, S 26 SO 88/13)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ausschluss von SGB II-Leistungen für Unionsbürger – Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat in drei Urteilen vom heutigen Tag unter Berücksichtigung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konkretisiert, in welchen Fallgestaltungen Unionsbürger aus den EU-Mitgliedstaaten existenzsichernde Leistungen nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beziehungsweise dem Sozialhilferecht (SGB XII) beanspruchen können (vergleiche zu den Sachverhalten Terminvorschau Nr. 54/15). Dies erfolgt im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 15. September 2015 (Rs C-67/14 „Alimanovic“), wonach der ausnahmslose Ausschluss von Unionsbürgern mit einem alleinigen Aufenthaltsrecht nur (noch) zur Arbeitsuche von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II europarechtskonform ist.

Der 4. Senat hat hierzu entschieden, dass der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürger von SGB II-Leistungen auch für diejenigen Unionsbürger greift („Erst-Recht“), die über kein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz oder dem Aufenthaltsgesetz verfügen. Auch bei fehlender Freizügigkeitsberechtigung sind aber zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist dieses Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.

Im Falle eines griechischen Staatsangehörigen, der nach einer kurzen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Ende 2011/Anfang 2012 SGB II-Leistungen auch für die Zeit ab Februar 2013 begehrt, ist das zusprechende Urteil des Landessozialgerichts auf die Revision des Jobcenters aufgehoben und die Sache zur Klärung der Aufenthaltsrechte im streitigen Zeitraum zurückverwiesen worden. Der formell und materiell wirksame Vorbehalt der Bundesregierung zum Europäischen Fürsorgeabkommen schließt SGB II-Leistungen, nicht jedoch Sozialhilfeleistungen in gesetzlicher Höhe an den Kläger aus (B 4 AS 59/13 R).

Die Kläger im Verfahren B 4 AS 44/15 R, eine bereits 2008 nach Deutschland zugezogene Familie rumänischer Staatsangehörigkeit, unterfallen zwar dem Leistungsausschluss für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wegen ihres verfestigten Aufenthalts in Deutschland haben sie jedoch Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe. Der beigeladene Sozialhilfeträger wurde verurteilt, diese Leistungen zu erbringen.

In dem dritten Verfahren („Alimanovic“) hat der 4. Senat das Urteil des Landessozialgerichts auf die Revision des Jobcenters aufgehoben. Zwar waren die Kläger, eine seit langem im Bundesgebiet lebende Mutter mit drei Kindern schwedischer Staatsangehörigkeit, die nur in kürzeren Beschäftigungen beziehungsweise Arbeitsgelegenheiten tätig waren, als Arbeitsuchende von SGB II-Leistungen ausgeschlossen. Es ist jedoch noch zu prüfen, ob sich die Kläger auf andere Aufenthaltsrechte im Zusammenhang mit der Ausbildung und Integration der Kinder im Bundesgebiet berufen können.

Quelle: Medieninformation Nr. 28/15


NEIN zur Kieler Olympiabewerbung

cropped-lv_nolympia_halb_a6Vor einiger Zeit machte ich für einen Mandanten, der bei einem Feuer in einem Kieler Mietshaus sein gesamtes Hab und Gut verloren hatte, Leistungen für die Erstausstattung mit Bekleidung geltend. Die „Soziale Stadt Kiel“ bewilligte dem Brandopfer lediglich die halbe „Bekleidungspauschale“ in Höhe von 144,00 € anstatt 288,00 €. Im Widerspruchsverfahren rechtfertige die Stadt Kiel ihre Entscheidung damit, mein Mandant sei schließlich nicht nackt aus den Flammen geflohen (sondern im Schlafanzug). Zudem sei es dem Rentner ohne Weiteres möglich, sich mit 144,00 € vollständig neu einzukleiden. Zum Beleg fügte die „Soziale Stadt Kiel“ eine Liste mit Bekleidungsstücken einer großen Billigkette bei. Unter anderem enthielt diese Liste Kinderunterwäsche und Plastiksandalen. Erst im anschließenden Klageverfahren gab die „Soziale Stadt Kiel“ ohne Begründung ein Klageanerkenntnis ab – wohl, um sich ein peinliches Urteil zu ersparen.

Eine Stadt, die so mit ihren hilfebedürftigen Bürgern umgeht, hat jede Legitimation verloren, Millionen für eine Olympia-Party aus dem Fenster zu werfen. In den Ohren der Brandopfer muss es wie Hohn klingen, wenn Oberbürgermeister Ulf Kämpfer sagt: “Wir reden im Fall Kiel über Extra-Kosten für die Stadt in Höhe von 15-20 Millionen, die wir irgendwo zusammenklauben müssen – sei es durch eine höhere Verschuldung oder den Verzicht auf andere Projekte.” Man ahnt schon, wer da zukünftig wieder verzichten soll.

Abstimmen gehen. Nein sagen. Heute bis 18.00 Uhr.

Mehr Infos: https://okiel.wordpress.com/

Helge Hildebrandt


In eigener Sache: Kollegin oder Kollege für Bürogemeinschaft gesucht

Sybille Kambeck / janefire.de

Sybille Kambeck / janefire.de

Nach rund 10 Jahren in einer Bürogemeinschaft mit aktuell 6 weiteren Kolleginnen und Kollegen werde ich zum 01.02.2016 in eigene Kanzleiräume ziehen. Für die neue Kanzlei suche ich einen Kollegen oder eine Kollegin in Bürogemeinschaft. Als Ergänzung zu meiner verbraucherrechtlich ausgerichteten und seit einigen Jahren auf das Sozialrecht spezialisierten Kanzlei bieten sich etwa die Rechtsgebiete Arbeitsrecht, Familienrecht, Mietrecht, Verwaltungsrecht oder Asylrecht an. Gern dürfen sich aber auch junge Kollegen mit eigenen Geschäftsideen melden. Denkbar wäre ferner eine Schwerpunktbildung im Sozialrecht. Bewerber sollten Lust und Motivation zu einer selbständigen Tätigkeit sowie die Bereitschaft zum aktiven Aufbau eines eigenen Mandantenstamms mitbringen. Da die Räume derzeit renoviert werden, besteht aktuell noch die Möglichkeit, sich in deren Gestaltung mit einzubringen.

Helge Hildebrandt


BVerfG: Ablehnung von Beratungshilfe erfordert einzelfallbezogene Begründung

Logo BVerfGPressemitteilung Nr. 84/2015 vom 13. November 2015

Beschluss vom 07. Oktober 2015
1 BvR 1962/11

Die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für die Einlegung und Begründung eines Widerspruchs darf nicht mit dem pauschalen Hinweis darauf abgelehnt werden, dass die antragstellende Person den Widerspruch selbst hätte einlegen können. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss bekräftigt. Da die Erfolgsaussichten eines Widerspruchs auch von dessen sorgfältiger Begründung abhängen, bedarf die Ablehnung der Beratungshilfe in solchen Fällen einer einzelfallbezogenen Begründung. Einer Verfassungsbeschwerde hat die Kammer stattgegeben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer beantragte über seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt beim Amtsgericht die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für einen Widerspruch gegen die Ablehnung seines Antrags auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Er wies darauf hin, dass der Bevollmächtigte den Widerspruch bereits eingelegt habe. Der Antrag wurde zunächst durch Verfügung der Rechtspflegerin und – auf die Erinnerung des Beschwerdeführers – durch richterlichen Beschluss abgelehnt. Die Inanspruchnahme der Beratungshilfe sei mutwillig; zudem sei es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, den Widerspruch selbst beim Rentenversicherungsträger einzulegen.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit.

  1. Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten auch im außergerichtlichen Bereich. Dabei brauchen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen. Kostenbewusste Rechtsuchende werden dabei insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder selbst dazu in der Lage sind. Ob diese zur Beratung notwendig ist oder Rechtsuchende zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden können, hat das Fachgericht unter Berück­sichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen.
  2. Das Amtsgericht hat ohne die verfassungsrechtlich gebotene Einzelfallprüfung den Beratungshilfeantrag des Beschwerdeführers abgelehnt und sein Beratungshilfebegehren sogar für mutwillig erachtet. Es verweist den Beschwerdeführer für die Einlegung des Widerspruchs auf die Selbsthilfe, ohne konkret zu prüfen, ob ein bemittelter Rechtsuchender die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe für das Widerspruchsverfahren in Betracht ziehen würde. Der richterliche Beschluss lässt zudem den Vortrag des Beschwerdeführers in seiner Erinnerung außer Acht, dass er die anwaltliche Hilfe auch für die Begründung des Widerspruchs beantrage. Das Amtsgericht verkennt, dass regelmäßig nicht bereits die bloße Erhebung des Widerspruchs zur begehrten Änderung der angefochtenen Entscheidung führt, sondern erst dessen sorgfältige Begründung. Den Entscheidungen ist keine Begründung dazu zu entnehmen, warum die beantragte Beratung für die Durchführung des Widerspruchsverfahrens entbehrlich gewesen sein soll und der Beschwerdeführer deshalb zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden konnte.

Erst recht trägt der pauschale Hinweis auf ein angebliches Bestreben des Beschwerdeführers, für jegliche Lebenslagen eine anwaltliche Vertretung zu erlangen, die Annahme einer Mutwilligkeit des Antrags auf Beratungshilfe für das konkrete Widerspruchsverfahren wegen der Ablehnung einer Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nicht.

Mehr zum Thema im Stichwort „Beratungshilfe„.


EU-Ausländer: Bei Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft ist das individuelle Leistungsvermögen zu berücksichtigen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Das SGB II schließt in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II AusländerInnen und ihre Familienangehörigen von Hartz IV-Leistungen aus, „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. War in der Auseinandersetzung mit Jobcentern bisher immer ein Hauptargument, dieser Ausschluss sei europarechtswidrig, so ist dieses Argument seit der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 in der Rechtssache Alimanovic (C‑67/14) nicht mehr tragfähig. Umso genauer sind zukünftig die anderen Aufenthaltsgründe zu prüfen.

Aufenthaltsrecht von ArbeitnehmerInnen

Ein Aufenthaltsrecht, welches den Zugang zu aufstockenden Leistungen nach dem SGB II eröffnet, kann sich aus der ArbeitnehmerInneneigenschaft ergeben. Mit einem Stundenumfang von 5,5 Wochenstunden bzw. einem Monatseinkommen von rund 100 Euro kann der ArbeitnehmerInnenstatus gegeben sein (EuGH, Urteil vom 04.02.2010 in der Rechtssache Genc, C-14/09). Auch mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem Einkommen von 100 Euro hat das BSG die Arbeitnehmereigenschaft bejaht (Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R; heute läge ein Verstoß gegen das Mindestlohngesetz vor). Die Bundesagentur für Arbeit geht jedenfalls bei einer Beschäftigung ab 8 Stunden von einer nicht nur „völlig untergeordneten und unwesentlichen“ und damit aufenthaltsrechtlich unbeachtlichen Tätigkeit aus (mehr hier). Alles, was darunter liegt, muss einzelfallbezogen geprüft werden.

Leistungsvermögen zu berücksichtigen

Nach einer aktuellen Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11.11.2015 zum Aktenzeichen L 6 AS 197/15 B ER ist bei der Beurteilung der ArbeitnehmerInneneigenschaft das individuelle Leistungsvermögen der EU-AusländerInnen zu berücksichtigen. Gehen diese einer Teilzeitbeschäftigung nach, die typischerweise in Teilzeit und nicht selten unterhalbschichtig ausgeübt wird und müssen etwa Kinder allein erzogen und Integrationskurse besucht werden, begründet auch eine Tätigkeit von 20 Stunden im Monat die EU-Arbeitnehmereigenschaft und berechtigt damit zum Bezug von aufstockenden Leistungen nach dem SGB II:

„Die danach einzig relevante und zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob die tatsächliche und echte Tätigkeit ihrem Umfang nach als völlig untergeordnet und unwesentlich zu qualifizieren ist, ist angesichts der dargelegten europarechtlichen Maßstäbe auch nach Ansicht des Senats zu verneinen. Sinn und Zweck der freizügigkeitsrechtlichen Bestimmungen gebieten es, auch die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. als Haushaltshilfe, die ohne Weiteres einen Bezug zum Wirtschaftsleben aufweist und für die es in der Bundesrepublik Deutschland einen relevanten Arbeitsmarkt gibt, als echtes Arbeitsverhältnis im Sinne des Freizügigkeitsrechts zu qualifizieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Hilfstätigkeiten im Haushalt, wie sie von der Antragstellerin zu 1. ausgeübt werden, typischerweise in Teilzelt ausgeübt werden, wobei der jeweilige Umfang nicht selten deutlich unterhalbschichtig ist. Im besonderen Fall ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners zudem zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zu 1. durch die erforderliche Betreuung des Antragstellers zu 2. und die verpflichtende Teilnahme am Integrationskurs objektiv gehindert ist, einer Erwerbstätigkeit in (erheblich) größerem zeitlichem Umfang nachzugehen, als die zurzeit ausgeübten 20 Stunden im Monat. Die vom EuGH für die Beurteilung der Wesentlichkeit verlangte Gesamtbetrachtung schließt die Berücksichtigung solchermaßen konkurrierender Verpflichtungen jedenfalls nicht aus. Vielmehr dürfte es nach Ansicht des Senats bei zweckentsprechender Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften durchaus naheliegen, zur Beurteilung der völligen Unwesentlichkeit einer Tätigkeit die Arbeitszeit der betreffenden Person in Beziehung zu setzen zu der für sie disponiblen, frei verfügbaren Zelt. Ist eine Person durch äußere Umstände oder aufgrund vorrangiger Verpflichtungen – nicht aber aufgrund autonomer Entscheidungen zugunsten anderer als wirtschaftlicher Aktivitäten – derart gebunden, dass sie nur mit einem Teil ihres quantitativen Leistungsvermögens am Wirtschaftsleben teilnehmen kann und realisiert sie diesen Teil überwiegend, kann im Wortsinne kaum mehr von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit gesprochen werden. Anderenfalls würde gerade sozial schutzbedürftigen Personengruppen wie Schwangeren, Alleinerziehenden oder behinderten Menschen die Teilhabe an der unionsvertraglich gewährleisteten Freizügigkeit in unverhältnismäßiger Weise erschwert.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss keine Kabelgebühren übernehmen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Selbst dann, wenn Fernsehen ausschließlich über einen Kabelanschluss empfangen werden kann, hat ein Hartz-IV-Empfänger keinen Anspruch auf Übernahme der Gebühren für den Kabelanschluss als Kosten seiner Unterkunft, wenn diese Kosten nicht mietvertraglich geschuldet sind.

Entgegen landläufiger Auffassung in der Rechtsprechung scheidet nach einer Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ein Anspruch auf Übernahme vom Kabelgebühren in diesem Fall nicht deswegen aus, weil die Nutzung des Kabelanschlusses „freiwillig“ sei, sondern weil es sich bei den Kosten eines Kabelanschlusses schon nicht um angemessene Kosten für das „Wohnen“ handele.
Als Kosten der Unterkunft würden nämlich nur solche Kosten übernommen, die der Befriedigung grundlegender Bedürfnis nach „Wohnen“ dienen, nicht aber die Kosten für bestimmte Freizeitbeschäftigungen wie etwa Fernsehen. Für die Kosten von Freizeit, Unterhaltung und Teilnahme am kulturellen Leben seien Bedarfspositionen im Regelsatz vorgesehen, denen auch die Kabelanschlussgebühren zuzurechnen seien. Die Kosten eines Kabelanschlusses habe ein ALG-II-Empfänger deswegen aus seinem Regelsatz zu bestreiten.

Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 14.11.2014, L 3 AS 134/12

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte lässt Antragsvordrucke für Schulbegleitungen im Kreis Stormarn datenschutzrechtlich überprüfen

ltsh_logoKiel (SHL) – Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samiah El Samadoni, hat Zweifel an der datenschutzrechtlichen Zulässigkeit des im Kreis Stormarn verwendeten Antragsvordrucks für Schulbegleitungen im kommenden Schulhalbjahr. Sie hat daher die Landesbeauftragte für Datenschutz, Marit Hansen, um Prüfung der Angelegenheit gebeten.
„Ich habe sowohl im Hinblick auf die vorformulierte, allumfassende Schweigepflichtsentbindung als auch im Blick auf einzelne Fragen im Antragsvordruck datenschutzrechtliche Bedenken“, sagte El Samadoni heute in Kiel. So werde zum Bespiel nach Hobbies des Kindes, Zeugnissen und Erwartungen an Schulbegleitung und Schule gefragt. „Die Relevanz dieser Fragen für den Bedarf und die Ausgestaltung der Schulbegleitung ist für mich nicht erkennbar. Grundsätzlich dürfen nur solche Daten erfragt werden, die für die Leis-tungsgewährung konkret erforderlich sind.“

Bis zur Klärung der Angelegenheit rät die Bürgerbeauftragte betroffenen Eltern, Anträge auf Schulbegleitung in der bisher gewohnten Art und Weise zu stellen und den Antragsvordruck nicht zu verwenden. Bei Beratungsbedarf und Fragen zum weiteren Vorgehen stehen die Bürgerbeauftragte und ihr Team zur Verfügung.

Alle Presseinformationen der Bürgerbeauftragten finden Sie hier.

Mehr zum Thema:

taz.de: Die Spanner vom Amt

zeit.de: Kein Datenschutz für Hartz-IV-Empfänger


Kosten der Unterkunft für Asylbewerber

Aus gegebenem Anlass weise ich an dieser Stelle auf eine Stellungnahme des Innenministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 07.02.2014 zum Thema Kosten der Unterkunft nach dem Asylbewerberleistungsgesetz hin:

Erstattung von Aufwendungen für Leistungsberechtigte Personen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG);

Kosten für angemessenen Wohnraum, Wohnraumbeschaffung und Schönheitsreparaturen

Infolge des starken Zugangs an Asylsuchenden in den letzten Monaten ist auch die Anmietung von bezahlbarem Wohnraum vor allem in den kreisfreien Städten; aber auch im Hamburger Randgebiet zunehmend schwieriger geworden. In diesem Zusammenhang sind Anfragen an das Innenministerium gerichtet worden, ob auch Wohnraum angemietet werden könne, dessen Bruttokaltmiete die örtlich geltenden Mietobergrenzen (MOG) übersteigt. Dazu und zu anderen Erstattungsfragen im Zuge der Anmietung von Wohnraum nehme ich wie folgt Stellung:

Erstattet werden die aufgrund der Bestimmungen des AsylbLG erbrachten notwendigen Leistungen. Damit gelten auch für die Anmietung von Wohnraum bei Leistungsempfängern nach dem AsylbLG vergleichbare Regelungen, wie sie das Gesetz für Leistungsempfänger nach den Sozialgesetzbüchern II und XII vorsieht. Danach werden grundsätzlich nur angemessene Unterkunftskosten übernommen. Für die Bestimmung des unbestimmten Begriffes „angemessen“ gelten in Abhängigkeit von der jeweiligen Personenzahl des Haushalts bestimmte örtliche MOG. Diese jeweiligen MOG gelten grundsätzlich auch für die Leistungsempfänger nach dem AsylbLG. Eine Ausnahme davon und damit eine Überschreitung der MOG halte ich zum Beispiel im Zuge der Neuzuweisung von Asylsuchenden für einen kurzfristigen Zeitraum für akzeptabel, wenn im Zeitpunkt der Zuweisung angemessener Wohnraum noch nicht verfügbar ist (z. B. Unterbringung in Hotel/Pension, bis Wohnung bezogen werden kann).

Die Übernahme einer Mietkaution (§ 551 BGB) ist möglich, wenn anderenfalls keine Anmietung der Wohnung möglich ist und anderweitiger angemessener Wohnraum kurzfristig nicht zur Verfügung steht. Die Kaution sollte nicht mehr als drei Monatsmieten betragen und grundsätzlich als Darlehen gewährt werden. Der Rückzahlungsanspruch des Mieters sollte bis zur Tilgung des Darlehens an die Leistungsbehörde abgetreten werden.

Die Übernahme einer Maklercourtage ist möglich, wenn anderenfalls keine Anmietung der Wohnung möglich ist und anderweitiger angemessener Wohnraum kurzfristig nicht zur Verfügung steht. Die Courtage darf maximal zwei Monatsmieten zuzüglich Mehrwertsteuer betragen. Ich bitte in jedem Fall die weitere gesetzliche Entwicklung in Sachen „Maklercourtage“ im Auge zu behalten. Ihnen dürfte bekannt sein, dass es Überlegungen gibt, den Makler zukünftig vom jeweiligen Auftraggeber der Leistung bezahlen zu lassen.

Anmerkung: Mit Inkrafttreten der sog. „Mietpreisbremse“ zum 01.06.2015 ist die Neuregelung in § 2 Abs. 1 a WoVermRG zu beachten: „Der Wohnungsvermittler darf vom Wohnungssuchenden für die Vermittlung oder den Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss von Mietverträgen über Wohnräume kein Entgelt fordern, sich versprechen lassen oder annehmen, es sei denn, der Wohnungsvermittler holt ausschließlich wegen des Vermittlungsvertrags mit dem Wohnungssuchenden vom Vermieter oder von einem anderen Berechtigten den Auftrag ein, die Wohnung anzubieten (§ 6 Absatz 1).

Kosten für Schönheitsreparaturen können ebenfalls übernommen werden, wenn der Mietvertrag eine entsprechende wirksame Regelung enthält. Starre Fristenpläne für Schönheitsreparaturen sind laut Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes unwirksam.

Eine Übernahme von Kosten für eine Beseitigung von Beschädigungen an der Mietsache, die der Leistungsempfänger in seiner Wohnung verursacht hat, ist dagegen grundsätzlich ausgeschlossen. Hier besteht für den Wohnungseigentümer ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch gegenüber dem Verursacher. Ist jedoch infolge des verursachten Schadens ein Verlust der Unterkunft zu erwarten und liegt der Erhalt der Wohnung im Interesse der Leistungsbehörde, kann eine Übernahme der Schuld ausnahmsweise in Betracht kommen.

Bei anderen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Anmietung von Wohnraum sollte sich die Leistungsbehörde bei der Frage der Übernahme von Kosten an den Grundsätzen für Leistungsempfänger nach dem SGB II / SGB XII orientieren.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein ALG II für EU-Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ableitet

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

In der Folge des Urteils des EuGH vom 15.09.2015 (C-67/14) hat das SG Kiel mit Beschluss vom 02.10.2015 zum Aktenzeichen S 35 AS 185/15 ER die vorläufige Gewährung von ALG II für einen EU-Ausländer abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:

Eine vorläufige Leistungsgewährung kommt schließlich nicht gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz l Nr. 1 SGB III in Betracht. Danach ist dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Möglichkeit eröffnet, Leistungen der Grundsicherung vorläufig zu gewähren, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift des SGB II mit höherrangigem Recht, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist. Das ist in Bezug auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht (mehr) der Fall. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in der Sache Alimanovic mit Urteil vom 15. September 2015 zum Az. C-67/14 Folgendes entschieden:

Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr im Aufnahmeland gearbeitet hatte, und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung, behält er seine Erwerbstätigeneigenschaft und sein Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. Wenn ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedsstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitssuchender nicht aus dem Aufnahmemitgliedsstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnahmemitgliedsstaat jedoch jegliche Sozialleistungen verweigern.

Der letztere Fall ist hier gegeben. Denn der Antragsteller hat in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gearbeitet, so dass der in § 7 Abs. 1 Satz 2 N. 2 SGB II normierte Leistungsausschluss greift und ausgehende von der EuGH-Rechtsprechung nicht europarechtswidrig ist.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren sind verschiedene Angelegenheiten

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren sind gebührenrechtlich zwei verschiedene Angelegenheiten, so dass für beide Verfahren – bei Vorliegen der Beratungshilfevoraussetzungen im Übrigen – gesondert Beratungshilfe zu bewilligen ist.

Mit Beschluss vom 21.08.2015 hat eine Rechtspflegerin am AG Rendsburg Beratungshilfe für ein Widerspruchsverfahren mit der Begründung abgelehnt, aufgrund der Teilidentität der Begründung im Rahmen einer Anhörung sowie dem sich anschließenden Widerspruchsverfahren läge gebührenrechtlich eine Angelegenheit vor. Dem bin ich mit Erinnerung vom 28.08.2015 entgegen getreten. Der Erinnerung wurde mit Rechtspflegerbeschluss vom 30.09.2015 abgeholfen und zur Begründung ausgeführt:

Nach § 2 Abs. 2 BerHG wird Beratungshilfe in „Angelegenheiten“ gewährt. Eine nähere Bestimmung dieses Begriffs findet sich nicht im Beratungshilfegesetz, wohl aber in § 15 ff. RVG. Der Antragstellervertreter hat richtig ausgeführt, dass sich die Beurteilung, ob eine oder mehrere Angelegenheiten vorliegen, nach § 15 ff. RVG richtet.

Gemäß § 17 Nr. 1 a RVG handelt es sich bei dem Verwaltungsverfahren und dem einem gerichtlichen Verfahren vorausgehende und der Nachprüfung des Verwaltungsaks dienende weitere Verwaltungsverfahren um verschiedene Angelegenheiten.

Das Verwaltungsverfahren bis zum Erlass oder bis zur Ablehnung eines Verwaltungsaktes und das Verfahren nach Einspruch oder Widerspruch zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes durch die Verwaltungsbehörde stellen daher zwei Angelegenheiten dar (Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 6. Auflage 2013, § 17 Rn. 5).

Es bleibt zu hoffen, dass diese Frage damit auch in anderen Beratungshilfeangelegenheiten als geklärt gelten kann.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Nebenkostenübernahme nur für aktuell bewohnte Wohnung?

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Bisher gab es bei Betriebskostenguthaben und -Nachzahlungen für Hartz IV-Bezieher eine einfach und gerechte Regel: Betriebskostenguthaben aus Zeiten vor dem Leistungsbezug, die im Leistungsbezug ausgezahlt werden, werden auf den ALG II Anspruch angerechnet, Betriebskostennachforderungen vom Jobcenter übernommen. Begründet wurde dies mit dem Bedarfdeckungsgrundsatz. Umgekehrt werden Nebenkostenguthaben, die aufgrund von Leistungen des Jobcenters im Leistungsbezug entstanden sind, aber – etwa nach einer Arbeitsaufnahme – nach Beendigung überwiesen werden, nicht vom Jobcenter zurückgefordert, Nachzahlungen müssen dafür aber auch selbst getragen werden.

Von dieser vernünftigen Regelung ist das Bundessozialgericht nun ohne Not abgewichen und hat entschieden, dass Nebenkostennachforderungen vom Jobcenter nur für die aktuell bewohnte Wohnung übernommen werden müssen, nicht jedoch für eine nicht mehr bewohnte Wohnung dann, wenn die Nachforderung zu einem Zeitpunkt fällig geworden ist, zu dem die Wohnung nicht mehr bewohnt wurde. Begründet wird diese rational kaum nachvollziehbare Entscheidung vom BSG damit, die Nichtübernahme beeinträchtige das Grundbedürfnis Wohnen nicht, da die Übernahme nicht dem Erhalt der aktuell bewohnten Unterkunft diene. Leistungsbezieher sollten aufgrund dieser neuen Rechtsprechung darauf achten, dass der Vermieter die Nebenkostenabrechnung noch zu einer Zeit erstellt, zu der die Wohnung bewohnt wird.

BSG, Urteil vom 25.06.2015, B 14 AS 40/14 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2015

Update 30.03.2017

Der 14. Senat des BSG ist mit seinem Urteil vom 30.03.2017 (B 14 AS 13/16 R) von seiner verfehlten Rechtsprechung nun ein gutes Stück weit wieder abgerückt:

„Grundsätzlich sind nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II nur die angemessenen, tatsächlichen Aufwendungen für die aktuell bewohnte Wohnung zu übernehmen, weil nur dies der Sicherung der Unterkunft dient. Nicht bezahlte Aufwendungen für frühere Wohnungen sind Schulden; diese werden nur ausnahmsweise übernommen (§ 22 Abs 8 SGB II). Vorliegend ist jedoch eine Ausnahme zu machen, weil die Klägerinnen durchgehend schon zum Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Nachforderung bis zu deren Geltendmachung und Fälligkeit im Leistungsbezug nach dem SGB II standen. Würde die Nachforderung nicht übernommen, würde dies faktisch wie eine Umzugssperre wirken, weil Alg II‑Empfänger bei unzureichenden Nebenkostenvorauszahlungen dem Risiko, Schulden zu machen, ausgesetzt wären. Besteht vor und nach dem Umzug ein Rechtsverhältnis zu demselben Vermieter oder Energielieferanten, können weitere Streitigkeiten bei den Abrechnungen in den Folgejahren auftreten, hinsichtlich deren das Jobcenter die Leistungsberechtigten zu beraten hätte. Zudem mindert eine Nebenkostenerstattung unabhängig von der Frage eines vorangegangenen Umzugs nach § 22 Abs 3 SGB II die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung.

Auf den Grund für den Umzug kommt es entgegen der Ansicht des Beklagten daher nicht an, zumal vorliegend eine Zusicherung für den Umzug seitens des Beklagten vorlag. Dass die Nachforderung an M ‑ den früheren Lebensgefährten der Klägerin zu 1 ‑ adressiert war, steht der anteiligen Übernahme nicht entgegen, da für Nachforderungen ebenso wie für laufende Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung grundsätzlich vom Kopfteilprinzip auszugehen ist.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


EuGH: ALG II für Arbeit suchende EU-Ausländer nur bei Bestehen eines Aufenthaltsrechts

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Ausländer, die nach Deutschland kommen, um Sozialhilfe zu erhalten, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, erhalten keine Leistungen der deutschen Grundsicherung. Im Urteil Dano hat der Gerichtshof unlängst festgestellt, dass ein solcher Ausschluss bei Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einen anderen Mitgliedstaat einreisen, ohne dort Arbeit suchen zu wollen, zulässig ist.

In der vorliegenden Rechtssache möchte das Bundessozialgericht (Deutschland) wissen, ob ein derartiger Ausschluss auch bei Unionsbürgern zulässig ist, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnahmemitgliedstaat begeben haben und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben, wenn Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Jobcenter Berlin Neukölln und vier schwedischen Staatsangehörigen: Frau Alimanovic, die in Bosnien geboren wurde, und ihren drei Kindern, Sonita, Valentina und Valentino, die 1994, 1998 und 1999 in Deutschland zur Welt gekommen sind. Die Familie Alimanovic war 1999 von Deutschland nach Schweden gezogen und ist im Juni 2010 nach Deutschland zurückgekehrt. Nach ihrer Rückkehr waren Frau Nazifa Alimanovic und ihre älteste Tochter Sonita weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig. Seither waren sie nicht mehr erwerbstätig. Der Familie Alimanovic wurden daraufhin für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 Leistungen der Grundsicherung bewilligt, nämlich Nazifa Alimanovic und ihrer Tochter Sonita Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Langzeitarbeitslose (Arbeitslosengeld II) und den Kindern Valentina und Valentino Sozialgeld für nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte. 2012 stellte die zuständige Behörde, das Jobcenter Berlin Neukölln, schließlich die Zahlung der Grundsicherungsleistungen mit der Begründung ein, dass Frau Alimanovic und ihre älteste Tochter als ausländische Arbeitsuchende, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, keinen Anspruch auf diese Leistungen hätten. Infolgedessen schloss das Jobcenter auch die anderen Kinder von den entsprechenden Leistungen aus.

In Beantwortung der Fragen des Bundessozialgerichts hat der Gerichtshof mit seinem heutigen Urteil entschieden, dass die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, bestimmte „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ zu gewähren, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ darstellen, nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt.

Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts von Personen dienen, die ihn nicht selbst bestreiten können, und beitragsunabhängig durch Steuermittel finanziert werden, auch wenn sie Teil eines Systems sind, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche vorsieht. Er betont, dass diese Leistungen – ebenso wie in der Rechtssache Dano – als „Sozialhilfe“ anzusehen sind.

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der „Unionsbürgerrichtlinie“ erfüllt.

Für Arbeitsuchende wie im vorliegenden Fall gibt es – nach den Feststellungen des Gerichtshofs – zwei Möglichkeiten, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen:

Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr gearbeitet hatte, und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung, behält er seine Erwerbstätigeneigenschaft und sein Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozialhilfeleistungen.

Wenn ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitsuchender nicht aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnahmemitgliedstaat jedoch jegliche Sozialhilfeleistung verweigern.

Schließlich weist der Gerichtshof noch einmal darauf hin, dass, wenn ein Staat eine Ausweisung veranlassen oder feststellen will, dass eine Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursacht, die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigt werden müssen. Der Gerichtshof betont jedoch, dass eine solche individuelle Prüfung bei einer Fallgestaltung wie der hier vorliegenden nicht erforderlich ist, weil das in der „Unionsbürgerrichtlinie“ vorgesehene abgestufte System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft (das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern soll) selbst verschiedene Faktoren berücksichtigt, die die persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen. Der Gerichtshof stellt zudem klar, dass die Frage, ob der Bezug von Sozialleistungen eine „unangemessene Inanspruchnahme“ eines Mitgliedstaats darstellt, nach Aufsummierung sämtlicher Einzelanträge zu beurteilen ist.

Gerichtshof der Europäischen Union, PRESSEMITTEILUNG Nr. 101/15
Luxemburg, den 15. September 2015

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) vom 15. September 2015 in der Rechtssache C‑67/14


Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z

lf_algii-1Die grundlegend überarbeitete Neuauflage des bekannten „Standardwerks für Arbeitslosengeld II-Empfänger“ (Spiegel 43/2005) ist erschienen.

Der erstmals im Jahre 1976 unter dem Titel „Leitfaden für Sozialhilfe“ von Prof. Rainer Roth herausgegebene Ratgeber wird seit dem Jahre 2008 vom Autorenteam Frank Jäger und Harald Thomé vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. in Wuppertal betreut. Der Leitfaden beruht auf vielen Jahren Beratungspraxis und Engagement in der Sozialen Bewegung. Er stellt zugleich mit den Regelungen des Arbeitslosengelds II auch die Regelungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung dar. Als einziger umfassender Ratgeber für das das Existenzsicherungsrecht im SGB II und SGB XII ist er deswegen für Beratungszwecke besonders geeignet.

Im ersten Teil werden in 90 Stichworten alle Leistungen ausführlich in übersichtlicher und bewährt verständlicher Form erläutert. Der zweite Teil behandelt in 34 Stichworten ausgiebig wie man sich erfolgreich gegen die Behörde wehren kann. Der aktuelle Stand der Rechtsprechung und der Gesetzgebung ist eingearbeitet und kritisch kommentiert. Für Menschen, die Sozialleistungen beziehen, deren Berater/-innen sowie Rechtsvertreterinnen und -vertreter ist der Leitfaden ein fundierter Ratgeber – er soll zur rechtlichen Gegenwehr befähigen und ermutigen. Die Autoren wollen aber auch Mut machen, sich gegen Sozialabbau und Lohndumping zur Wehr zu setzen.

Einige persönliche Anmerkungen

Mit der Einführung der „Hartz-IV-Gesetze“ im Jahr 2005 häuften sich auch bei mir die Anfragen Betroffener zu sozialrechtlichen Fragen insbesondere zum SGB II. In dieser Zeit entstand mein Kontakt zur ehemaligen „Arbeitsloseninitiative Kiel e.V.“, die damals noch zwei Beratungsstellen in der Iltisstraße 38 in Gaarden und in der Hansastraße 48 unterhielt. Der „Leitfaden“ war hier für alle ehrenamtlichen „Berater“ Pflichtlektüre. Wolfram Otto – sozusagen die Seele des Vereins – bestellte regelmäßig einen kleinen Karton „Leitfäden“, wenn wieder eine neue Auflage erschienen war. Denn die „Arbeitsloseninitiativen“ konnten den Leitfaden beim Tacheles e.V. günstiger beziehen und auf diese Weise sparten alle Ehrenamtlichen ein paar Euro. So war der „Leitfaden“ auch für mich der erste Einstieg in das Sozialrecht. Mit ihm verbinden mich noch heute schöne Erinnerungen an diese Zeit. Dies ist der Grund, warum es Harald (Thomé) nicht schwergefallen sein dürfte, mich dazu zu überreden, drei Kapitel zum neuen „Leitfaden“ beizusteuern. Die recht kurzfristige Anfrage knapp vor der Drucklegung hat mir zwar zwei arbeitsreiche Tage und (fast) schlaflose Nächte beschert, aber was tut man nicht alles für den „Leitfaden“.

Ironie der Geschichte: Der „Arbeitsloseninitiative Kiel e.V.“ wurden 2005 die öffentlichen Zuwendungen gestrichen. Begründung: Mit der Einführung von Hartz IV habe nun jeder Bezieher des neuen ALG II seinen „persönlichen Ansprechpartner“ für alle ihn betreffenden sozialrechtlichen Fragen bekommen, ein Beratungsbedarf bestehe daher ab 2005 nicht mehr. Dass die Beratungspflichten der Sozialbehörden im SGB I normiert sind und dieses Gesetz gar nicht geändert wurde – geschenkt. Politisch war es schlicht so gewollt. In der Folge meldete ich einige Jahre später Insolvenz für den Verein an. Heute gibt es noch die Beratungsstelle in der Hansastraße 48. Die Nutzung der Räume und des Telefons ist für die verbliebenen zwei ehrenamtlichen Berater jetzt kostenfrei.

Produktinfos und Bestellung

28. Auflage, September 2015, © 2015 DVS
Kt., 616 Seiten, ISBN 978-3-932246-66-1
Preis: 13,50 € inkl. Versandkosten

Mehr Informationen zum „Leitfaden“ gibt es hier, die Bestellung ist u.a. hier möglich und das Stichwort „Beratungshilfe“ findet sich als Leseprobe hier.

Helge Hildebrandt


Keine Anrechung einer Nachzahlung von Asylbewerberleistungen auf Hartz IV

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Eine Nachzahlung von Asylbewerberleistungen ist nicht als Einkommen auf den ALG II-Anspruch anzurechnen. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) klargestellt.

Die Kläger, ein Ehepaar mit zwei Kindern, erhielten ALG II. Nachdem den Klägern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von circa 7.000 € nachgezahlt worden waren, hob das beklagte Jobcenter die Bewilligung mit der Begründung auf, die Kläger seien aufgrund der als Einkommen zu berücksichtigenden Nachzahlung nicht mehr hilfebedürftig. Das Sozialgericht hatte die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht die Berufungen zurückgewiesen. Das Bundessozialgericht hob die vorinstanzlichen Entscheidungen sowie den Aufhebungsbescheid des Jobcenters nun auf, weil die Nachzahlung nicht als Einkommen nach dem SGB II zu berücksichtigen ist.

Zur Begründung hat das BSG angeführt, dass es nicht dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspreche, eine rechtswidrige Vorenthaltung von Leistungen nach dem AsylbLG dadurch zu belohnen, dass spätere Nachzahlungen auf den ALG II-Anspruch angerechnet werden. Zudem scheide eine wechselseitige Anrechnung von Leistungen nach dem SGB II (ALG II), SGB XII (Grundsicherung) und AsylbLG aufgrund ihrer gemeinsamen Zwecksetzung, das verfassungsrechtlich geschützte menschenwürdige Existenzminimum zu gewährleisten, aus.

BSG, Urteil vom 25.06.2015, B 14 AS 17/14 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe für Beratung im Anhörungsverfahren nach § 55 OwiG

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 16.06.2015 hatte eine Rechtspflegerin am AG Kiel den Antrag auf Beratungshilfe für die – im Ergebnis erfolgreiche – Vertretung einer Betroffenen Hartz-IV-Empfängerin im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 55 OwiG wegen einer angeblich begangenen Ordnungswidrigkeit nach § 63 Abs. 1 Nr. 6 SGB II abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:

Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Beratungshilfegesetz kann Beratungshilfe gewährt werden, wenn keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme dem Rechtssuchenden zuzumuten ist, und wenn nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG die Wahrnehmung der Rechte nicht mutwillig ist.

Dem Antragsteller stand eine andere zumutbare Möglichkeit für eine Hilfe im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG zur Verfügung, nämlich die Inanspruchnahme der Beratung durch das Jobcenter, zu welcher diese nach § 14 SGB 1 verpflichtet ist. Im Antrag- und im Anhörungsverfahren ist – anders als im Widerspruchsverfahren – die Beratung durch die Behörde eine andere zumutbare Möglichkeit für eine Hilfe im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG (vgl. Beschluss AG Halle (Saale) vom 17.05.2011, 103 11695/11, juris).

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 30. Juni 2009 (Az. 1 BvR 470/09, juris) entschieden, dass es im Anhörungsverfahren dem Rechtssuchenden zumutbar ist, die Beratung der Behörde in Anspruch zu nehmen, insbesondere da die Behörde – anders als im Widerspruchsverfahren – noch keine belastende Entscheidung getroffen hat.

Dadurch, dass das Jobcenter bislang keine schriftliche rechtsmittelfähige Entscheidung in dieser Angelegenheit getroffen hat, besteht darüber hinaus derzeit kein nachweisbares konkretes Rechtsproblem. Erst wenn das Jobcenter die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes durch Beschluss einstellt, besteht ein konkretes Rechtsproblem bei dem sich die Frage stellt, ob die Einlegung eines Rechtsmittels sinnvoll wäre.

In der Gesamtbetrachtung war daher der Antrag auf Beratungshilfe zurückzuweisen.

In einem weiteren Beschluss führte die Rechtspflegerin ergänzend aus:

Auch das anwaltliche Schreiben beinhaltet lediglich einen Tatsachenvortrag. Warum dieses die Antragstellerin nicht selbst hätte vortragen können, erschließt sich der Unterzeichnerin nicht.

Beratungshilfe ist im übrigen regelmäßig zu versagen, wenn sich die anwaltliche Tätigkeit im wesentlichen auf allgemeine Hilfe wie Schreib- und Lesehilfe und/oder auf Hilfe zur Überwindung von Verständnis- oder Sprachschwierigkeiten beschränkt (Schoreit/Groß, Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe, 9. Auflage, RdNr. 13 zu §1 BerHG).

Gegen den Beschluss habe ich mit Schriftsatz vom 19.06.2015 und 30.06.2015 Erinnerung eingelegt, der mit Richterbeschluss vom 04.08.2015 stattgegeben wurde. Das Gericht führt in seinem Beschluss u.a. aus:

Anders als im dortigen Verfahren [Anm.: BVerfG, Beschluss vom 30.06.2009, 1 BvR 470/09] war hier die Inanspruchnahme der anhörenden Behörde keine andere zumutbare Hilfe. Dort ging es um eine Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X, also um eine Anhörung vor Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes. Hier wurde die Antragstellerin gemäß § 55 OwiG angehört, ihr wurde also eine sanktionsbewehrte Ordnungswidrigkeit vorgeworfen. In dieser Situation ist dem Rechtsuchenden der Verweis auf die Informations- und Fürsorgepflichten der ermittelnden Behörde nicht mehr zumutbar. Zwar ist die Behörde gehalten, auch entlastende Umstände zu ermitteln, die Anhörung nach § 55 OwiG findet jedoch nur statt, wenn die Verwaltungsbehörde einen begründeten Anfangsverdacht annimmt. Die Behörde war hier also bereits repressiv tätig. Auch ein bemittelter Rechtssuchender würde in einem solchen Fall nicht erst bis zum Erlass eines Bußgeldbescheides zuwarten.

Die Vertretung in diesem Mandat erfolgte im Übrigen pro bono, da – was zu kritisieren ist – das Gesetz Vertretungshilfe u.a. im Ordnungswidrigkeitsrecht ausschließt, § 2 Abs. 2 Satz 2
BerHG.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Nicht mehr als drei Sanktionen nach Meldepflichtsverletzungen

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Nach drei aufeinander folgenden gleichlautenden Meldeaufforderungen mit demselben Ergebnis der Nichtwahrnehmung des Termins darf ein Jobcenter keine weiteren Sanktionen aussprechen. Die auf weiteren Meldeaufforderungen beruhenden Bescheide über die Feststellung eines Meldeversäumnisses und einer Minderung sind rechtswidrig, entschied das BSG in einem aktuellen Urteil.

Das beklagte Jobcenter hatte die Klägerin in sieben Meldeaufforderungen innerhalb von acht Wochen zu Besprechungen ihres Bewerberangebots bzw. ihrer beruflichen Situation in seine Dienststelle eingeladen, denen die Klägerin nicht gefolgt war. Das Jobcenter stellte daraufhin sieben Meldepflichtsverstöße fest und senkte die Regelleistungen für jeden Meldepflichtsverstoß um 10 % der maßgeblichen Regelleistungen ab.

Rechtswidrig, entschied nun das BSG. Auch wenn eine solche „Einladungsdichte“ nicht grundsätzlich rechtswidrig sei, so sei doch zu beachten, dass eine Meldeaufforderung und ihre Ausgestaltung im Ermessen des Jobcenters stünden. Mit den Meldeaufforderungen müsse das Jobcenter das Ziel verfolgen, die eingeladene Person bei ihrer Eingliederung in das Erwerbsleben zu unterstützen. Diesem Ziel würden sieben gleichlautende Meldeaufforderungen indes nicht gerecht. Zumindest nach der dritten gleichlautenden Meldeaufforderung mit demselben Ergebnis der Nichtwahrnehmung des Termins hätte das Jobcenter nicht in der bisherigen Weise fortfahren dürfen. Die auf diesen weiteren Meldeaufforderungen beruhenden Sanktionsentscheidungen seien deswegen rechtswidrig.

BSG, Urteil vom 29.04.2015, B 14 AS 19/14 R (Terminbericht)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Nicht unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit“

Landesmöbelhauptstadt KielErneut eine schallende Ohrfeige für die Stadt Kiel: Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht hatte bereits am 25.03.2015 einem schleswig-holsteinischen Kaufmann das Recht auf Einsicht in den ungeschwärzten Kaufvertrag der Stadt Kiel mit der Krieger-Gruppe (u.a. Möbel Kraft) über den Verkauf des Kleingartengeländes Prüner Schlag zugesprochen. Die Stadt Kiel lehnte dies unter Berufung auf den Schutz privater Belange (Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Investors) ab. Nun liegt die schriftliche Urteilsbegründung vor, in der es unter anderem heißt:

„Es ist nachvollziehbar, dass die Öffentlichkeit ein begründetes Interesse daran hat, ob eine Kommune gemeindeeigenes Vermögen zu einem angemessenen Preis und dem objektiven Wert entsprechend veräußert. Dieses Interesse ist letztlich in § 90 Abs. 1 Satz 3 GO verankert. Das IZG-SH [Informationszugangsgesetz Schleswig-Holstein] dient gerade dazu, die Kontrollmöglichkeiten der Bürger in Bezug auf das Handeln der Verwaltung zu stärken und zu verbessern. Nur durch diese Kenntnis von dem Inhalt des Gutachtens ist es der Öffentlichkeit jedoch möglich, diese vom Gesetzgeber gewollte Kontrollmöglichkeit auszuüben. (…) In einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat sollte es daher als selbstverständlich gelten, dass geschäftliche Beziehungen mit dem Staat jedenfalls im Grundsatz nicht unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit erfolgen. Unternehmen haben bei Verträgen mit der öffentlichen Hand das besondere Informationsinteresse der Bürger zu berücksichtigen.“

Leider ist das, was in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat als selbstverständlich gelten sollte, in der Landeshauptstadt Kiel nicht nur keine Selbstverständlichkeit, sondern die Bürger müssen ihre Rechte gegen eine das Recht ignorierende Stadt sogar vor Gericht einklagen.

Mehr Informationen finden sich hier.


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht: Zweifel an den Mietobergrenzen für Hartz IV Bezieher in der Stadt Neumünster

Wappen NeumünsterIn einem aktuellen Beschluss vom 14.07.2015 hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht Zweifel an der Festlegung der für Bezieher von ALG II und Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII maximal als angemessen anerkannten Wohnflächenzahlen der Stadt Neumünster geäußert.

Die Stadt Neumünster hat in ihrer kommunalen Unterkunftssatzung nach §§ 22a ff. SGB II in Abweichung von den Förderungsgrenzen im sozialen Wohnungsbau für alle Bedarfsgemeinschaftsgrößen eine um 5 Quadratmeter reduzierte Wohnungsgröße für abstrakt angemessen erklärt. So werden etwa für einen Einpersonenhaushalt anstatt 50 nur 45 Quadratmeter und für einen Zweipersonenhaushalt anstatt 60 nur 55 Quadratmeter anerkannt und aus diesen Flächenzahlen die maximal anzuerkennenden Mietobergrenzen errechnet.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht hat nun Zweifel daran geäußert, ob diese Festlegungen der Stadt Neumünster auf einem schlüssigen und nachvollziehbaren Berechnungskonzept beruhen. Die Stadt Neumünster habe nämlich zwar die Häufigkeit von Wohnungsgrößen im Stadtgebiet nach Quadratmetern genau erfasst. Sie habe diese Zahlen aber nicht in eine sachliche Beziehung zu der durchschnittlichen Belegung der verschiedenen Wohnungsgrößen gesetzt. Im Verfahren zur Erstellung des Satzungskonzeptes habe es offenbar Vorüberlegungen gegeben, die Abweichung von den Fördergrenzen im öffentlich geförderten Sozialen Wohnungsbau mit der überdurchschnittlich hohen Zahl kleinerer Wohnungen in Neumünster zu rechtfertigen. Dieser Ansatz finde aber im Satzungskonzept keine Erwähnung mehr. Dies – so vermutet das Gericht – könne ein Zeichen dafür sein, dass dieser Ansatz sich nicht tragfähig begründen ließ.

Im Ergebnis wurde das Jobcenter Neumünster einstweilen verpflichtet, der Beschwerdeführerin für ihren Zweipersonenhaushalt Leistungen für die Unterkunft für eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 60 anstatt 55 Quadratmetern und damit 364,80 € brutto-kalt zu bewilligen.

Bevollmächtigter in diesem Verfahren war Herr Rechtsanwalt Bernd Petersen aus Neumünster.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14.07.2015, L 6 AS 41/15 B ER


Ablehnung eines Beratungshilfeantrags erfordert förmliche Entscheidung

Logo BVerfGWird einem Antrag auf anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz nicht in vollem Umfang entsprochen, muss hierüber grundsätzlich förmlich entschieden werden. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit am 3. Juni 2015 veröffentlichtem Beschluss bekräftigt. Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG genügt es nicht, wenn das Amtsgericht den Beratungshilfeantrag nach Erteilung mündlicher Hinweise durch den Rechtspfleger als erledigt erachtet, obwohl ausdrücklich eine anwaltliche Beratung gewünscht war. Zudem überdehnt die Verweisung auf die Beratungsstelle der Behörde, gegen die Widerspruch eingelegt werden soll, den Begriff der „Zumutbarkeit“ vorrangiger anderer Hilfsmöglichkeiten. Einer Verfassungsbeschwerde hat die Kammer stattgegeben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin beantragte beim Amtsgericht einen Berechtigungsschein für eine anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz. Ihr Antrag auf Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung war abgelehnt worden; hiergegen wollte sie – mit anwaltlicher Hilfe – Widerspruch einlegen. Der Rechtspfleger beim Amtsgericht wies die Beschwerdeführerin mündlich darauf hin, dass sie Widerspruch bei der Rentenversicherung einlegen oder sich an die Auskunfts- und Beratungsstelle der Rentenversicherung wenden könne. Er stellte weder einen Berechtigungsschein aus noch beschied er den Antrag förmlich.

Die Beschwerdeführerin legte hiergegen „Erinnerung, hilfsweise Beschwerde“ beim Amtsgericht ein, mit der sie konkret darlegte, aus welchen Gründen sie Widerspruch erheben wolle und aufgrund welcher Erkrankungen sie nicht in der Lage sei, das Widerspruchsverfahren ohne anwalt­lichen Beistand zu betreiben. Die Richterin beim Amtsgericht wies die Erinnerung mit Beschluss vom 10. Juni 2011 zurück. Die Beratungshilfe sei nicht abgelehnt, sondern durch die Hinweise des Rechtspflegers gewährt worden. Die Sache sei damit erledigt; die Bescheidung einer Ablehnung komme daher nicht in Betracht.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Der Beschluss des Amtsgerichts vom 10. Juni 2011 verstößt gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit.

  1. Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht kann hier nur dann eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtswahrnehmungsgleichheit beruhen. Die Fachgerichte überschreiten ihren Entscheidungsspielraum erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Dabei müssen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen und insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder diese selbst geltend machen können.
  2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts nicht. Das Amtsgericht hätte den beantragten Berechtigungsschein erteilen müssen.
  3. a) Das Amtsgericht durfte nicht davon ausgehen, dass sich das Beratungshilfebegehren aufgrund der Hinweise des Rechtspflegers erledigt hat, da die Beschwerdeführerin ausdrücklich einen Beratungshilfeschein für die Konsultation eines Rechtsanwalts beantragt hatte.
  4. b) Zudem wird der Verweis auf Selbsthilfe dem Anspruch der Beschwerdeführerin auf Rechtsschutzgleichheit nicht gerecht. Aufgrund des mit der Erinnerung von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Sachverhalts war hinreichend deutlich, dass das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren tatsächliche und rechtliche Fragen aufwirft, für deren Klärung auch ein kostenbewusster solventer Rechtsuchender einen Rechtsanwalt in Anspruch nähme anstatt selbst Widerspruch zu erheben.
  5. c) Auch soweit das Amtsgericht es für zumutbar erachtet hat, die Beratungsstelle des Rentenversicherungsträgers in Anspruch zu nehmen, wird die Rechtsschutzgleichheit der Beschwerdeführerin verletzt. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat, wird der Begriff der Zumutbarkeit von den Fachgerichten überdehnt, wenn ein Rechtsuchender für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet.
  6. d) Da sich der Beratungshilfeantrag nicht durch die Erteilung der Hinweise erledigt hat, hätte der Rechtspfleger über ihn entscheiden müssen. Die hiervon abweichende Vorgehensweise des Rechtspflegers erschwert ohne erkennbaren Sachgrund den Zugang der Beschwerdeführerin zu Rechtsberatung für das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren. Sie erschwert auch generell die Durchsetzung des Anspruchs auf Beratungshilfe, weil ein vor Bewilligung von Beratungshilfe in der Regel noch nicht anwaltlich vertretener Antragsteller mangels eines mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Beschlusses nicht ohne weiteres weiß, dass und wie er gegen die Versagung der Beratungshilfe vorgehen kann.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 38/2015 vom 3. Juni 2015

Die Entscheidung im Volltext findet sich hier: Beschluss vom 29. April 2015, 1 BvR 1849/11


Streit um SGB-II-Sanktionen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Berlin: (hib/HAU) Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag sprach sich eine Mehrheit der geladenen Experten für die Beibehaltung von Sanktionsmöglichkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) aus. Vertreter aus dem Bereich der Wirtschaft nannten das System der Sanktionen ausgewogen. Auch Landkreistag und Städtetag sprachen sich – ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) – gegen eine generelle Abschaffung oder ein Moratorium der Sanktionen aus, wie es die Fraktionen Die Linke (18/3549, 18/1115) und Bündnis 90/Die Grünen (18/1963) in Anträgen gefordert hatten. Eine klare Ablehnung der Sanktionsregelungen kam von der Diakonie Deutschland. Den Rest des Beitrags lesen »


Darum Poststreik

poststreik-infoblatt


ALG II für EU-Bürger bei tatsächlicher Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt

Kurt F. Domnik / pixelio.de

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Mit Beschluss vom 04.02.2015 hat das SG Lübeck zum Aktenzeichen S 42 AS 1376/14 entschieden, dass einer EU-Bürgerin aus Ungarn im Rahmen einer Folgenabwägung entgegen der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorläufig ALG II zu gewähren ist, soweit eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt besteht, etwa weil bereits eine Beschäftigung in Deutschland ausgeübt wurde, weiter nach Arbeit gesucht wird und begründete Aussicht besteht, wieder eine Arbeit zu finden. Da der Beschluss die aktuelle Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts gut darstellt, stelle ich ihn hier als Download zur Verfügung.


Auch im Kreis Rendsburg-Eckernförde gilt: Bei Sanktion eines Familienmitglieds volle Unterkunftskosten für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Fällt der Mietkostenanteil für ein Mitglied einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft aufgrund einer Sanktionierung weg, so ist dessen Mietanteil als notwendige Kosten der Unterkunft bei den anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft vom Jobcenter anzuerkennen. Dies ist inzwischen Rechtsprechung beider mit dem SGB II befasster Senate des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 23.05.2013, B 4 AS 67/12 R; BSG, Urteil vom 02.12.2014, B 14 AS 50/13).

Sonderrechtszone Kreis Rendsburg-Eckernförde?

Allein, das Jobcenter im Kreis Rendsburg-Eckernförde mochte dem BSG nicht folgen und hielt sich in einem aktuellen Fall lieber an eine Entscheidung der 25. Kammer des Sozialgerichts Schleswig. Die 25. Kammer am Sozialgericht Schleswig war der Rechtsprechung des BSG tatsächlich mit einer Entscheidung vom 10.04.2014 zum Aktenzeichen S 25 AS 33/14 ER unter Berufung auf eine Entscheidung des LSG Sachsen-Anhalt vom 30.01.2013 zum Aktenzeichen L 5 AS 370/10 ausdrücklich entgegengetreten und hatte entschieden, dass das „System des SGB II“ es gerade nicht zulasse, „dass faktisch Unterkunftskosten für Dritte geltend gemacht werden.“ Es ist das gute Recht eines Richters an einem Sozialgericht, gegen die Rechtsprechung des BSG zu entscheiden. Ob es indessen ein Ausweis guter juristischer Handwerkskunst ist, wenn ein Gericht sich auf ein Urteil beruft, welches zeitlich vor der anderslautenden Entscheidung eines obersten Bundesgerichts liegt (und zudem, allerdings erst später, von eben diesem aufgehoben wurde), mag der Leser selbst beurteilen. Rechtlich schlicht nicht mehr vertretbar (instruktiv Groth, Einstweiliger Rechtsschutz in Streitigkeiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende, NJW 2007, 2294 ff.) und im Grunde eine Ungehörigkeit ist es, für das Antragsverfahren noch nicht einmal Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Dass eine deutsche Behörde sich allerdings nicht an Recht und Gesetz in der Auslegung der höchsten deutschen Gerichte orientiert, ist nicht angängig. Denn das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde weiß, dass – beschreiten denn dessen „Kunden“ den Rechtsweg durch die Instanzen – seine Entscheidungen in diesem Fall zuletzt als rechtswidrig aufgehoben werden. Damit handelt das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde offenbar bewusst rechtswidrig und man darf vermuten: Nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sich die Betroffenen nicht auf dem Rechtswege zur Wehr setzen.

Beschluss SG Schleswig vom 6. Mai 2015, S 9 AS 69/15 ER

Mit Beschluss vom 06.05.2015 hat die 9. Kammer am SG Schleswig im Verfahren S 9 AS 69/15 ER in einem aktuellen Eilverfahren nun entschieden, dass den nicht sanktionieren Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft Unterkunftskosten auch in Höhe des sanktionsbedingt wegfallenden Kostenanteils zustehen. Es bleibt zu hoffen, dass das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde zukünftig nicht mehr davon spricht, das Sozialgericht Schleswig folge in dieser Rechtsfrage „kammerübergreifend“ nicht dem BSG.

Hinweise für Betroffene

Beziehern von ALG II im Kreis Rendsburg-Eckernförde ist dringend zu raten, Bescheide des Jobcenters im Kreis Rendsburg-Eckernförde stets gründlich zu prüfen. Vor allem sollten sich Betroffene nicht davon beeindrucken lassen, wenn ihnen von Seiten des Jobcenters gesagt wird, die Gerichte bestätigten die Rechtsansicht der Behörde. Zuletzt sollten auch Entscheidungen bestimmter Kammern am SG Schleswig stets gründlich geprüft werden und – soweit diese offensichtlich mit dem Recht nicht übereinstimmen – gegen diese Entscheidungen ins Rechtsmittel gegangen werden, soweit dieses gegeben ist.

Hinweise aus aktuellem Anlass

Die 15. Kammer am Sozialgericht Gotha hat zudem nach einer Medieninformation mit Beschluss vom 26.05.2015 nach Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m. § 80 BVerfGG beschlossen, das Klageverfahren SG Gotha zum Aktenzeichen 15 AS 5157/14 auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob die Sanktionsparagraphen des SGB II mit dem Grundrecht auf die Sicherung des Existenzminimums vereinbar sind. „Die Klage wird nun an das Bundesverfassungsgericht geleitet, so ein Prozessbeobachter. „Damit wird dem Bundesverfassungsgericht erstmals diese Frage von einem Sozialgericht vorgelegt“, sagte nach Angaben von gegen-hartz.de ein Sprecher des Gerichts.

Bejaht das BVerfG einen Verfassungsverstoß, so erklärt es das Gesetz für gewöhnlich gemäß §§ 82 Abs. 1, 78 BVerfGG für nichtig. Die Nichtigerklärung wirkt ex tunc, d.h. das Gesetz ist von Anfang an nichtig mit der Folge, dass Gerichte in laufenden Klageverfahren Sanktionen ab dem Tag der Entscheidung des BVerfG für rechtswidrig erklären müssen.

Das BVerfG kann aber auch lediglich die Unvereinbarkeit der Norm mit dem GG feststellen mit der Folge, dass diese nicht mehr angewendet werden darf und eine Neuregelung durch den Gesetzgeber abzuwarten ist (dies gilt insbesondere, wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, insbesondere bei Verstößen gegen Art. 3 GG). In diesem Fall hätte auch eine im Sinne der Leistungsberechtigten positive Entscheidung des BVerfG keine Auswirkungen auf bereits verhängte Sanktionen und laufende Widerspruchs- und Klageverfahren.

Vor dem Hintergrund des Vorlagebeschlusses des SG Gotha ist sanktionsbetroffenen Leistungsberechtigen zu raten, in Widerspruchsverfahren gegen Sanktions- bzw. Minderungsbescheide das Ruhen des Widerspruchsverfahrens und in anhängigen Klageverfahren das Ruhen des Klageverfahrens nach § 202 SGG i.V.m. § 251 ZPO zu beantragen, da eine Nichtigerklärung durch das BVerfG jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Handlungsanweisungen des Kreises Stormarn zu den Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II und § 35 SGB XII

Sybille Kambeck / janefire.de

Sybille Kambeck / janefire.de

Der Kreis Stormarn hat aufgrund der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts sowie der hierauf beruhenden Kritik des Bürgerbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein seine Bearbeitungshinweise zu den Kosten der Unterkunft für ALG II-Bezieher und Bezieher von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII geändert. Ersatzlos gestrichen wurden die Sonderregelungen für unter 25jährige, die weiteren Änderungen sind eher redaktioneller Natur. Der Kreis Stormarn erkennt die Werte der Wohngeldtabelle zuzüglich 10 % Sicherheitszuschlag als angemessen an. Der Beschluss sowie die Bearbeitungshinweise einschließlich der Anhaltswerte (Mietobergrenzen) finden sich hier:

Bearbeitungshinweise zu § 35 SGB XII (§ 22 SGB II), Nr. 2 vom 05.05.2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Übernahme von Tilgungsraten bei selbstgenutztem Wohneigentum: Bei rund 77 % Tilgung ist die Finanzierung „weitgehend abgeschlossen“

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Mit Beschluss vom 14.10.2014 hat die 2. Kammer am Sozialgericht Schleswig zum Aktenzeichen S 2 AS 135/14 ER das Jobcenter Kreis Schleswig-Flensburg verpflichtet, auch die Tilgungsraten eines Darlehens zur Finanzierung des selbstgenutzten Wohneigentums einer Bezieherin von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) zu übernehmen.

Leitsätze des Verfassers:

1. Die Finanzierung des selbstgenutztem Wohneigentums ist bereits weitgehend abgeschlossen, wenn 77,07 % der Gesamtdarlehenssumme getilgt sind.

2. Der konkret drohende Verlust des Wohneigentums ist als erfüllt anzusehen, wenn dieser allein dadurch abgewendet wird, dass der Leistungsberechtigte die Tilgungsraten zweckwidrig aus seinem Regelsatz bestreitet.

SG Schleswig, Beschluss vom 14.10.2014, S 2 AS 135/14 ER (rechtskräftig)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kiel: Gescheiterte Politik beim sozialen Wohnungsbau

Wappen KielDie sozial Schwachen bleiben auf der Strecke: Der Verkauf kommunaler Wohnungsbaugesellschaften hat den Mangel an Sozialwohnungen massiv verschärft, wie das Beispiel Kiel zeigt. Mehr hier: NDR, Gescheiterte Politik beim sozialen Wohnungsbau.


Kein Anspruch auf Zusicherung der Erforderlichkeit eines Umzuges vorab

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Sowohl für Bezieher von Leistungen der Grundsicherung im Alter als auch für Hartz IV-Empfängern ist es vor einem Umzug wichtig zu wissen, ob der Grundsicherungsträger die „Erforderlichkeit“ eines Umzuges bejaht. Ein ALG II-Bezieher läuft andernfalls Gefahr, dass nach einem Umzug nur seine bisherige Miete übernommen wird (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Für beide Empfängergruppen hängt zudem der Anspruch auf Übernahme von Umzugskosten und Mietkaution von der Notwendigkeit des Umzuges ab (§ 22 Abs. 6 SGB II; § 35 Abs. 3 SGB XII).

Das Gesetz sieht vor, dass die Zusicherung erst zu einem konkreten Miet- beziehungsweise Umzugsangebot erteilt werden soll. Da die Prüfung der Notwendigkeit eines Umzuges durch den Grundsicherungsträger bisweilen langwierig sein kann, besteht die Gefahr, dass die Wohnung bis zu einer Entscheidung der Behörde bereits an einen anderen Mietinteressenten vergeben worden ist.

Verneint der Grundsicherungsträger die Zusicherung, bleibt nur die Inanspruchnahme sozialgerichtlichen Eilrechtsschutzes, der letztinstanzlich häufig nicht innerhalb der Frist abgeschlossen werden kann, für den der Vermieter dem Leistungsberechtigten die Wohnung reserviert hat bzw. innerhalb derer Umzugskosten entstanden sind.

Dessen ungeachtet hat der Sozialhilfesenat des Bundessozialgerichts mit Urteil vom 17.12.2014 zum Aktenzeichen B 8 SO 15/13 R entschieden, dass auf die behördliche bzw. gerichtliche Vorabklärung einzelner Anspruchselemente – hier die grundsätzliche „Erforderlichkeit“ des Umzuges – in einem gesonderten Zusicherungsverfahren kein Rechtsanspruch besteht. Effektiven Rechtsschutz gewährleiste in diesen Fällen im Streitfall allein der einstweilige Rechtsschutz vor den Sozialgerichten.

Hinweise für Betroffene

Die Frage des Bestehens einen Umzugsgrundes sollten Betroffene rechtzeitig vor einem Umzug mit dem Grundsicherungsträger klären. Überzeugt sich der Grundsicherungsträger von dem Vorliegen der Erforderlichkeit eines Umzugs, wird er dies – im Regelfall auch schriftlich – mitteilen und der Umzugswillige wird sich auf diese Aussage verlassen können. Ob es sich dabei um eine rechtsverbindliche „Zusicherung“ im Sinne von § 34 SGB X handelt oder nicht, dürfte im Regelfall für den Leistungsberechtigten gänzlich unerheblich sein, denn kein Grundsicherungsträger wird sein Einvernehmen über die Erforderlichkeit eines Umzuges erklären und später ein Miet- oder Umzugskostenangebot mit der Begründung ablehnen, er halte den Umzug nun auf einmal nicht mehr für notwendig.

Bringt der Grundsicherungsträger vorzeitig zum Ausdruck, dass er sich von der Notwenigkeit eines Umzugs nicht zu überzeugen vermag, sollte mit dem Grundsicherungsträger rechtzeitig folgendes Vorgehen besprochen werden:

  • Der Leistungsberechtigte legt ein Mietangebot umgehend beim Grundsicherungsträger vor.
  • Der Grundsicherungsträger lehnt dieses Angebot umgehend noch am selben Tag ab bzw. lässt die gesetzte Frist (einen Werktag) verstreichen.
  • Nach Ablehnung bzw. Fristablauf stellt der Leistungsberechtigte umgehend einen Eilantrag beim zuständigen Sozialgericht. Wichtig ist es dabei, dem Gericht mitzuteilen, bis wann die Wohnung für den Antragsteller freigehalten wird. Denn wird die Wohnung an andere Mietinteressenten vergeben, hat sich das Eilverfahren erledigt. Nach meinen Erfahrungen bemühen sich die Sozialgerichte, innerhalb der Reservierungsfristen zu entscheiden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kreis Stormarn ändert rechtswidrige Dienstanweisung für Kosten der Unterkunft – Bürger sollten Bescheide überprüfen lassen

ltsh_logoKiel (SHL) – Der Sozialausschuss des Kreises Stormarn hat am vergangenen Dienstag (26. Mai) eine neue Dienstanweisung für die Kosten der Unterkunft und Heizung von SGB II- und SGB XII-Empfängern beschlossen. „Wir haben gute Gespräche mit dem Landrat und der Fachdienstleitung geführt und sind nun zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen. Betroffene rufe ich auf, ihre Bescheide überprüfen zu lassen“, sagte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samiah El Samadoni, heute in Kiel, die sich beim Kreis für die Änderung eingesetzt hatte.

„Namentlich betrifft dies nicht nur Hartz IV- und Grundsicherungsempfänger, sondern unter anderem auch Leistungen der Eingliederungshilfe, der Hilfe zur Pflege, genauso wie die Übernahme von Bestattungskosten und die Gebührenermäßigung oder -befreiung für Kindertagesstätten“, so die Bürgerbeauftragte. Alle Betroffenen, deren Unterkunftskosten nicht vollständig bei den Berechnungen berücksichtigt wurden, „rufe ich daher dazu auf, ihre Bescheide überprüfen zu lassen“.

Bürger könnten sich mit einem sogenannten „Überprüfungsantrag“ entweder direkt an den Kreis wenden oder sich zunächst kostenlos bei der Bürgerbeauftragten beraten lassen. Die Überprüfung könne rückwirkend für Bescheide bis zum 1. Januar 2014 erfolgen. Für eine fünfköpfige Familie aus Ahrensburg könnten dies zum Beispiel 59,70 Euro pro Monat bedeuten. „Viel Geld – wenn man auf jeden Cent zum Leben angewiesen ist“, sagt El Samadoni.

Hintergrund:

Das Sozialgericht Lübeck (S 29 AS 1026/12 ER) hatte bereits 2012 festgestellt, dass der Kreis Stormarn kein schlüssiges Konzept für die Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II bzw. § 35 SGB XII besitzt und die durch den Sozialausschuss im Jahre 2010 beschlossenen Richtwerte daher nicht mehr anzuwenden sind. Die Rechtsprechung sieht für den Fall des Fehlens eines schlüssigen Konzeptes vor, dass in solch einem Fall die Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitsaufschlages in Höhe von 10 Prozent gelten soll. Der Kreis hatte jedoch die alten Richtwerte in seiner Dienstanweisung weiterhin als die „angemessenen“ Unterkunftskosten bezeichnet, von denen nur „im Einzelfall“ abzuweichen sei. Der Bürgerbeauftragten lagen Fälle vor, in denen SGB II- und SGB XII-Leistungsberechtigte zu wenig Geld bekommen hatten.

Quelle: http://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb/Pressemitteilungen.html


Wann ein Widerspruchsverfahren „erfolgreich“ ist

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, aus welchen Gründen ein Widerspruch erfolgreich gewesen ist. Erfolgreich ist ein Widerspruch im Sinne des § 63 SGB X jedoch regelmäßig nur dann, wenn er auch ursächlich für die abhelfende Entscheidung ist. Dies ist nach der Rechtsprechung in der Regel dann nicht der Fall, wenn die abhelfende Entscheidung etwa auf der Nachholung von Mitwirkungspflichten oder veränderten Tatsachen beruht.

Mitwirkungspflicht muss überhaupt bestehen

Die die Kostenfolge des § 63 SGB X ausschließende Nachholung einer Mitwirkungshandlung setzt zunächst voraus, dass eine entsprechende Mitwirkungsverpflichtung überhaupt besteht.

Mitwirkungspflichten nach § 60 SGB I

Welche Mitwirkungspflichten bestehen, ergibt sich im Wesentlichen aus § 60 SGB I. Danach besteht insbesondere die Pflicht, alle leistungserheblichen Tatsachen und alle diesbezüglich erfolgenden Änderungen mitzuteilen. Die leistungserheblichen Angaben sind dabei grundsätzlich mit den in den entsprechenden Antragsformularen abgefragten Sachverhalten identisch.

Weitergehende Mitwirkungspflichten nur nach ausdrücklicher Aufforderung

Weitergehende Mitwirkungspflichten bestehen nur insoweit, als die Behörde den Leistungsbezieher hierzu ausdrücklich auffordert. Dies gilt auch dann, wenn die Behörde das Fortbestehen bestimmter Umstände – etwa gesundheitlicher Einschränkungen – überprüfen will, denn ohne eine solche Aufforderung sieht das Gesetz keine Verpflichtung vor, unveränderte Tatsachen in bestimmten Abständen erneut durch entsprechende Nachweise zu belegen. Es besteht dann ein Spannungsfeld zwischen Mitwirkung (§§ 60 ff. SGB 1) und Amtsermittlung (§ 20 SGB X). Will die Behörde eine grundsätzlich bekannte und in der Vergangenheit bereits belegte Tatsache auf ihr Fortbestehen überprüfen, muss sie dies von Amts wegen selbst ermitteln. Benötigt sie dafür die Mitwirkung des Betroffenen (z.B. weil sie aus Gründen der Schweigepflicht keinen Zugang zu medizinischen Unterlagen erhält), muss sie diesen individuell und konkret hierzu auffordern.

Kostensenkungsaufforderung ist im Einzelfall individuell zu formulieren

Kostensenkungsaufforderungen des Jobcenters Kiel enthalten zwar alle für den Standardfall erforderlichen Angaben. Sie forderte die Kläger im konkreten Fall aber nicht auf, neue Nachweise über ihre gesundheitliche Situation vorzulegen. Dies wäre jedoch aufgrund der Umstände des konkreten Einzelfalles erforderlich gewesen, da gerade hierauf das bisherige Absehen von einer Kostensenkung beruhte. Insofern reicht auch der allgemeine Hinweis auf die Benennung von Gründen für eine Unzumutbarkeit des Umzugs nicht aus, wenn konkrete Gründe bislang für eine Unzumutbarkeit als ausreichend angesehen worden sind. Denn wenn der Behörde ein derart konkreter Sachverhalt bekannt ist, muss sie diesen auch konkret im Rahmen der bestehenden Pflicht zur Amtsermittlung überprüfen und kann dies nicht durch einen pauschalen Hinweis auf den Leistungsbezieher abwälzen. Ein solcher allgemeiner Hinweis ist allenfalls dann ausreichend, wenn für die Behörde nach Aktenlage keinerlei Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit des Umzuges bestehen.

Ergebnis

Da die Klägerin in diesem Fall schon keine Mitwirkungspflichten trafen, konnten diese auch nicht erst im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden mit der Folge, dass das Widerspruchsverfahren aufgrund des Widerspruches erfolgreich war und das Jobcenter Kiel die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu tragen hatte.

SG Kiel, Urteil vom 30.04.2015, S 36 AS 1459/13

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Doppelmieten: Konsequent rechtswidriges Verwaltungshandeln seit nunmehr 10 Jahren

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Bereits mehrfach hatte ich an dieser Stelle Gerichtsentscheidungen veröffentlicht, die ALG II-Empfängern bei einem Umzug Leistungen für Doppelmieten (sog. Überschneidungskosten) zugesprochen haben. Allein in den letzten Tagen konnte ich mich mehrfach davon überzeugen, dass die Jobcenter auch im 10. Jahr von „Hartz IV“ und trotz zahlloser Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema praktisch nichts dazugelernt haben.

Drei Beispiele aus den letzten Tagen

Mit Bescheid vom 27.04.2015 lehnte das Jobcenter Kiel die Übernahme von Doppelmieten für einen Monat mit folgender Begründung ab:

„Des Weiteren beantragen Sie nachträglich die Übernahme der Miete für den Monat August 2014 für die Wohnung „(…) Kiel“. Eine Miete wird durch das Jobcenter nur für bewohnten Wohnraum gezahlt. Bei einem Umzug müssen die Kündigungsfristen beachtet und eingehalten werden. Sie sind bereits zum 01.08.2015 in die Wohnung „(…) Kiel“ gezogen. Eine Doppelmiete kann grundsätzlich übernommen werden, wenn z.B. eine Arbeitsaufnahme vorliegt oder bei einem durch das Jobcenter veranlassten Umzug. Diese Ausnahmen treffen in Ihrem Fall nicht zu. Daher wird Ihr Antrag auf Übernahme der Doppelmieten abgelehnt.“

Einmal abgesehen davon, dass die vom Jobcenter Kiel benannten angeblichen Voraussetzungen für die Übernahme von Doppelmieten frei erfunden sind, ist an diesem Fall besonders pikant, dass die Behörde selbst durch die verschleppte Bearbeitung eines Antrages auf die Übernahme von Umzugskosten – sie benötige hierfür 19 Tage – die Entstehung von Überschneidungskosten für den Monat August 2014 selbst verschuldet hatte, denn die Leistungsberechtigten mussten bei ihrem Auszug gar keine Kündigungsfristen einhalten.

Etwas knapper hält sich etwa das Jobcenter Plön in einem Aktenvermerk vom 08.05.2014, den ich am 23.04.2015 einsehen konnte. Aus diesem ergibt sich, dass die „Kundin“ der Jobcenters wie folgt über ihre (vermeintlichen) Rechte „belehrt“ wurde:

„Übernahme einer Doppelmiete ist nicht möglich, muss den Umzug so gestalten, dass diese nicht anfällt.“

In der heutigen Beratung schilderte mit eine Mandantin glaubhaft, dass über rund zwei Jahre alle von ihr vorgelegten Mietangebote vom Jobcenter Kiel mit der Begründung zurückgewiesen worden sind, die Zusicherung der Kosten einer neuen Unterkunft könnten erst nach Kündigung der bisherigen Wohnung erteilt werden. Man mag das alles kaum glauben, denn natürlich ist das genaue Gegenteil der Fall: Im Interesse der Vermeidung von Obdachlosigkeit darf die alte Wohnung grundsätzlich erst gekündigt werden, wenn der Mietvertrag für die neue Unterkunft unterschrieben ist.

SG Kiel, Urteil vom 09.05.2014, S 33 AS 613/11

Diese Erfahrungen meiner Mandanten sind Grund genug, auf dieser Webseite ein Urteil des SG Kiel vom 09.05.2014 (S 33 AS 613/11) zu veröffentlichen, in dem das Gericht zu der Frage der Übernahmefähigkeit von doppelten Mietaufwendungen (als Unterkunftskosten) u.a. ausgeführt hat (Seite 7 ff):

„Bei den im Streit stehenden doppelten Mietaufwendungen für den Monat Dezember 2008 handelt es sich weiterhin um angemessene Kosten für Unterkunft und Heizung im Sinne des § 22 Abs.1 S.1 SGB II. Bereits unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes war anerkannt, dass bei einem Umzug entstehende unvermeidbare doppelte Mietaufwendungen von dem Sozialhilfeträger zu übernehmen sind (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. Juni 1999, Az. 7 S 458/99— zitiert nach JURIS). Nichts anderes gilt nach Inkrafttreten des SGB II (vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31. Januar 2013, Az. L 34 AS 721/11; Bayerisches LSG, Urteil vom 26. Oktober 2010, Az. L 7 AS 99/06— beide zitiert nach JURIS).

Nicht abschließend geklärt ist dabei bislang, ob es sich bei den umzugsbedingten Doppelmieten um Wohnungsbeschaffungskosten im Sinne von § 22 Abs. 3 SGB II oder aber um Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs.1 SGB II handelt. Die Kammer schließt sich insoweit der Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg (aaO) an, wonach Kosten der Unterkunft und Heizung im Sinne des § 22 Abs.1 SGB 11 vorliegen. Zu Wohnungsbeschaffungskosten hat das BSG in seinen Urteilen vom 16. Dezember 2008 (Az. B 4 AS 49/07 R) und vom 18. Februar 2010 (Az. B 4 AS 28/09 R) ausgeführt, dass die Begriffe „Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten“ zwar weit auszulegen seien, ihre Begrenzung jedoch im Wortlaut fänden. Wohnungsbeschaffungskosten seien deshalb nur solche Aufwendungen, die mit dem Finden und Anmieten der Wohnung verbunden sind. Bei einer doppelten Mietzahlung handelt es sich jedoch unzweifelhaft nicht um Kosten, die mit dem Finden und Beschaffen der neuen Wohnung verbunden sind. Sie sind vielmehr Folgekosten des früheren Mietverhältnisses und als solche gegebenenfalls nach § 22 Abs. 1 S.1 SGB II zu berücksichtigen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, aaO, BSG Urteil vom 23. Mai 2012 Az B 14 AS 133/11 R – zitiert nach JURIS). Die Frage der Angemessenheit der Unterkunftskosten kann sich in dieser Situation grundsätzlich nicht an ihrer Höhe orientieren. Angemessen sind die Kosten für die nicht mehr bewohnte Wohnung vielmehr dann, wenn und solange sie unvermeidbar waren. Hierfür kann keine allgemeine Frist bestimmt werden; vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen, wobei allerdings die absolute Höchstgrenze in der für das bisherige Mietverhältnis geltenden Kündigungsfrist zu sehen sein dürfte. In diesem Zusammenhang ist unter Berücksichtigung des Wohnungsmarktes zu würdigen, ob dieser sich für die konkrete Bedarfsgemeinschaft als überdurchschnittlich eng darstellt (LSG Berlin-Brandenburg, aaO).

Dies zugrunde gelegt ist die Kammer unter Berücksichtigung des Akteninhalts und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung der Überzeugung, dass die Doppelmiete im Monat Dezember 2008 für den Kläger nicht vermeidbar gewesen ist. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass entgegen der vom Beklagten geäußerten Rechtsauffassung (insbesondere Vermerk vom 5. Juni 2008, Bescheide vom 9. April 2009 sowie 11. August 2009) für die Angemessenheit umzugsbedingt anfallender Doppelmieten in zeitlicher Hinsicht nicht darauf abgestellt werden, dass derartige Kosten generell zu vermeiden sind oder hier eine starre Frist zugrunde zu legen wäre. Die Kammer sieht in diesem zu beurteilenden Einzelfall nicht, dass es dem Kläger und seiner Bedarfsgemeinschaft, darunter zwei Kinder im Alter von damals sechs und zwei Jahren, objektiv möglich gewesen wäre, Überschneidungskosten völlig zu vermeiden, d.h. dass die vierköpfige Familie in angemessener Zeit eine Unterkunft hätten anmieten können, ohne zur Zahlung der Mieten für zwei Wohnungen verpflichtet zu sein. Die Kammer hält es mit Blick auf diese konkrete Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaft nicht für ohne weiteres zumutbar, die Anmietung einer neuen Wohnung so zu organisieren und einzurichten, dass keine doppelten Mieten anfallen. Da es unter Berücksichtigung des Wohnungsmarktes im Allgemeinen nur in Ausnahmefällen gelingt, eine neue Wohnung bereits so frühzeitig anzumieten, dass trotz erst danach erfolgender Kündigung des alten Mietverhältnisses keine Doppelmieten anfallen, stellt sich zunächst die Frage, ob dies gerade Leistungsberechtigten, denen ohnehin nur ein Teil des Wohnungsmarktes offen steht, möglich ist. Es ist nämlich zu beachten, dass bei dem Versuch, Überschneidungszeiträume gänzlich zu vermeiden, den Leistungsempfängern ein noch kleineres, freies Wohnungsmarktsegment offen steht. Der Beklagte weist in seinem Kostensenkungsschreiben vom 4. Februar 2008 selbst daraufhin, dass der Wohnungsmarkt im unteren Segment sehr angespannt ist. Dies gilt umso mehr, je größer der benötigte Wohnraum wird, d.h. je mehr Zimmer benötigt werden und wenn insbesondere neben den allgemeinen Faktoren der Wohnungsgröße und der Mietkosten noch das zusätzliche Kriterium des möglichst späten Anmietzeitpunkts hinzutritt. Ferner ist zu beachten, dass die vormals inne gehabte Wohnung – besonders in den Kinderzimmern – verschimmelt war, so dass ein rascher Auszug nötig wurde (was den Beklagten offenkundig auch zu seiner Zusicherung bewog). Auch ein Umzug mit kleinen Kindern lässt sich – anders als der mit älteren Kindern oder erwachsenen Personen – nicht ohne Weiteres ohne zeitliche Verzögerung organisieren und durchführen. Bei dieser konkreten Sachlage steht die Kammer auf dem Standpunkt, dass es der Bedarfsgemeinschaft des Klägers mit zwei kleinen Kindern auch nicht zumutbar gewesen ist, das bestehende Mietverhältnis in der Erwartung zu kündigen, innerhalb der dreimonatigen Kündigungsfrist angemessenen Wohnraum zu finden. Es lassen sich schließlich Anhaltspunkte dafür finden, dass der Kläger sich durch Verhandlungen mit dem neuen Vermieter um einen späteren Vertragsbeginn (offensichtlich ohne Kostenvorteil) bemüht hatte. Das Stellen eines Nachmieters kam wegen des Renovierungsbedarfs der verschimmelten Wohnung ohnehin nicht in Betracht.“

Betroffenen Leistungsbeziehern kann nur dringlichst geraten werden, sich gegen das systematisch rechtswidrige Verwaltungshandeln der Grundsicherungsträger notfalls gerichtlich zur Wehr zu setzen. Anders – dies ist die traurige Bilanz nach 10 Jahren Rechtsprechung zu diesem Thema – ist eine rechtmäßige Verwaltungspraxis offenbar nicht sicherzustellen.

Mehr zum Thema auf dieser Seite:

Doppelmieten bei Umzug: In der Regel vom Jobcenter zu übernehmen!

Zur Übernahme doppelter Mietaufwendungen bei Umzug

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Mietobergrenzen: Nichtzulassungsbeschwerden verworfen

(c) GesaD / pixelio.de

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Meine Kollegin Sabine Vollrath hat bereits am 22.04.2015 in ihrem Blog darüber berichtet, dass zwei weitere Beschwerden gegen die Nichtzulassung von Revisionen gegen Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts, welche die Berechnung der Kieler Mietobergrenzen zum Gegenstand hatten, vom BSG als unzulässig verworfen worden sind. Die Nichtzulassungsbeschwerden, von denen mir eine vorliegt, waren meines Erachtens gut begründet. Ein Revisionsverfahren hätte zur Klärung wichtiger noch offener Fragen wie etwa jener, ob tatsächlich Wohnungsgrößen von 25 bis 45 Quadratmetern bei der Berechnung der Kieler Mietobergrenzen unberücksichtigt bleiben dürfen, beitragen können. Unabhängig davon, dass nach hiesiger Einschätzung zu den aktuellen Mietobergrenzen nach der Berechnungsformel des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts in Kiel derzeit Wohnraum anzumieten ist, erscheint zweifelhaft, ob die systematisch betriebene Praxis der Nichtzulassung von Revisionen zu dieser Thematik dauerhaft zu einer Rechtsbefriedigung wird führen können.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Kein Anspruch auf Auswechselung der Integrationsfachkraft

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Immer wieder treten Mandanten im ALG II-Bezug mit der Frage an mich heran, ob ein Wechsel ihrer Integrationsfachkraft (IFK) möglich ist oder ob sie möglicherweise sogar einen Anspruch auf eine andere IFK haben. Zweifelsohne wäre es für das angestrebte Vertrauensverhältnis zwischen dem Leistungsberechtigten und seiner IFK förderlich, wenn der Leistungsberechtigte Einfluss auf die Auswahl und bei einer Störung des Vertrauensverhältnisses gegebenenfalls auch die Abberufung seiner IFK nehmen könnte. Entgegen den weitreichenden Erwartungen des Gesetzgebers an die Zuordnung nur eines persönlichen Ansprechpartners zur Sicherstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen dem Erwerbsfähigen und seiner IFK sowie einer kompetenten und effizienten Betreuung hat der Gesetzgeber allerdings auf jegliche verfahrensrechtliche Umsetzung seines Betreuungskonzeptes verzichtet. Folgerichtig hat das BSG schon früh das Recht des Leistungsberechtigten auf die Benennung eines „unbefangenen und qualifizierten persönlichen Ansprechpartners“ verneint. Aus meiner anwaltlichen Praxis kann ich allerdings berichten, dass die Jobcenter im Einzelfall aus begründetem Anlass regelmäßig über einen Austausch der IFK mit sich reden lassen.

BSG, Urteil vom 22.09.2009, B 4 AS 13/09 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


SH LSG: Keine niedrigeren Mietobergrenzen für unter 25jährige

(c) GesaD / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Mit Urteil vom vom 14.11.2014 zum Aktenzeichen L 3 AS 92/12 hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht die Rechtsauffassung von Kammern an den Sozialgerichten Kiel und Itzehoe bestätigt, wonach für unter 25jährige erwerbsfähige Leistungsberechtigte, welche aus schwerwiegenden Gründen im Sinne des § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II ihr Elternhaus verlassen, keine geringeren Mietobergrenzen gelten als für über 25jährige Leistungsberechtigte. Die Stadt Kiel hat ihre Richtlinien auf politischen Druck und trotz unsachlicher Debatte in der Kieler Ratsversammlung bereits vor einigen Monaten entsprechend angepasst, die Handlungsanweisungen etwa des Kreises Plön sind demgegenüber nach wie vor rechtswidrig.

Mehr zum Thema:

Die Bürgerbeauftragte informiert: Landessozialgericht in Schleswig erklärt speziellen Mietrichtwert für unter 25-jährige Hartz IV-Beziehende für unzulässig

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Für die Abwehr einer Stadtwerkeforderung ist Beratungshilfe zu gewähren

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Aufgrund der ganz erheblichen Probleme bei der Gewährung von Beratungshilfe, von denen aus der Anwaltschaft und von Mandanten zunehmend berichtet wird, veröffentliche ich hier ab jetzt regelmäßig die Richterbeschlüsse in Beratungshilfesachen meiner Mandanten.

In diesem Fall hatte ich über die Erfolgsaussichten der Abwehr einer Forderung der Stadtwerke Kiel nach einer Gaspreiserhöhung beraten. Eine Rechtspflegerin am AG Kiel hatte die Gewährung von Beratungshilfe mit folgender Begründung abgelehnt:

„Beratungshilfe wird gemäß § 1 Abs. 1 BerHG (nur) für die Wahrnehmung von Rechten ge­währt. Es ist nicht erkennbar, für welches Rechtsproblem hier anwaltliche Hilfe in Anspruch ge­nommen werden soll, sodass der Antrag zurückzuweisen war.
Zudem standen dem Antragsteller andere Möglichkeiten für eine Hilfe zur Verfügung (Kun­denservice des Versorgers für evtl. Nachfragen, Mieterverein), deren Inanspruchnahme dem Rechtsuchenden zuzumuten ist (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG).“

Dem Beschluss bin ich im Erinnerungswege entgegen getreten und habe darauf hingewiesen, dass es sich bei einer Beratung über die Erfolgsaussichten einer Klage wegen einer als unbillig (vgl. § 315 BGB) erachteten Gaspreiserhöhung sowie der Abwehr einer angedrohten Versorgungsunterbrechung nach §§ 30, 33 AVBGasV sehr wohl um die Wahrnehmung von „Rechten“ handelt, der Mieterverein lediglich seine Mitglieder und diese auch nur in mietrechtlichen Angelegenheiten berät sowie die Stadtwerke weder Rechtsrat erteilen dürfen noch unabhängig über die Erfolgsaussichten von gegen sie selbst angestrebte Klagen beraten werden. Alles – so sollte man eigentlich meinen – Selbstverständlichkeiten. Meiner Erinnerung hat das Amtsgericht Kiel mit Beschluss vom 14.04.2015 dann auch in der geboten Kürze stattgegeben.

Mehr zum Thema u.a. hier:

Amtsgericht Kiel verweist Rechtsuchende erneut an das Büro der Bürgerbeauftragten

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte ruft Kieler Hartz IV-Bezieher zur Überprüfung ihrer Bescheide auf

ltsh_logoKiel (SHL) ­ Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten Samiah El Samadoni empfiehlt allen Kieler Beziehern von Hartz IV und Sozialhilfe, ihre Bewilligungsbescheide zu überprüfen, sofern ihre Kosten für die Unterkunft seit dem 1. Dezember 2014 nicht vollständig übernommen worden sind. Hintergrund ist die Zustimmung der Kieler Ratsversammlung zur Anpassung der Mietobergrenzen.

,,Im Zweifel sollte ein schriftlicher Antrag auf Überprüfung aller Bewilligungsbescheide ab dem 1. Dezember 2014 nach § 44 SGB X beim zuständigen Amt gestellt werden“, sagte El Samadoni heute in Kiel. Dies gelte vor allem für jene Betroffene, die bereits aus dem Leistungsbezug ausgeschieden sind, da eine automatische Überprüfung durch die Behörde in diesen Fällen nicht stattfinde. ,,Nach Informationen des Jobcenters erfolgt die rückwirkende Anpassung der Leistungen schrittweise nur im Rahmen der laufenden Bearbeitung“, so die Bürgerbeauftragte.

Die Erhöhung der Beträge erfolgte auf Grundlage des qualifizierten Mietspiegels 2014, der am 10. November 2014 in Kraft getreten ist.

Einpersonenhaushalte: Erhöhung von 332,00 Euro auf 342,50 Euro
Zweipersonenhaushalte: Erhöhung von 398,50 Euro auf 411,00 Euro
Dreipersonenhaushalte: Erhöhung von 493,50 Euro auf 510,00 Euro
Vierpersonenhaushalte: Erhöhung von 599,50 Euro auf 628,50 Euro
Fünfpersonenhaushalte: Erhöhung von 670,00 Euro auf 702,50 Euro
Sechspersonenhaushalte: Erhöhung von 740,50 Euro auf 776,00 Euro
Siebenpersonenhaushalte: Erhöhung von 811,00 Euro auf 850,00 Euro
Jede weitere Person: Erhöhung von 70,50 Euro auf 74,00 Euro

Quelle: http://www.ltsh.de/presseticker/2015-04/16/14-28-05-0de5/


Antrag auf Beratungshilfe zur Durchsetzung einer Forderung in Höhe von 29,84 € ist nicht mutwillig

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Im Jahre 2011 wandte sich ein Rechtssuchender mit der Bitte an mich, eine Restforderung aus einem Kleiderkauf für seine Kindern in Höhe von 29,84 € gegenüber der Kindermutter geltend zu machen. Zuvor hatte der Rechtssuchende die Kindesmutter mehrfach erfolglos zur Zahlung des Restbetrages aufgefordert. Trotz des wirtschaftlichen Ungleichgewichts zwischen den Kosten der Beratungshilfe in Höhe von damals 99,96 € und der Restforderung von 29,84 € – das im Rahmen der Mandatsaufnahme auch ausführlich erörtert wurde – habe ich mich nicht zuletzt auch wegen des angespannten Verhältnisses zwischen den Eltern zur Annahme des Beratungshilfemandats entschlossen und die Forderung im Ergebnis erfolgreich für meinen Mandanten durchgesetzt. Mit Beschluss vom 28.01.2015 wies die Rechtspflegerin in der Folge den Antrag auf Gewährung von Beratungshilfe als mutwillig im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG zurück. Zur Begründung führte sie aus, Mutwilligkeit läge vor, wenn Beratungshilfe in Anspruch genommen wird, obwohl ein Rechtssuchender, der keinen Beratungshilfe beanspruchen kann, bei verständiger Würdigung aller Umstände der Rechtsangelegenheit davon absehen würde, sich auf eigene Kosten anwaltlich beraten zu lassen. Eine wirtschaftlich denkende selbstzahlende Partei nämlich würde vor dem Hintergrund der Geringfügigkeit der Forderung nicht Rechtsanwaltskosten von rund 100 € aufwenden, um sich beraten zu lassen. Dem ablehnenden Rechtspflegerbeschluss bin ich mit Erinnerung vom 02.02.2015 entgegen getreten, da die dort vertretene rein wirtschaftliche Betrachtungsweise bei Bürgern mit geringem Einkommen in ihrer Konsequenz zu einer „rechtschutzfreien Zone“ bis zum aktuellen Beratungshilfesatz von 121,38 € (bei Verlangen der Eigenbeteiligung von 15 € bis 136,38 €) führen würde.

Mutwilligkeit in der Regel erst bei unter 10 €

Mit Beschluss vom 14.04.2015 zum Aktenzeichen 7 UR II 11433/14 hat das AG Kiel meiner Erinnerung stattgegeben und zur Begründung ausgeführt:

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Beratungshilfe (§§ 1 f. BerHG) liegen vor. Insbesondere erscheint die Inanspruchnahme von Beratungshilfe (noch) nicht mutwillig. In einer Entscheidung vom 19.08.2014 (Az. 7 II 2135/14) hat das Gericht zur Frage der Mutwilligkeit bei Bagatellforderungen Folgendes ausgeführt: „Auf Antrag ist Beratungshilfe unter anderem nur dann zu bewilligen, wenn die Inanspruchnahme der Beratungshilfe nicht mutwillig erscheint. Mutwilligkeit liegt nach § 1 Abs. 3 BerHG vor, wenn Beratungshilfe in Anspruch genommen wird, obwohl ein Rechtsuchender, der keine Beratungshilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände der Rechtsangelegenheit davon absehen würde, sich auf eigene Kosten rechtlich beraten oder vertreten zu lassen. Bei der Beurteilung der Mutwilligkeit sind die Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers sowie seine besondere wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hatte bei der Regelung insbesondere den Fall möglicher Eigeninitiative im Blick (BT-Drs 17/11472, S. 37). Mutwillig ist in der Regel aber auch die Beantragung von Beratungshilfe bei einer Bagatellforderung von unter 10,- €, weil wegen des Missverhältnisses von Kosten und Nutzen ein Nichtbedürftiger auf die Konsultation eines Rechtsanwaltes verzichten würde (AG Halle, Beschluss vom 22.8.2011, Az. 103 II 1513/11).“ Bei der notwendigen individuellen Betrachtung ist die Grenze zur Mutwilligkeit hier angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerseite noch nicht erreicht.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Verwaltungsgericht gibt Klage gegen Stadt Kiel auf Einsicht in Wertgutachten statt

Wappen KielDas Verwaltungsgericht hat heute über eine Klage auf Einsichtnahme in ein Grundstückswertgutachten entschieden, das im Zusammenhang mit der Ansiedlung eines großen Einzelhandelsbetriebs in Kiel erstellt wurde.

Der Investor plant im Kieler Stadtgebiet die Ansiedlung eines großen Einzelhandelsbetriebs. Die Kieler Wirtschaftsförderungs- und Strukturentwicklungs GmbH (KiWi) hatte im Auftrag der Stadt Kiel vor Abschluss des notariellen Grundstückskaufvertrags einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen mit der Erstellung eines Grundstückswertgutachtens beauftragt. Der Investor kaufte von der Stadt das Grundstück auf Grundlage des Wertgutachtens. Der Grundstückskaufvertrag ist in einer sog. „gläsernen Akte“ im Internet einsehbar.

Im Rahmen der gläsernen Akte sind Teile des Vertrages geschwärzt. Zudem wird auf das nicht veröffentlichte Wertgutachten verwiesen. Der Kläger, eine Privatperson, möchte gestützt auf das Informationszugangsgesetz (IZG) des Landes Schleswig-Holstein das Grundstückswertgutachten einsehen. Die Stadt Kiel lehnte dies unter Berufung auf den Schutz privater Belange (Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Investors) ab.

Das Verwaltungsgericht ist dieser Argumentation in seiner heutigen Entscheidung nicht gefolgt. Nach der kurzen mündlichen Urteilsbegründung sind die geltend gemachten privaten Belange in Gestalt der Geschäftsgeheimnisse der beigeladenen Grundstücksgesellschaft nicht erkennbar, da die Kenntnis des nach objektiven Kriterien erstellten Wertgutachtens nicht den Zugang zu exklusivem kaufmännischen Wissen eröffnet, das bei Bekanntwerden die Wettbewerbsposition des Unternehmens beeinträchtigen könnte.

Gegen das Urteil kann binnen eines Monats nach Zustellung Antrag auf Zulassung der Berufung beim OVG gestellt werden (Aktenzeichen 8 A 8/14).

Verantwortlich für diese Presseinformation: Dr. Harald Alberts, Pressereferent
Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht | Brockdorff-Rantzau-Straße13 | 24837 Schleswig | Telefon 04621/86-1550 | Telefax 04621/86-1277 | E-Mail harald.alberts@ovg.landsh.de

Quelle


Verwaltungsgericht verhandelt über „Gläserne Akte“ im Zusammenhang mit der Ansiedlung eines großen Einzelhandelsgeschäfts in Kiel

Wappen KielDie 8. Kammer des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts wird am 25. März 2015 über einen Antrag auf Einsichtnahme in ein Grundstückswertgutachten entscheiden, dass im Zusammenhang mit der Ansiedlung  eines großen Einzelhandelsbetriebs  in Kiel erstellt wurde.

Pressemitteilung des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts

Mehr Infos:

Gegen Möbel Kraft-Ansiedlung in Kiel: Der Rebell von Parzelle 556

Möbel Kraft und Sconto am Westring in Kiel


Hartz IV: Auch Geld, das auf ein überzogenes Girokonto fließt, ist anzurechnen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Ein Geldbetrag, der auf ein Bankkonto des Leistungsempfängers überwiesen wird, welches mit einem Dispositionskredit belastet ist, ist trotz Verrechnung mit den Schulden durch die Bank als Einkommen zu berücksichtigen. Dies entschied das Schleswig-Holsteinische LSG in einem aktuellen Eilverfahren und hob damit die anderslautende Entscheidung des SG Kiel auf.

In dem zugrundeliegenden Fall hatte ein ALG II-Bezieher eine Abfindung über 2.000 € erhalten, die der Arbeitgeber auf das mit rund 2.400 € im Soll stehende Konto des Leistungsberechtigen überwiesen hatte. Das Jobcenter rechnete die 2.000 € als Einmalzahlung über 6 Monate in Höhe von jeweils einem Sechstel des Betrages auf dessen ALG II-Anspruch an. Rechtswidrig, entschied zunächst das Sozialgericht Kiel, denn die 2.000 € stünden dem Leistungsberechtigten durch die Verrechnung mit seinen Schulden durch die Bank schlicht nicht mehr zur Verfügung. Der ALG II-Empfänger könne auch nicht darauf verwiesen werden, seinen Lebensunterhalt dadurch zu sichern, dass er weiterhin über sein Konto einen Kredit bei seiner Bank in Anspruch nimmt.

Dieser Argumentation folgte das Schleswig-Holsteinische LSG nicht. Entscheidend sei, ob der zugewendete Betrag von 2.000 € durch den Empfänger tatsächlich nutzbar sei. Dies sei vorliegend zu bejahen, denn der Dispositionsrahmen von 2.400 € habe unverändert fortbestanden, so dass dem Leistungsberechtigten der Abfindungsbetrag von 2.000 € tatsächlich zur Deckung seines Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden habe.

SG Kiel, Beschluss vom 27.02.2015, S 28 AS 44/15 ER, aufgehoben durch SH LSG, Beschluss vom 18.03.2015, L 6 AS 38/15 ER; die Rechtsfrage ist unter dem Az. B 14 AS 10/14 R beim BSG anhängig.


Sozialpolitische Anträge zur Kieler Ratsversammlung am 19.03.2015

Wappen KielÜber nachfolgende Anträge zu sozialpolitischen Themen wird in der Kieler Ratsversammlung am 19.03.2015 debattiert:

Wohnaufsichtsgesetz endlich umsetzen!

Antrag: Die Ratsversammlung der Stadt Kiel fordert von der schleswig-holsteinischen Landesregierung die Einführung eines Wohnungsaufsichts-und pflegegesetzes und bittet den Schleswig-Holsteinischen Städtetag um Unterstützung. Wichtige Punkte sind dabei: Klare Mindestanforderung an Wohnraum, inklusive der Definition von Überbelegung und Leerstand und der Möglichkeit, Ordnungsmaßnahmen zu verhängen, wenn Eigentümer handlungsunwillig sind.
Begründung: In Artikel 14 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Auch in den Kommunen Schleswig-Holsteins gibt es zahlreiche Beispiele für Missstände auf den Wohnungsmärkten und prekäre Wohnverhältnisse. Ursächlich ist hierfür der schwunghafte Handel mit großen Wohnungsbeständen. Niemand wird seine Wohnungen in Stand halten oder in sie investieren, wenn schon feststeht, dass sie demnächst wieder weiterveräußert werden. Das Ergebnis sind viele von Schimmelpilz befallene und gesundheitsschädliche Wohnungen, marode Dächer, Balkone, Heizungsanlagen, Elektro- und Sanitärinstallationen. Derartige Wohnungsbestände gefährden die darin wohnenden Mieterinnen und Mieter und beeinträchtigen ganze Stadtteile. Damit Kommunen davon betroffenen Mieterinnen und Mieter helfen können, brauchen sie bessere und wirkungsvollere Instrumente. Das Land NRW hat auf diese Probleme reagiert, indem es ein neues Wohnungsaufsichtsgesetz verabschiedet hat, das ihren Kommunen ermöglicht gegen vernachlässigten Wohnraum sowie gegen Überbelegung und Leerstand von Wohnraum vorzugehen. Diesem Vorbild sollte Schleswig-Holstein folgen. Antrag der Ratsfraktion Die Linke

Sonstige Anträge

Weitere Anträge finden Interessiere in der Tagesordnung der Sitzung der Ratsversammlung. Hinzuweisen ist hier noch auf einen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und SSW-Ratsfraktion zur Einführung eines studentischen Kulturtickets. Nach einigen salbungsvollen Worten in schönstem Politiker-Sprech („noch stärker als bisher für die kulturellen Einrichtungen in Kiel zu interessieren und begeistern“, „Studierenden mit einem geringen Einkommen wird die Teilhabe am kulturell vielfältigen Leben der Stadt erleichtert“, „können Studierende … eine Bindung zu Kiel aufbauen“) zählen die Kooperationsfraktionen dann recht unverblümt auf, worum es ihnen offenbar hauptsächlich geht:

  • „Die kulturellen Einrichtungen können ihre Besuchszahlen steigern bzw. Restkarten [sic!] verkaufen.“
  • „Ähnlich wie in anderen Hochschulstädten würden die Studierenden durch die Finanzierung des Studentischen Kulturtickets einen nicht unerheblichen Beitrag zur Finanzierung der kulturellen Einrichtungen in Kiel leisten. Die Erfahrungen aus beispielsweise Kassel (2,92€/Semester), Hildesheim (5,50€/Semester) oder Göttingen (9,80€/Semester) können bei den Verhandlungen einbezogen werden.“

Interessierte Bürger können die Ratsversammlung am Donnerstag, den 19.03.2015 ab 16.00 Uhr auch im Livestream beim Offenen Kanal Kiel verfolgen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt

Übernahme von Heizkostennachforderungen auch bei geschätzten Zählerständen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Hartz IV-Empfänger haben auch dann einen Anspruch auf Übernahme einer Heizkostennachforderung, wenn diese auf geschätzten Zählerständen beruht. Voraussetzung ist lediglich, dass die Kosten insgesamt angemessen sind.

Das Jobcenter Kiel hatte die Übernahme einer Heizkostennachforderung in Höhe von 19,49 € mit der Begründung abgelehnt, die Heizkostennnachforderung beruhe auf einer Verbrauchsschätzung und nicht auf tatsächlichen Verbrauchswerten. Nach § 22 Abs. 1 SGB II würden Heizkosten indes nur in tatsächlicher Höhe anerkannt. Die tatsächlichen Aufwendungen für Heizkosten seien von der Klägerin jedoch nicht nachgewiesen worden, da sich die Nachforderung lediglich aus geschätzten Verbrauchswerten ergebe. Es stehe noch nicht einmal fest, ob die tatsächlichen Verbrauchskosten überhaupt über den Vorauszahlungen lagen.

Dieser Argumentation folgte das Sozialgericht Kiel nicht. Nach § 22 Abs. 1 SGB II würden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in der tatsächlichen Höhe übernommen. Bei den auf Schätzungen des Verbrauches basierenden Beträgen handele es sich aber gerade um die tatsächlichen Kosten. Die Klägerin mache den Betrag geltend, den die Stadtwerke von ihr fordern und auch zivilrechtlich zu fordern berechtigt seien. Zuletzt sei auch nicht ersichtlich, dass die Forderung nicht angemessen sein könnte.

Sozialgericht Kiel, Urteil vom 15.12.2014, S 39 AS 1609/13

Erstveröffentlichung in HEMPELS 02/2015

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen für Kiel in laufenden Klageverfahren

Logo Jobcenter KielAuf der Grundlage der neuen vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht in seinen Urteilen vom 19.05.2014 für rechtsverbindlich erklärten Berechnungsmethode hat die Landeshauptstadt Kiel für den Zeitraum vor dem 01.01.2013 nachfolgende Mietobergrenzen berechnet, welche nach hiesigen Informationen in laufenden Klageverfahren sowie ruhend gestellten Widerspruchsverfahren jedenfalls für den Zeitraum 01.12.2008 bis 31.12.2012 anerkannt werden sollen. Zu beachten ist, dass diese neuen Mietobergrenzen für den Zeitraum 01.12.2008 bis 31.12.2012 nur für diejenigen Leistungsberechtigten gelten, die sich gegen die Anerkennung zu geringer Mietobergrenzen rechtzeitig durch Einlegung eines Widerspruches gegen die jeweiligen Bewilligungsbescheide sowie gegebenenfalls auch in nachfolgenden Klageverfahren gewehrt haben. Eine Überprüfung der Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vor dem 01.01.2013 ist im Jahre 2014 nicht mehr möglich, § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 44 SGB X.

Anzahl der im Haushalt lebenden Personen Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenzen bruttokalt für den Zeitraum 1.12.2008 bis 31.12.2012 in laufenden Klageverfahren/ruhenden Widerspruchsverfahren Mietobergrenzen gemäß den Berechnungen des SH LSG ab dem 1.1.2013
1 bis 50 321,00 € 332,00 €
2 50-60 385,50 € 398,50 €
3 60-75 474,00 € 493,50 €
4 75-85 560,50 € 599,50 €
5 85-95 626,50 € 670,00 €
6 95-105 692,00 € 740,50 €
7 105-115 758,00 € 811,00 €
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 66,00 € 70,50 €

Jobcenter Kiel: Zumindest bei den Rechtsanwaltsgebühren sehr „genau“

Logo Jobcenter KielDen Streit mit den Jobcentern um Leistungen für seine Mandanten ist der Rechtsanwalt gewöhnt, den Streit mit den Behörden um seine Vergütung auch. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, die selbst einen leidgeprüften Rechtsanwalt um Fassung ringen lassen. So flatterte mir heute vom Sozialgericht Kiel ein Schriftsatz des Jobcenters Kiel mit der Bitte um Stellungnahme auf den Tisch, der selbst einen um Ernsthaftigkeit stets bemühten Rechtsanwalt gefährlich auf die Probe stellte. Das Jobcenter Kiel legt darin auf nicht weniger als 5 Seiten (!) dar, warum es für ein verlorenes Klageverfahren gerne nur Anwaltskosten in Höhe von 386,75 € übernehmen möchte. Besorgt blätterte ich in meiner Handakte nach, welch unerhört hohen Gebühren ich wohl beantragt hatte – und musste feststellen: Die sogenannte Mittelgebühr in Höhe von 404,60 €, das heißt 17,85 € und damit 4,6 % mehr, als das Jobcenter anerkennen möchte.

Nun handelt es sich bei der von mir beantragten Gebühr um eine sogenannte „Betragsrahmengebühr“ und wer über zumindest rudimentäre Kenntnisse des anwaltlichen Gebührenrechts verfügt weiß, dass die Literatur und ihr folgend die Rechtsprechung dem Rechtsanwalt bei der Gebührenbestimmung einen Spielraum von 20 % (Toleranzgrenze) zugesteht, der von Dritten wie auch von den Gerichten zu beachten ist (BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, Rn. 19 m.w. Rechtsprechungsnachweisen). Anders jedoch gewisse Mitarbeiter des Jobcenters Kiel, die augenscheinlich die notwendige Rechtsunkenntnis und offenbar auch die erforderliche Arbeitszeit dafür mitbringen, Anwälte und Gerichte mit 17,85-€-Fragen zu beschäftigen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Norddeutscher Rundfunk lehnt fristgerecht gestellte Befreiungsanträge ab

Marlies Schwarzin / pixelio.de

Marlies Schwarzin / pixelio.de

Die Probleme mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) reißen nicht ab. Gab es in der Vergangenheit bereits Unverständnis darüber, dass der Beitragsservice von ARD, ZDF und Deutschlandradio Personen zur Beitragszahlung heranzieht, die zum 01.01.2013 aufgrund der neuen Haushaltsabgabe erstmals zur Beitragszahlungen verpflichtet sind, obwohl diese nachweisen konnten, dass bei ihnen seit dem 01.01.2013 die Befreiungsvoraussetzungen – etwa wegen Bezuges von ALG II – vorgelegen haben, werden nun auch fristgerecht für zukünftige Zeiträume gestellte Befreiungsanträge rechtswidrig abgelehnt.

Eine ALG II-Bezieherin aus Kiel hatte am 13.01.2015 mit dem dafür vorgesehenen Formular einen Antrag auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht für den Zeitraum 01.02.2015 bis 31.07.2015 gestellt. Der Antrag, welchem sie den Befreiungsnachweis des Jobcenters Kiel vom 17.12.2014 beigefügt hatte, wurde vom NDR mit Bescheid vom 27.01.2015 abgelehnt. Zur „Begründung“ heißt es in dem Ablehnungsbescheid:

„Rechtsgrundlage für diese Entscheidung ist Art. 4 Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31.08.1991 (GVOBl. 1991, S. 619) – zuletzt geändert durch 15. Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15. – 21.12.2012 (GVOBl. 2011, S 345).“

Einmal abgesehen davon, dass ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen ist (§ 39 VwVfG) und die Angabe der als maßgeblich erachteten Rechtsgrundlage keinesfalls genügt, Art. 4 des Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland aufgehoben wurde und sich die entscheidenden Befreiungstatbestände seit dem 01.01.2013 in Art. 1 des 15. Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge, dem „Rundfunkbeitragsstaatsvertrag“, befinden, wäre auch die Angabe der zutreffenden Rechtsvorschrift – § 4 Abs. 4 RBStV – wünschenswert gewesen. Nach dieser Vorschrift gilt:

“Die Befreiung oder Ermäßigung beginnt mit dem Ersten des Monats, zu dem der Gültigkeitszeitraum des Bescheids beginnt, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach dem Erstellungsdatum des Bescheids nach Absatz 7 Satz 2 gestellt wird. Wird der Antrag erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt, so beginnt die Befreiung oder Ermäßigung mit dem Ersten des Monats, der der Antragstellung folgt. Die Befreiung oder Ermäßigung wird für die Gültigkeitsdauer des Bescheids befristet. Ist der Bescheid nach Absatz 7 Satz 2 unbefristet, so kann die Befreiung oder Ermäßigung auf drei Jahre befristet werden, wenn eine Änderung der Umstände möglich ist, die dem Tatbestand zugrunde liegen.”

Danach lagen die Befreiungsvoraussetzungen in diesem Fall eindeutig vor: Der Befreiungsantrag wurde mit Zugang beim Beitragsservice am 20.01.2015 gestellt. Das Erstelldatum des Bescheides war der 17.12.2014, so dass der Befreiungsantrag noch bis zum 17.02.2015 hätte gestellt werden können. Die Antragstellung erfolgte am 20.01.2015 also fristgerecht, eine Befreiung für den Zeitraum 01.02.2015 bis 31.07.2015 hätte ausgesprochen werden müssen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Übernahme von Tilgungsraten bei selbstgenutztem Wohneigentum

(c) GesaD / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Das Pendel schlägt mal nach vorne und mal zurück. Nachdem das Jobcenter Kiel in zahlreichen Klage- und Eilverfahren von Kammern am SG Kiel zur Übernahme von Tilgungsleistungen für die selbstgenutzte Wohnung eines ALG II-Beziehers verurteilt bzw. verpflichtet worden war, wurden die Urteile jüngst vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht allesamt aufgehoben (Urteilsgründe liegen noch nicht vor) und der Anspruch auch in einem aktuellen Antragsverfahren von der 34. Kammer am SG Kiel abgelehnt (SG Kiel, Beschluss vom 04.02.2015, S 34 AS 4/15 ER).

Finanzierung nicht „weitgehend abgeschlossen“

Entscheidend war für das SG, dass zu Beginn des streitigen Zeitraumes 01.01.2015 bis 30.06.2015 die Finanzierung des Kaufpreises noch nicht „weitgehend abgeschlossen“ war. Die Wohnung ist für 41.500,00 € erworben worden. Zusätzlich musste der Antragsteller 10.000,00 € in die Sanierung investieren. 25.000,00 € der Gesamtinvestitionssumme wurden über ein Darlehen finanziert und 26.500,00 € aus Eigenmitteln. Zum 01.01.2015 betrug die Restschuld noch rund 17.000,00 €, mithin etwa 41 % des reinen Kaufpreises und etwa 33 % der Gesamtinvestitionssumme. Damit war die Finanzierung nach Auffassung des SG Kiel noch nicht „weitgehend abgeschlossen“. Ab wann von einer „weitgehenden Finanzierung“ auszugehen ist, bei deren Eintritt der Schutz des bereits Erworbenen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II) dem (angeblichen) „sozialrechtlichen Grundsatz“, wonach Sozialleistungen nicht der Vermögensbildung dienen dürfen, Vorrang gebührt, hat das BSG bisher nicht entschieden. Auch die Rechtsprechung der Landesozialgerichte ist zu dieser Frage eher wenig ergiebig. Lediglich das LSG Sachsen-Anhalt hat sich dahingehend geäußert, die Finanzierung müsse mindestens in Höhe von 80 % abgeschlossen sein (Beschluss vom 18.04.2013, L 5 AS 8/12 B ER). Die Rechtsfrage, ob bei einem 60-jährigen die Tilgungsraten für die Finanzierung eines zum Schonvermögen zählenden selbst genutzten Hausgrundstückes nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II übernommen werden können, wenn die Resttilgung 18,7 % des Kaufpreises beträgt, ist jetzt beim BSG anhängig (B 4 AS 49/14 R).

Wertsteigerungen nicht zu berücksichtigen

Der Rechtsauffassung der Antragstellerseite, dergemäß bei der Bestimmung des Grades der Finanzierung der Immobilie der Restschuld deren Zeitwert in Höhe von rund 73.320,00 €  gegenüber zu stellen ist (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.01.2014, L 6 AS 422/12 – Revision anhängig unter B 4 AS 49/14 R) und deswegen von einer Restschuld von lediglich rund 23 % auszugehen sei, mochte sich das SG Kiel nicht anschließen. Die angeführte Begründung, der aktuelle Verkehrswert habe „keinen Einfluss auf die Höhe der monatlichen Raten für die Finanzierung und auch keinen Einfluss darauf, wann und in welchem Umfang die Finanzierung abgeschlossen ist“, ist zutreffend, allerdings für die Beantwortung der Frage, in welchem Umfang eine Immobilie als Vermögensgegenstand mit einem konkreten Verkehrswert bereits erworben und in welchem Umfang noch zu erwerben ist – mithin für die Frage, ob der Schutz des Erworbenen überwiegt – ohne jede Aussagekraft. Entgegen der Entscheidung des SG Kiel sind Wertsteigerungen der Immobilie zu berücksichtigen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beschränkte Haftung Minderjähriger für Rückforderungsansprüche des Jobcenters

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Ein junger Volljähriger muss Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), welche er als Minderjähriger zu Unrecht erhalten hat, nur bis zur Höhe des bei Eintritt seiner Volljährigkeit vorhandenen Vermögens an das Jobcenter erstatten.

In dem entschiedenen Fall hatte eine Mutter dem Jobcenter nicht angezeigt, dass ihr Sohn Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) erhielt. Das Jobcenter erlangte hiervon Kenntnis und forderte die überzahlten Hartz IV-Leistungen in Höhe von rund 500 € von dem inzwischen volljährigen Sohn zurück.

Zu Unrecht, entschied das Bundessozialgericht (BSG). Das BSG wendet nämlich die Regelung des § 1629a BGB auch auf Ansprüche auf Erstattung von Hartz IV-Leistungen an, die an einen Minderjährigen gezahlt wurden. Entscheidend ist danach, dass die Rückforderung während der Minderjährigkeit erbrachte Leistungen betrifft und durch eine pflichtwidrige (siehe aber unten die Aktualisierung) Handlung des gesetzlichen Vertreters begründet wurde. Diese Voraussetzungen lagen hier vor, denn die Mutter hatte es pflichtwidrig versäumt, das Jobcenter über die Zahlung der Berufsausbildungsbeihilfe für den Sohn zu informieren und hatte so die Überzahlung durch das Jobcenter verursacht. Nach Rechtsprechung des 4. Senats am BSG ist es dabei unerheblich, dass das Jobcenter den Erstattungsbescheid erst nach dem Eintritt der Volljährigkeit erließ. Es kommt vielmehr darauf an, wann die Forderung durch Überzahlung entstanden ist. Denn andernfalls, so das Gericht, könnte das Jobcenter durch den Erlass des Rückforderungsbescheides erst nach Eintritt der Volljährigkeit erreichen, dass ein junger Volljähriger die von ihm während seiner Minderjährigkeit bezogenen Hartz IV-Leistungen entgegen § 1629a BGB erstatten müsste.

BSG, Urteil vom 18.11.2014, B 4 AS 12/14 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2015

Aktualisierung 02.12.2018: Übereinstimmend mit § 1629a BGB setzt die Haftungsbeschränkung kein Verschulden des Vertreters des Minderjährigen voraus, weswegen die Haftungsbeschränkung auch bei einer abschließenden Leistungsfestsetzung, bei der die Erstattungsforderung nicht auf einem Verhalten der Eltern beruht, sondern auf einer abschließenden Entscheidung nach einer vorläufigen Bewilligung wegen der Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens, gilt (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2018, B 14 AS 34/17 R. Die Haftungsbeschränkung ist auch in einem laufenden Klageverfahren zu beachten, wenn erst in diesem die Volljährigkeit eintritt (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2018, B 4 AS 43/17 R).

Siehe auch: Zur Beschränkung der Minderjährigenhaftung im SGB II

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter schwingt Tanzbein

10 Jahre HurraUnd wir kippen ein wenig Wasser in Wein: Zahl der ALG II-Empfänger in Kiel im Januar 2005: 32.263 Personen. Dezember 2014: 32.154 Personen. Ein Grund zum Feiern?


Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.12.2014

Wappen Kiel

Anzahl der im Haushalt lebenden Personen Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenzen bruttokalt nach Mietspiegel 2012, gültig vom 1.1.2013 bis 30.11.2014
Mietobergrenzen bruttokalt nach Mietspiegel 2014,
gültig ab 1.12.2014
1 bis 50 332,00 €
342,50 € (+ 10,50 €)
2 50-60 398,50 €
411,00 € (+ 12,50 €)
3 60-75 493,50 €
510,00 € (+ 16,50 €)
4 75-85 599,50 €
628,50 € (+ 29,00 €)
5 85-95 670,00 €
702,50 € (+ 32,50 €)
6 95-105 740,50 €
776,00 € (+ 35,50 €)
7 105-115 811,00 €
850,00 € (+ 39,00 €)
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 70,50 €
74,00 € (+ 3,50 €)

In nachfolgender Tabelle finden sich die ab dem 01.12.2014 für die Landeshauptstadt Kiel geltenden Mietobergrenzen. Eine Zustimmung des Sozialausschusses der Landeshautstadt Kiel sowie der Ratsversammlung steht noch aus.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialpolitische Anträge zur Kieler Ratsversammlung am 22.01.2015

Wappen KielÜber nachfolgende Anträge zu sozialpolitischen Themen wird in der Kieler Ratsversammlung am 22.01.2015 abgestimmt:

Resolution zum Erhalt des Landesamtes für soziale Dienste am Standort Kiel

Antrag: Die Ratsversammlung der Landeshauptstadt Kiel fordert den Oberbürgermeister auf, sich gegenüber der Landesregierung für die Beibehaltung des Landesamtes für soziale Dienste am Standort Kiel einzusetzen.

Begründung: Nach Ansicht der schleswig-holsteinischen Landesregierung soll die Kieler Außenstelle des Landesamtes für Soziale Dienste aus finanziellen Gründen im Jahr 2016 aufgelöst werden. Die 44 Mitarbeiter sollen sodann in der Zentrale des Landesamtes in Neumünster und auf den übrigen Außenstellen in Heide, Lübeck und Schleswig die Betreuung der Menschen vornehmen. Die Außenstelle in Kiel ist allein im Schwerbehindertenrecht zurzeit für rund 84.500 Fälle zuständig. Diese sollen dann ab 2016 in der Zentrale in Neumünster betreut werden. Die Menschen wohnen zum größten Teil jedoch in Kiel oder im Kreis Plön. Nur etwa jeder fünfter Bestandsfall betrifft die Stadt Neumünster. Gerade für Menschen mit einer Schwerbehinderung und junge Eltern ist das Landesamt in Kiel eine gewohnte und zentrale Anlaufstelle. Hier bekommen sie Beratung in Sachen Eltern- und Betreuungsgeld sowie im Schwerbehindertenrecht, erhalten Unterstützung beim Ausfüllen ihrer Anträge, können die notwendigen Formulare und ihre Schwerbehindertenausweise abholen. Die Betroffenen sind vielfach körperlich wie finanziell überhaupt nicht in der Lage, neben den ohnehin für sie bestehenden körperlichen Belastungen und oftmals bürokratischen Hürden auch noch eine beschwerliche Anreise nach Neumünster vorzunehmen. Daher geht es im Ergebnis darum, ein etabliertes und kompetentes Beratungsangebot bürgernah zu erhalten. Antrag der CDU-Ratsfraktion

Mietobergrenzen für unter 25jährige ohne abgeschlossene Berufsausbildung

Antrag: Die in den Richtlinien der Landeshauptstadt Kiel zu den Regel-Höchstbeträgen für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem SGB II und dem SGB XII enthaltenen Sonderregelungen für Jugendliche und junge Erwachsene werden ersatzlos gestrichen.

Begründung: Nach den Richtlinien der Landeshauptstadt Kiel zu den Regel-Höchstbeträgen für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem SGB II und dem SGB XII in ihrer aktuellen Fassung vom 13.12.2012 ist bei unter 25jährigen Beziehern von Leistungen nach dem SGB II ohne abgeschlossene Berufsausbildung eine Miete bis maximal 224 € inklusive Heizkosten anzuerkennen, mit einer abgeschlossenen Ausbildung werden die Mietobergrenzen zugrunde gelegt, die auch für über 25jährige gelten. Diese vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht ehemals bestätigte Praxis haben inzwischen mehrere Kammern am Sozialgericht Kiel für rechtswidrig erklärt. Die Praxis der Stadt orientiere sich an den Regelungen zum BAföG-Recht. Die Möglichkeit für Studenten, nach § 27 Abs. 3 SGB II vom für sie örtlich zuständigen Jobcenter einen Zuschuss zu ihren angemessenen Aufwendungen für ihre Unterkunft zu erhalten, die vom BAföG nicht gedeckt sind, zeige indessen, dass eine an den BAföG-Regelungen orientierte Bemessung der Mietobergrenzen für junge Erwachsenen sinnwidrig ist. Denn der Anspruch auf ergänzende Leistungen zur Deckung des durch das BAföG ungedeckten Teils der Unterkunfts- und Heizkosten wurde gerade ins SGB II aufgenommen, weil die BAföG-Sätze nicht immer ausreichend sind, um das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Die Unterkunftssätze, die im Leistungsrecht des BAföG gewährt werden, stellten ausdrücklich nur einen pauschalierten Zuschuss zu den Unterkunftskosten dar, die regelmäßig nicht zum Bestreiten der tatsächlichen Kosten ausreichen. Auch unter 25jährige haben deswegen einen Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung in der Höhe, in der diese auch über 25jährigen zustehen (SG Kiel, Urteil vom 26.11.2013, S 30 AS 767/10; SG Kiel, Beschluss vom 9.8.2013, S 31 AS 251/13 ER – rechtskräftig; so bereits SG Schwerin, Beschluss vom 29.03.2007, S 10 ER 49/07 AS). Das Jobcenter Kiel hatte gegen die Entscheidung des SG Kiel zum Az. S 31 AS 251/13 ER zwar Beschwerde eingelegt, diese aber zurückgenommen, nachdem das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht die Rechtsauffassung des SG Kiel in rechtlichen Hinweisen für vertretbar erklärt hatte. Antrag der Ratsfraktion Die Linke

Anmerkungen

Beide Anträge sind zu begrüßen. Der Antrag zu dem Mietobergrenzen für unter 25jährige wurde – was ein neuerliches sozialpolitisches Armutszeugnis für die angeblich „soziale Stadt“ Kiel ist – bereits zweimal (in der Ratsversammlung am 22.02.2014 und 10.07.2014) zurückgestellt. Unverständlich ist, dass die Ratsversammlung offenbar in ihrer Sitzung am 22.01.2015 immer noch nicht über die seit dem 01.12.2014 geltenden Mietobergrenzen beschließen wird. Zur Kritik mehr hier. Die Tagesordnung mit allen Dokumenten finden Interessierte im Ratsinfosystem der Stadt Kiel (dort unter „Kalender“). Interessierte Bürger können die Ratsversammlung am Donnerstag, den 22.01.2015 ab 16.00 Uhr auch im Livestream beim Offenen Kanal Kiel verfolgen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wohnraummehrbedarf zur Wahrnehmung des Umgangsrechts

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Das Sozialgericht Kiel hat entschieden, dass ein arbeitsloser Vater, welcher an 55 Tagen im Jahr sein Umgangsrecht mit seinen beiden Kindern ausübt, einen Anspruch auf eine größere Wohnung und damit auch höhere Leistungen für die Unterkunft hat.

Der Vater hatte bewusst eine größere Wohnung angemietet und dies dem Jobcenter Kiel gegenüber damit begründet, dass sich seine Kinder regelmäßig bei ihm aufhalten und er deswegen einen erhöhten Unterkunftsbedarf habe. Das Jobcenter folgte dieser Argumentation nicht und erkannte lediglich die Mietobergrenze für einen Einpersonenhaushalt mit bis zu 50 qm in Höhe von 316,00 € bruttokalt (rückwirkend ab 01.01.2013 jetzt 332,00 €) an.

Das Sozialgericht Kiel hat dem Vater im Eilverfahren sodann einen Anspruch auf unterkunftssichernde Leistungen für eine Wohnung mit 65 qm (= 408,20 €) zugesprochen. Die Kinder hielten sich nämlich in einem zeitlichen Umfang bei ihrem Vater auf, der es rechtfertige, entsprechend den vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätzen zur sogenannten „temporären Bedarfgemeinschaft“ einen erhöhten Wohnraumbedarf anzuerkennen. Zwar sei höchstrichterlich noch nicht geklärt, ob und in welchem Umfang eine „temporäre Bedarfsgemeinschaft“ auch im Bereich der Unterkunftskosten zu berücksichtigen sei. Der Gesetzgeber habe aber in § 22 b Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB II zum Ausdruck gebracht, dass ein erhöhter Wohnraumbedarf wegen der Ausübung eines Umgangrechts zu berücksichtigen sei.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 09.04.2014, S 38 AS 88/14 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Prozesskostenhilfe, wenn Ruhendstellung des Widerspruchsverfahrens zumutbar

Schleswig-Holsteinisches LSG

Schleswig-Holsteinisches LSG

Die gerichtliche Rechtsverfolgung ist mutwillig und Prozesskostenhilfe deswegen nicht zu gewähren, wenn das Jobcenter anbietet, ein Widerspruchsverfahren ruhend zu stellen, um eine Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts in dort bereits anhängigen Rechtsstreitigkeiten – hier wegen der Mietobergrenze der Landeshauptstadt Kiel – abzuwarten, sowie die Zusicherung ausspricht, seine Entscheidung im Widerspruchsverfahren sodann an der Entscheidung des Landessozialgerichts ausrichten zu wollen (Beispielschreiben). Denn die Fortsetzung des eigenen Verfahrens bietet gegenüber dieser Verfahrensweise keine erkennbaren tatsächlichen oder rechtlichen Vorteile. Dies entschied das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht mit Beschluss vom 26.11.2014 im Verfahren L 6 AS 271/14 B PKH. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt:

Die Entscheidungsgründe

„Das Sozialgericht hat den Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T zu gewähren, zu Recht mit der Begründung abgelehnt, dass die Rechtsverfolgung mutwillig ist. Nach eigener Prüfung der Sach– und Rechtslage nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen im Wesentlichen auf die Begründung des erstinstanzlichen Beschlusses Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Nicht zuletzt im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen ist allerdings auf Folgendes hinzuweisen: Der Senat hat bereits im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten über die Höhe der Regelbedarfe entschieden, dass es Empfängern von Grundsicherungsleistungen grundsätzlich zugemutet werden kann, ihr Verfahren im Widerspruchsverfahren nicht (weiter) zu betreiben, wenn der Ausgang dieses Verfahrens wesentlich von der Beantwortung einer grundsätzlich bedeutsamen Rechtsfrage abhängig ist, die bereits in anderen Verfahren in der Revisionsinstanz oder beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Juli 2012 – L 6 AS 12/12 B PKH – SchlHA 2012, 478).

Diese Grundsätze können auf Verfahren, die die abstrakte Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) betreffen, zumindest dann zu übertragen werden, wenn ein rechtlich gleichartiges Verfahren, das eine Beantwortung der streitigen Rechtsfrage erwarten lässt, beim Landessozialgericht anhängig ist und der jeweilige Träger der Grundsicherungsleistungen der leistungsberechtigten Person neben der Ruhendstellung zusichert, die Höhe ihrer Leistungen an der rechtskräftigen Entscheidung im anhängigen „Musterverfahren“ auszurichten.

Vorliegend fehlt es entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts zwar an einer solchen Zusicherung. Im Schreiben vom 23. Mai 2013 jedenfalls hat der Beklagte nicht verbindlich zugesagt, die Unterkunftskosten des Klägers im streitigen Zeitraum nach Maßgabe der rechtskräftigen Entscheidung im Verfahren L 6 AS 10/13 ZVW zu bestimmen, sondern lediglich auf die Möglichkeit der Übertragung der dortigen Ergebnisse auf das ruhend gestellte Widerspruchsverfahren hingewiesen. Dies jedoch reicht nach Auffassung des erkennenden Senats im vorliegenden Fall aus, das weitere prozessuale Vorgehen des Klägers als mutwillig erscheinen zu lassen, weil sich der Kläger nicht gegen die Bewilligungsentscheidung selbst, sondern gegen die Ablehnung der Überprüfung bestandskräftiger Bewilligungsentscheidungen nach § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) wendet. Je weniger es um die Deckung des aktuellen Bedarfs geht, desto eher ist es dem Rechtsschutzsuchenden grundsätzlich zuzumuten, die Entscheidung in einem gleichgelagerten Parallelverfahren auch ohne die konkrete Zusicherung der Übernahme des dortigen Verfahrensergebnisses abzuwarten.

Im vorliegenden Fall sind keine ausreichenden Gesichtspunkte erkennbar, die dagegen sprechen würden, der Ruhendstellung des Widerspruchsverfahrens zuzustimmen. Der Senat geht deshalb davon aus, dass ein bemittelter Prozessbeteiligter, der seine Prozessaussichten vernünftig abgewogen und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt hätte, von der Klageerhebung vorerst abgesehen hätte. Soweit der Kläger geltend macht, dass die Zustimmung zum Ruhen des Widerspruchsverfahrens seine Erfolgsaussichten in einem möglichen (aber offenbar ohnehin nicht betriebenen) Eilverfahren geschmälert hätte, ist ihm entgegenzuhalten, dass diese Aussichten angesichts der Bestandskraft der zugrunde liegenden Bewilligungsentscheidungen von vornherein sehr gering gewesen sind. Für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, an den in dieser besonderen Situation hohe Anforderungen zu stellen sind, ist jedenfalls nichts vorgetragen. Soweit er ferner geltend macht, dass im Zeitpunkt der Ausschlagung der angebotenen Ruhendstellung des Widerspruchsverfahrens nicht sicher gewesen sei, ob das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht im Verfahren L 6 AS 10/13 ZVW überhaupt allgemeingültige Aussagen zur abstrakten Angemessenheit der Unterkunftskosten treffen würde, ist dies zwar angesichts der Besonderheiten des dortigen Falls nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Dem Bevollmächtigten des Klägers war jedoch bekannt, dass zu der Frage der Angemessenheit der Unterkunftskosten im Frühjahr 2013 bereits mehrere andere Berufungsverfahren anhängig waren, die eine obergerichtliche Klärung der zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens streitigen Rechtsfragen erwarten ließen. Entsprechende obergerichtliche Entscheidungen sind zwischenzeitlich ergangen (LSG Schleswig-Holstein, Urteile vom 19. Mai 2014 – L 6 AS 18/13 und L 6 AS 146/13 – zit. n. juris).“

Anmerkungen

Die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ist nachvollziehbar. Denn es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass die Erhebung vieler Klagen trotz Ruhendstellungsoption gerade in Kieler Mietobergrenzenverfahren ab dem Zeitpunkt einer erneuten Beschäftigung des Landessozialgerichts mit dieser Frage eher im monetären Interesse der mandatierten Rechtsanwälte als der von ihnen vertretenen Kläger lag. In Fällen erheblicher Bedarfsunterdeckung schließt zudem eine Ruhendstellung des Widerspruchsverfahrens die Stellung eines Eilantrages nicht aus.

Allerdings sind auch Konstellationen denkbar, in denen die Fortführung des Widerspruchs- oder Klageverfahrens nicht mutwillig erscheint. Gerade bei einem Landessozialgericht wie dem Schleswig-Holsteinischen, das für seine restriktive und rational nicht immer leicht nachvollziehbare Praxis der Nichtzulassung von Revisionen bekannt ist, kann etwa – trotz Anhängigkeit der streibestimmenden Rechtsfragen in Berufungsverfahren – ein berechtigtes Klägerinteresse daran bestehen, zu versuchen, sein rechtliches Anliegen im Wege der Sprungrevision (§ 161 SGG) unter Umgehung der Berufungsinstanz dem Bundessozialgericht zur Entscheidung vorzulegen. Ein solches Rechtsschutzziel ist nachvollziehbar und wäre nicht mutwillig.

Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang zudem bleiben, dass insbesondere auch bei der Bestimmung der Kieler Mietobergrenzen die entscheidenden Impulse gerade nicht vom – bisweilen mehr als unglücklich agierenden – Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, sondern von Kammern an den Sozialgerichten ausgingen. Eine Fokussierung auf Judikate der zweiten Instanz – auch wenn sie in Schleswig-Holstein bedauerlicher Weise zugleich regelmäßig die letzte ist – erscheint daher weder zwingend noch besonders naheliegend.

Zuletzt könnten auch die Gerichte selbst durch kürzere Verfahrenszeiten dazu beitragen, die Bereitschaft zur Ruhendstellung von Verfahren bei der Rechtsanwaltschaft zu fördern. So werde ich im Jahre 2015 vor dem Sozialgericht Schleswig über Klagen in Mietobergrenzenverfahren verhandeln müssen, die ich im Jahre 2008 anhängig gemacht habe. Die Frage zu stellen, ob bei derartigen Verfahrenszeiten der effektive Rechtsschutz noch gewahrt ist (dazu hier), heißt, sie zu beantworten. Sorgen des Rechtsanwalts, Verfahrenszeiten durch die Ruhendstellung von Widerspruchsverfahren weiter zu verlängern, sind daher nicht ganz von der Hand zu weisen. Teilweise haben meine Klagen zudem zahlreiche Kammerwechsel erlebt und wurden wiederholt ruhend gestellt, weil in den Jahren immer mal wieder vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht über die Kieler Mietobergrenzen verhandelt wurde. Die von den verschiedenen Richtern in einigen Klageverfahren unterbreiteten Erledigungsvorschläge umfassten dabei nicht selten das Spektrum von der Anregung zur Klagerücknahme bis hin zu der an das beklagte Jobcenter adressierten Empfehlung, ein vollständiges Klageanerkenntnis abzugeben. Auch diese Erfahrungen haben die anwaltliche Entscheidung darüber, was zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung sinnvoll und erforderlich ist, nicht gerade erleichtert.

Hinweis für Betroffene

Insbesondere anwaltlich vertretenen Widerspruchsführern ist zu raten, der Ruhendstellung von Widerspruchsverfahren zuzustimmen, wenn Rechtsfragen, welche auch für das Widerspruchsverfahren entscheidungserheblich sind, kurz vor einer obergerichtlichen Klärung stehen. Andernfalls droht in einem sich dem Widerspruchsverfahren anschließenden Klageverfahren die Gefahr, die Anwaltskosten selbst tragen zu müssen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Anrechnung der „Mütterrente“ auf die Grundsicherung im Alter

Wappen KielAufgrund einiger Nachfragen zur Anrechnung der „Mütterrente“ auf die Grundsicherung im Alter weise ich an dieser Stelle auf eine „Geschäftliche Mitteilung“ des Sozialdezernenten der Stadt Kiel vom 27.11.2014 hin, deren Kenntnis für Betroffene gegebenenfalls von Nutzen sein kann:

Zusammenfassung:

Die Zahlung der „ Mütterrente“ ab Juli 2014 führt bei Empfängerinnen von Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII zur Minderung des Grundsicherungsanspruches. Die Rentennachzahlung ist an das Grundsicherungsamt zu erstatten, obwohl viele Betroffene erwarten, zumindest einen Teil der Rentennachzahlung behalten zu dürfen. Das Grundsicherungsamt bietet daher im Falle von Rückforderungen entgegenkommende Ratenzahlungen an.

Hintergründe:

Seit dem 1. Juli 2014 ist das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung in Kraft. Es beinhaltet die Anerkennung eines zusätzlichen Jahres mit Kindererziehungszeiten bei Müttern und Vätern, deren Kinder vor 1992 geboren sind („Mütterrente“). Die Anerkennung zusätzlicher Kindererziehungszeiten erfolgt von Amts wegen, eine Antragstellung beim Rententräger ist nicht erforderlich. Die betroffenen Renten werden aktuell um einen Betrag von 28,14 Euro je Kind erhöht.

Die erhöhten Rentenzahlungen der „Mütterrente“ ab Juli 2014 sind bei Empfängerinnen von Grundsicherung im Alter vollständig als Einkommen anzurechnen. Es ergeben sich für diese Menschen mit Sozialhilfe daher keine finanziellen Vorteile durch die Erhöhung der Renten. Das gilt auch für die in den vergangenen Wochen seitens der Rentenversicherung ausgezahlten Nachzahlungen für die Zeit ab Juli 2014.

Anscheinend erwarteten aber viele Betroffene auch aufgrund der bisherigen Informationen seitens der Bundesregierung und durch die öffentliche Berichterstattung, dass sie die „Mütterrente“ zumindest teilweise zusätzlich zur Sozialhilfe zur Verfügung haben würden. Die Minderung der Grundsicherungsleistungen und die vollständige Rückforderung der erhaltenen Rentennachzahlung führen daher häufig zu Enttäuschungen. Das zeigen Anrufe und persönliche Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Inzwischen erfolgten in der Grundsicherungsabteilung bereits zahlreiche Rückzahlungsaufforderungen. Sowohl hinsichtlich der Anrechnung der Rente wie auch hinsichtlich der Rückzahlungsaufforderung hat das Grundsicherungsamt nach dem Gesetz keinen Ermessensspielraum für die Freilassung von Teilbeträgen. Das wird auch in einer Weisung des Bundes an die Grundsicherungsbehörden klargestellt. Allerdings wird seitens unserer Verwaltung die Möglichkeit eingeräumt, die Beträge in kleinen Raten zu tilgen, da die Rückzahlungsverpflichtung viele Kunden überraschend trifft. Teilweise wurden insbesondere die Nachzahlungsbeträge aus der Rente bereits für anstehende Anschaffungen verausgabt, so dass die Neuberechnung der Grundsicherung hier zu Schwierigkeiten führte. Die Verwaltung ist aber bemüht, hier mit jedem Kunden eine gute Lösung der Rückzahlungsmodalitäten zu finden.

Soweit bisher keine Altersrenten bezogen werden, kann durch die zusätzlichen Kindererziehungszeiten auch erstmalig ein Rentenanspruch entstehen. Dafür ist ein Antrag beim Rententräger erforderlich. Das Amt für Wohnen und Grundsicherung und die Rentenberatungsstelle des Bürger- und Ordnungsamtes unterstützen gemeinsam die Bezieherinnen von Grundsicherung bei der Durchsetzung möglicher Rentenansprüche.

Immerhin führten bei einigen Rentnerinnen die höheren Rentenzahlungen dazu, dass sie zukünftig ohne Grundsicherung auskommen, weil das Gesamteinkommen nun ausreicht, das Existenzminimum zu decken. Meistens wird in diesen Fällen nun das Wohngeld anstelle der Grundsicherung in Anspruch genommen und die wirtschaftliche Situation dieser Menschen hat sich etwas verbessert. Das betrifft aber nur einen sehr geringen Anteil der Grundsicherungsempfängerinnen.“

Mehr zum Thema:

WAZ vom 21.12.2013: Arme Frauen haben nichts von der Mütterrente der Großen Koalition
DER SPIEGEL vom 31.03.2014: Die Mogelpackung

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Rechtsanwaltskosten auch dann erstatten, wenn dieser Mandanten keine Kostenrechnung gestellt hat

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Nach wohl überwiegender Auffassung der Kammern am SG Kiel (etwa SG Kiel, Urteil vom 26.03.2013, S 38 AS 278/10) können im Falle eines erfolgreichen Widerspruchsverfahrens die durch die Mandatierung eines Rechtsanwalts entstandenen Kosten nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X erst geltend gemacht werden, nachdem dem Mandanten die Kosten von seinem Rechtsanwalt nach § 10 Abs. 1 Satz 1 RVG tatsächlich in Rechnung gestellt worden sind (unter Hinweis auf LSG NRW, Beschluss vom 20.04.2012, L 19 AS 26/12 B). Dies soll auch für den Fall geltend, dass die Mandanten beratungshilfeberechtigt sind und es dem Rechtsanwalt standesrechtlich eigentlich untersagt ist, seinen Mandanten eine Gebührenrechnung zu stellen, § 49a BRAO (zur Kritik hier und hier). Dieser formalistischen Rechtsprechung, die hier immer für unzutreffend erachtet wurde, hat das BSG nun (endlich) einen Riegel vorgeschoben.

Der Sachverhalt

Die Beteiligten stritten über die Erstattung von Kosten des Widerspruchsverfahrens. Der Kläger, der von dem Beklagten laufend Leistungen der Grundsicherung für Arbeit­suchende nach dem SGB II bezog, machte die Übernahme von Energieschulden bei dem Beklagten geltend und schaltete zur Interessenwahrnehmung einen Rechtsanwalt ein. Im Ergebnis wurde dem Widerspruch des Klägers vollständig abgeholfen. Anschließend übersandte der Klägerbevollmächtigte an den Beklagten eine Gebührenrechnung, in der unter Nennung der Angelegenheit und der Aufschlüsselung der Gebühren nach den Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) eine Gesamtsumme von 309,40 Euro berechnet wurde. Der Beklagte ergänzte den Widerspruchsabhilfebescheid dahingehend, dass er die Zuzie­hung eines Bevollmächtigten für notwendig erklärte und setzte sodann die zu erstatten­den Kosten auf 0,00 Euro fest. Zur Begründung heißt es, es sei nicht nachgewiesen, dass erstattungsfähige Kosten für die Einschaltung eines Rechtsanwalts entstanden seien, da keine Kostenrechnung des Rechtsanwalts vorliege, die dieser gegenüber seinem Mandanten erstellt habe. Die Klage hatte in den beiden Instanzen Erfolg. Das LSG hat das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage auf Erstattung der Anwaltskosten durch das Beklagte Jobcenter bejaht. Der Beklagte habe auch bereits die Entscheidung getroffen, dass die Kosten dem Grunde nach erstattungsfähig seien. Die Höhe der geltend gemachten Kosten sei aufgrund der qualifizierten Abrechnung des Klägerbevollmächtigten zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig. Zur Entscheidung stehe allein die Frage, ob dem Kläger wegen des Fehlens der formalen Voraussetzun­gen nach § 10 RVG Kosten nicht entstanden seien. Dies sei zu verneinen, denn der Schutzzweck des § 10 RVG betreffe nur das Innenverhältnis zwi­schen Mandant und Rechtsanwalt, nicht jedoch das Außenverhältnis gegenüber einem erstattungspflichtigen Dritten.

Die Entscheidung des BSG

Die Revision des beklagten Jobcenters gegen die Entscheidung LSG NRW war nicht erfolgreich. Der Kläger hat einen Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 309,40 Euro gegen das beklagte Jobcenter. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtswidrig, soweit dort die zu erstattenden Kosten auf 0,00 Euro festgesetzt wurden. Das Rechtsschutzbedürfnis für die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist gegeben, denn der Kläger ist bereits dadurch beschwert, dass die zu erstattenden Kosten auf 0,00 Euro statt auf 309,40 Euro festgesetzt worden sind, ohne dass es darauf ankommt, ob der Beklagte bei Vorlage einer an den Kläger gerichteten Gebührenrechnung die Kosten in der beantragten Höhe erstattet hätte. Die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 63 Abs 1 SGB X liegen vor. Das beklagte Jobcenter hatte bereits die Entscheidung getroffen, dass die Zu­ziehung eines Bevollmächtigten notwendig war und dass die Kosten dem Grunde nach erstattungsfähig sind. Die Höhe der geltend gemachten Aufwendungen ist aufgrund der qualifizierten Abrechnung des Klägerbevollmächtigten in dem an den Beklagten gerichteten Antrag auf Kostenfestsetzung nicht streitig. Über diese aus § 63 Abs 1 und 2 SGB X folgen­den Voraussetzungen hinaus bestehen keine weiteren formalen Voraussetzungen für den Kostenerstattungsanspruch nach erfolgreichem Widerspruch. Insbesondere kann aus der Tatsache, dass keine an den Kläger gerichtete Berechnung nach § 10 RVG vorliegt, nicht gefolgert werden, dass Kosten nicht entstanden seien. Der Schutzzweck des § 10 RVG betrifft nur das Innenverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt, nicht jedoch das Außenverhältnis gegenüber einem erstattungspflichtigen Dritten. Dieser kann somit nicht einwenden, wegen eines Verstoßes gegen § 10 RVG nicht zur Zahlung verpflichtet zu sein.

Bundessozialgericht, Urteil vom 02.12.2014, B 14 AS 60/13 R

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen in Kiel ab 1. Dezember 2014 – und keiner kennt sie!

Wappen KielMit Beschluss vom 30.10.2014 wurde der Kieler Mietspiegel 2014 von der Kieler Ratsversammlung anerkannt und hat mit seiner Veröffentlichung vom 10.11.2014 Gültigkeit erlangt. Nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (vgl. zuletzt Urteil 19.05.2014, L 6 AS 18/13) sind die Mietobergrenzen nach § 22 SGB II und § 35 SGB XII auf der Grundlage der Daten des jeweils gültigen Mietspiegels zu ermitteln und geltend ab dem auf die Veröffentlichung folgenden Monat. Ab dem 01.12.2014 gelten in Kiel damit neue Mietobergrenzen. Das Problem ist nur: Außer der Stadt kennt sie keiner.

Geheimniskrämerei nicht im Interesse der Stadt

Für die Stadt Kiel und das Jobcenter Kiel hat der Umgang der Verwaltungsspitze mit den neuen Mietobergrenzen durchweg negative Folgen:

Die Bewilligungsbescheide für alle Leistungsbezieher, die zu ihrer Miete hinzuzahlen, sind seit dem 01.12.2014 rechtswidrig. Legen Betroffene Widerspruch ein, wird eine ohnehin belastete Leistungsverwaltung mit zusätzlichen Widerspruchsverfahren beschäftigt, die bei einer rechtzeitigen Information und Umsetzung der neuen Mietobergrenzen hätten vermieden werden können.

Für Leistungsberechtigte nach dem SGB II und SGB XII, die aufgefordert sind, sich kostenangemessenen Ersatzwohnraum zu suchen, ist derzeit völlig unklar, bis zu welcher Höhe sie in Kiel ab dem 01.12.2014 eine neue Wohnung anmieten dürfen, ohne dass ihnen rechtliche Nachteile drohen. Auch in diesen Fällen ist zu befürchten, dass in sozialgerichtlichen Eilverfahren um die Zusicherung der Kosten für eine neue Unterkunft (vgl. 22 Abs. 4 SGB II) allein deshalb gestritten wird, weil die neuen Mietobergrenzen nicht rechtzeitig bekannt gegeben worden sind.

Erneute Missordnung wäre vermeidbar gewesen

Diese leider neuerlich zu beklagenden Zustände Kieler Regellosigkeit wären vermeidbar gewesen.

So hätte es nahe gelegen, der Ratsversammlung zeitgleich mit der Beschlussfassung über den Kieler Mietspiegel 2014 auch die neuen Mietobergrenzen für die Regelungsbereiche SGB II und SGB XII zur Anerkennung vorzulegen – und nicht erst fast vier Monate später in der Februar-Ratsversammlung 2015.

Eine vorausschauend agierende Verwaltung hätte zudem dafür Sorge getragen, dass die neuen Mietobergrenzen der Leistungsverwaltung schon einige Monate vorher zur Verfügung gestellt werden. Denn in Zusicherungsverfahren nach § 22 Abs. 4 SGB II und § 35 Abs. 2 SGB XII im Rahmen der Anmietung einer neuen Unterkunft sind regelmäßig die Kündigungsfristen für die bisherigen Wohnungen zu beachten, d.h. viele etwa ab dem 01.12.2014 geltenden Mietverträge wurden möglicherweise bereits im August 2014 geschlossen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Stadt Kiel diesen Fehler im Jahre 2016 nicht wiederholen wird.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Meldeversäumnis rechtfertigt nicht Aufhebung von ALG-Bewilligung

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Arbeitslose müssen nicht mehr wie früher beim monatlichen Abholen ihres Arbeitslosengeldes (ALG) „stempeln gehen“, um ihr Geld zu erhalten. Auch wenn ein Arbeitsloser mehrere Meldetermine nicht wahrnimmt, darf die Bundesagentur für Arbeit (BA) das Arbeitslosengeld nicht einfach streichen.

Der Kläger, ein ehemaliger Vertriebsleiter einer großen Versicherung, hatte an drei aufeinanderfolgenden Terminen Meldetermine ohne wichtigen Grund nicht wahrgenommen. Daraufhin hob die BA die ALG-Bewilligung schon nach einem Monat wieder auf. Der Kläger zeige durch sein Fernbleiben – so die Begründung –, dass er den Vermittlungsbemühungen der Behörde nicht mehr zur Verfügung stehe. Daher habe er auch keinen weiteren Anspruch auf ALG. Dieser Argumentation folgte das BSG nicht. Heute setze die Zahlung von ALG voraus, dass der Arbeitslose den Vermittlungsbemühungen der BA „zur Verfügung steht“ (§ 138 SGB III). Hierzu müsse er „objektiv verfügbar“, das heißt erreichbar sein. Zudem müsse er „subjektiv“ verfügbar sein, sprich er muss für Vermittlungsvorschläge offen sein und zumutbare Vorschläge auch annehmen. Das Nichtvorliegen dieser Voraussetzungen lasse sich aber nicht bereits mit der Versäumung von Meldeterminen begründen.

Allerdings habe die BA das Recht, bei Meldeverstößen Sperrzeiten zu verhängen (§ 159 Abs. 1 Nr. 6 SGB III) und bei Verweigerung jeglicher Gesprächsbereitschaft „bis zur Nachholung der Mitwirkung“ das ALG zu entziehen (§§ 61, 66 SGB I). Auch das endgültige Streichen könne im Einzelfall gerechtfertigt sein. (BSG, Urteil vom 14.05.2014, B 11 AL 8/13 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Deutliche Anhebung der Mietobergrenzen im Kreis Steinburg

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Wie die Norddeutsche Rundschau in ihrer heutigen Ausgabe berichtet, gelten „ab sofort“ im Kreis Steinburg neue Mietobergrenzen, die teilweise um 25 % über den bisherigen Höchstgrenzen liegen. Der Artikel Kostenexplosion bei Hartz-IV-Empfängern findet sich hier.

Für die Ämter Breitenburg, Horst-Herzhorn, Itzehoe Land, Kellinghusen, Krempermarsch, Schenefeld, Wilstermarsch, Städte Kellinghusen und Wilster gelten zukünftig nachfolgende Mietobergrenzen:

  • 1 Person (25-50 qm): 319,00 €
  • 2 Personen (50-60 qm): 373,80 €
  • 3 Personen (60-75 qm): 440,25 €
  • 4 Personen (75-85 qm): 498,95 €
  • 5 Personen (85-95 qm): 522,50 €
  • Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied: 55,00 €

Für die Stadt Itzehoe gelten in Zukunft nachfolgende Obergrenzen:

  • 1 Person (25-50 qm): 336,50 €
  • 2 Personen (50-60 qm): 382,80 €
  • 3 Personen (60-75 qm): 454,50 €
  • 4 Personen (75-85 qm): 504,90 €
  • 5 Personen (85-95 qm): 560,50 €
  • Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied: 59,00 €

Für die Stadt Glückstadt gelten zukünftig nachfolgende Obergrenzen:

  • 1 Person (25-50 qm): 306,50 €
  • 2 Personen (50-60 qm): 358,20 €
  • 3 Personen (60-75 qm): 423,75 €
  • 4 Personen (75-85 qm): 499,80 €
  • 5 Personen (85-95 qm): 520,60 €
  • Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied: 54,80 €

Bei den angegebenen Werten handelt es sich um Bruttokalt-Obergrenzen, d.h. die kalten Betriebskosten sind in den Werten enthalten, Heizkosten werden gesondert anerkannt. Quelle ist die Printausgabe der Glückstädter Fortuna (shz). Alle Angaben ohne Gewähr der Richtigkeit. Der Kreis Steinburg hat – soweit hier ersichtlich – bisher keinerlei Zahlen veröffentlicht. Das Gutachten von Analyse & Konzepte über die Mietwerterhebung im Kreis Steinburg wurde vom zuständigen Ausschuss offenbar unter Ausschluss der Öffentlichkeit beraten, wobei hier Gründe für eine nichtöffentliche Beratung im Sinne von § 35 Abs. 1 Satz 2 GO SH („überwiegende Belange des öffentlichen Wohls oder berechtigte Interessen Einzelner“) nicht erkennbar sind.

Nachtrag 04.11.2014: Nach Auskunft des Kreis Steinburg gelten die neuen Mietobergrenzen ab dem 01.03.2014. Das „Konzept zur Ermittlung der Bedarfe für Unterkunft“ der Firma Analyse & Konzepte vom 07.10.2014 findet sich für Interessierte hier.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Umzugskosten und Mietkautionsdarlehen auch bei Umzug in zu teure Wohnung

Schleswig-Holsteinisches LSG

Schleswig-Holsteinisches LSG

Viele Jobcenter übernehmen bei einem nicht notwendigen oder vom Jobcenter veranlassten Umzug auch keine Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten und gewähren kein Mietkautionsdarlehen für die neue Wohnung. Gleiches gilt, wenn die Miete für die neue Unterkunft über der örtlichen Mietobergrenze liegt. Als Begründung verweisen die Jobcenter regelmäßig darauf, sie dürften unnötige Wohnungswechsel und Umzüge in zu teure Wohnungen nicht dadurch unterstützen, dass sie die Umzugskosten anerkennen und Mietkautionsdarlehen gewähren.

Das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde etwa benutzt ein Standardschreiben, in dem mit der Ablehnung der Zusicherung der Kosten der neuen Unterkunft zugleich auch die Umzugskosten sowie das Mietkautionsdarlehen abgelehnt werden. Wörtlich heißt es in den Normschreiben: „Kosten welche im Zusammenhang mit dem Umzug  anfallen (Kaution, Umzugswagen etc.) können nicht übernommen werden, selbst wenn der Umzug aus leistungerechtlicher Sicht erforderlich ist.“

Bundessozialgericht, B 4 AS 37/13 R

In einer aktuellen Entscheidung hat das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 06.08.2014, B 4 AS 37/13 R) nun darauf hingewiesen, dass lediglich die Verpflichtung des Jobcenters zur Übernahme von Umzugskosten und Mietkaution voraussetzt, dass die Kosten der neuen Wohnung angemessen sind und der Umzug zusätzlich notwendig war oder vom Jobcenter selbst veranlasst wurde. Sind die Kosten für die neue Unterkunft unangemessen hoch oder zwar angemessen, liegt jedoch kein Umzugsgrund vor und hat das Jobcenter den Umzug auch nicht veranlasst, muss das Jobcenter dennoch eine Ermessensentscheidung nach § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II treffen. Als Ermessenserwägungen sind hierbei die Umstände einzubeziehen, die zum Auszug geführt haben, aber auch absehbare zukünftige Entwicklungen. Bestehen nachvollziehbare Gründe, die zum Auszug geführt haben, hat sich der Leistungsberechtigte nachweislich um eine Senkung seiner Mietkosten bemüht oder liegen die Kosten der neuen Unterkunft nur geringfügig über der maßgeblichen Mietobergrenze, kann eine Ablehnung der Übernahme von Umzugskosten und der Gewährung eines Mietauktionsdarlehens ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig sein.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 6 AS 181/14 B ER

In einem aktuellen Beschluss vom 09.10.2014 hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (L 6 AS 181/14 B ER) weitere Ermessensgesichtspunkte benannt, die für die Praxis von Bedeutung sind:

„Der Antragsgegner kann die nach § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II zu treffende Ermessensentscheidung nicht schon maßgeblich auf den Gesichtspunkt stützen, dass die Wohnung, die die Antragstellerinnen zu beziehen beabsichtigen, unangemessen i.S. des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist. Dieser Umstand wird vielmehr bereits tatbestandlich vorausgesetzt, weil anderenfalls – in der vorliegenden Situation eines anerkannten Auszugsgrundes – bereits die Regelung des § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II greifen würde, die der leistungsberechtigten Person für den typischen Fall einen Anspruch auf Zusicherung der Umzugs- bzw. Wohnungsbeschaffungskosten zuerkennt. Ermessensrelevant kann daher nur der Umfang der Überschreitung der Angemessenheitsgrenzen sein. Hier ist tendenziell zugunsten der Antragstellerinnen zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zu 1. aus dem Grundfreibetrag (§ 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II) den Differenzbetrag zwischen den tatsächlichen Aufwendungen und der im Rahmen der Mietobergrenze zu tragenden Kosten der Unterkunft einstweilen wird bestreiten können. Auch im Übrigen überzeugen tendenziell eher die seitens der Antragstellerinnen ins Feld geführten Ermessensgesichtspunkte: Zwar greift das Argument der Antragstellerinnen, dass die Höhe der „Transaktionskosten“ in keinem erkennbaren Zusammenhang zur Angemessenheit der neuen Unterkunft stehe und deshalb unter dem Gesichtspunkt der sparsamen Mittelbewirtschaftung auch kein öffentlicher Belang betroffen sei, weil der Auszug anerkanntermaßen notwendig sei und Umzugskosten daher sowieso anfielen, zu kurz. Denn theoretisch könnten die Antragstellerinnen alsbald nach dem Umzug den Entschluss fassen, ob der Unangemessenheit der Unterkunft und der nicht vollständigen Kostenübernahme durch den Antragsgegner kurzfristig wieder in eine dann kostenangemessene Wohnung umzuziehen. Für einen solchen Umzug mussten die Kosten dann möglicherweise grundsätzlich nach § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II übernommen werden, wobei gleichzeitig eine besondere Atypik im Hinblick auf die Sollensregelung hier besonders zu prüfen wäre. Auch die Gefahr des Entstehens von Mietschulden mit einem dann ggf. korrespondierenden Anspruch nach § 22 Abs. 8 SGB II dürfte beim Bezug einer unangemessenen Wohnung eher steigen. Konkret schätzt der Senat diese Risiken im Falle der Antragstellerinnen derzeit aber nicht als so groß ein, dass sie nicht einstweilen hingenommen werden könnten.

Mit den übrigen Argumenten der Antragstellerinnen hat sich der Antragsgegner bis her auch im Schriftsatz vom 9. Oktober 2014 kaum auseinandergesetzt. Sie sind, insbesondere was das Bedürfnis der Antragstellerin zu 1. nach Anmietung einer Wohnung nur in bestimmten Stadtvierteln anbelangt, nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Als wesentlichen Ermessensgesichtspunkt sieht es der Senat aber auch an, dass das Amt für Wohnen und Grundsicherung der Landeshauptstadt Kiel, die zugleich als kommunaler Träger i.S. des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II fungiert, der Antragstellerin zu 1. einen Wohnberechtigungsschein über eine Wohnung mit einer Größe von bis zu 70 qm ausgestellt und sie nach Angabe der Vermieterin für diese konkrete Wohnung vorgeschlagen hat. Dass die wohnraumförderungsrechtlichen Maßstäbe insbesondere wegen der Flächengrenzen von den grundsicherungsrechtlichen Maßstäben abweichen, wie der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 9. Oktober 2014 zutreffend dargestellt hat, bedarf keiner vertiefenden Erörterung. Relevant ist diese Abweichung primär für § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Bei der Anwendung des § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II stellt dieses Verhalten dabei durchaus einen wesentlichen Ermessensgesichtspunkt dar.

Auch die Folgenabwägung streitet vorliegend dafür, den Antragsgegner einstweiligen zur Zusicherung der für den beabsichtigten Umzug anfallenden Aufwendungen zu verpflichten. Dafür ist hier insbesondere der Umstand maßgebend, dass eine Vorwegnahme der Hauptsache, die im einstweiligen Rechtsschutz möglichst vermieden werden sollte, hier nur im Falle einer Ablehnung, nicht aber im Falle des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung erfolgen würde: Würde die hier streitige Zusicherung nicht erteilt werden, würde die Vermieterin der Wohnung im Hinblick auf die seitens der Antragstellerinnen nicht aufbringbare Mietkaution den Mietvertrag wahrscheinlich nicht abschließen und die Wohnung anderweitig vergeben. Die Antragstellerinnen könnten das Hauptsacheverfahren dann nur noch für erledigt erklären. Wird die Zusicherung erteilt, hat der Antragsgegner aber im Anschluss an das Hauptsacheverfahren immer noch die Möglichkeit, die einstweilen in Geld gewährten Leistungen von den Antragstellerinnen zurückzuverlangen, wobei den Großteil des Anspruchs ohnehin das Mietkautionsdarlehen ausmacht.“

Zusammenfassend sind nach der bisherigen Rechtsprechung mithin folgende Ermessensgesichtspunkte zu berücksichtigen:

  • Nachvollziehbare Umzugsgründe.
  • Bemühungen zur Senkung der Mietkosten in der bisherigen Wohnung.
  • Höhe der Überschreitung der Mietobergrenze in der neuen Unterkunft.
  • Möglichkeit, die Mietdifferenz aus anrechnungsfreiem Einkommen zu bestreiten.
  • Umzug in eine Wohnung, die nach wohnraumförderungsrechtlichen Maßstäben angemessen ist (insbesondere Alleinerziehende mit Wohnraummehrbedarf gemäß Wohnberechtigungsschein).
  • Folgenabwägung im gerichtlichen Eilverfahren regelmäßig zugunsten eines Mietkautionsdarlehens.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schimmel in der Wohnung begründet Umzugsgrund

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Von einer Erforderlichkeit des Umzuges kann nicht erst bei Eintritt eines Gesundheitsschadens ausgegangen werden. Bereits bei einer konkreten Gesundheitsgefährdung durch Schimmel in der Wohnung ist das Jobcenter verpflichtet, die Zustimmung zu einem Umzug zu erteilen.

Vor das Sozialgericht gezogen war eine 1982 geborene Empfängerin von Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“). Nachdem sich in ihrer Wohnung nach einer Schimmelentfernung in kurzer Zeit erneut Schimmel gebildet hatte, kündigte sie ihre Wohnung und begehrte vom Jobcenter Kiel die Zustimmung zur Anmietung einer neuen Unterkunft. Diese Zustimmung lehnte das Jobcenter mit der Begründung ab, nach der Stellungnahme des Gesundheitsamts der Stadt Kiel sei bei baulichen Mängeln vorrangig der Vermieter für deren Behebung zuständig. Die Notwendigkeit eines Wohnungswechsels bei Schimmelbefall könne deshalb grundsätzlich nicht ausgesprochen werden. Die Leistungsempfängerin müsse stattdessen bei ihrem Vermieter eine erneute Schimmelsanierung durchsetzen, da andernfalls auch ein Nachmieter einer Gefährdung durch Schimmel ausgesetzt wäre.

Dieser Argumentation folgte das SG Kiel nicht und verpflichtete das Jobcenter Kiel zur Erteilung der begehrten Zusicherung. Denn das Hinwirken auf weitere Beseitigungsmaßnahmen war der Antragstellerin nicht zumutbar. Von der Antragstellerin, so das Gericht, „kann nicht verlangt werden, ihre Gesundheit im Interesse der Solidargemeinschaft weiter zu gefährden. Etwas anderes kann auch im Hinblick auf die Stellungnahme des Gesundheitsamts nicht gelten. Zwar sei hiernach ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen nicht notwendig. Zur Begründung wird jedoch nicht etwa ausgeführt, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin seien nicht auf den Schimmelbefall in ihrer Wohnung zurückzuführen und ein Umzug könne ihre Gesundheit daher nicht positiv beeinflussen. Vielmehr hat das Gesundheitsamt die nicht in seinen Aufgabenbereich fallende rechtliche Würdigung vorgenommen, dass bei Schimmelbefall nicht von der Notwendigkeit eines Umzugs ausgegangen werden könne, da der Mieter die Mängelbeseitigung durch den Vermieter herbeizuführen habe. Diese Ausführungen stehen in keinem Zusammenhang mit den von der Antragstellerin geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Weshalb es der Antragstellerin zumutbar sein soll, sich im Interesse etwaiger Nachmieter weiterhin den gesundheitsgefährdenden Zuständen in ihrer Wohnung auszusetzen erschließt sich der Kammer im Übrigen nicht.“

(SG Kiel, Beschluss vom 29.7.2009, S 9 AS 399/09 ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Höhere Regelsätze ab dem Jahr 2015

Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Die Bundesregierung hat am 17. September 2014 eine Erhöhung der Regelbedarfe für Bezieher von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II (ALG II / Hartz IV) sowie für Bezieher von Leistungen der nach dem SGB XII (vor allem Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung) zum 1. Januar 2015 um gut 2 % beschlossen. Die beschlossene Rechtsverordnung bedarf noch der Zustimmung des Bundesrats.

Die Regelsätze werden jährlich überprüft und fortgeschrieben. Das ist im Gesetz über die Ermittlung von Regelbedarfen (RBEG) und § 20 Abs. 5 SGB II und § 28 SGB XII festgelegt.

Die Fortschreibung der Regelbedarfe wird aus einem Mischindex errechnet. Dieser setzt sich zu 70 Prozent aus der regelsatzrelevanten Preisentwicklung und zu 30 Prozent aus der Nettolohnentwicklung zusammen. Für 2014 liegt die Veränderung des Mischindexes für Juli 2012 bis Juni 2013 gegenüber dem Vorjahreszeitraum zugrunde.

Das Statistische Bundesamt ermittelt sowohl die Preisentwicklung regelbedarfsrelevanter Güter und Dienstleistungen wie auch die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter.

Nachfolgender Tabelle sind die künftigen Leistungen, die bisherigen Leistungen (zum Vergleich) sowie der Mehrbedarf für dezentrale Warmwasseraufbereitung (Strom- oder Gasboiler zur Gebrauchswarmwasseraufbereitung, mehr dazu hier) zu entnehmen:

Leistungen bis 31.12.2014

Leistungen ab 01.01.2015

Mehrbedarf für Warmwasser**

Regelbedarfsstufe 1
(alleinstehende oder alleinerziehende Leistungsberechtigte)

391 €

(+ 9 €)*

399 €

(+ 8 €)

2,3 %

= 9,18 €

Regelbedarfsstufe 2
(volljährige PartnerIn innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft)

353 €

(+ 8 €)

360 €

(+ 7 €)

2,3 %

= 8,28 €

Regelbedarfsstufe 3
(18 bis einschließl. 24-jährige Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft)

313 €

(+ 7 €)

320 €

(+ 7 €)

2,3 %

= 7,36 €

Regelbedarfsstufe 4
(Jugendliche von 14 bis einschließl. 17 Jahre)

296 €

(+ 7 €)

302 €

(+ 6 €)

1,4 %

= 4,23 €

Regelbedarfsstufe 5
(Kinder von 6 bis einschließl. 13 Jahre)

261 €

(+ 6 €)

267 €

(+ 6 €)

1,2 %

= 3,20 €

Regelbedarfsstufe 6
(Kinder unter 6 Jahre)

229 €

(+ 5 €)

234 €

(+ 5 €)

0,8 %

= 1,87 €

Quelle: Bundesregierung

* Veränderungen zum Vorjahr 2013
** Rundung nach § 41 Abs. 2 SGB II

Weitere erhöhte Mehrbedarfe und Barbeträge

Mit der Anhebung der Regelbedarfe steigen zudem die Mehrbedarfe und die Barbeträge für Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Einrichtungen. Voll erwerbsgeminderte Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII, deren Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „G“ enthält, erhalten einen Mehrbedarf in Höhe von 17 % ihrer Regelbedarfsstufe. Leistungsbezieher, die Eingliederungshilfe erhalten, bekommen einen Mehrbedarf in Höhe von 35 % ihrer Regelbedarfsstufe. Entsprechend den erhöhten Regelbedarfsstufen steigen auch die Mehrbedarfe für Schwangere, Alleinerziehende sowie für Kranke, die eine kostenaufwändige Ernährung benötigen (vgl. § 21 Abs. 2 bis 6 SGB II). Auch die Höhe des Barbetrags (sog. Taschengeld in stationären Einrichtungen) verändert sich ab dem 01.01.2015. Er beträgt 27 % des Regelbedarfs der Regelbedarfsstufe 1 von dann 399 €, also 107,73 €.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Preiserhöhung bei den Stadtwerken Kiel: Branchenüblich, verbraucherfeindlich, Gift für den Klimaschutz

KMVKiel, 18.03.2014. Für den Kieler Mieterverein ist die aktuelle Kündigungswelle von Wärmelieferungsverträgen durch die Stadtwerke nur die konsequente Fortsetzung eines langen Weges der Stadtwerke, auf dem sie sich mit Riesenschritten von einem vorbildlichen kommunalen Unternehmen zu einem Energieversorger entwickeln, der nur noch schwer von den Großen der Branche zu unterscheiden ist.

Es ist noch gar nicht lange her, dass der Kieler Mieterverein die Stadtwerke ausdrücklich wegen ihres Fernwärmetarifes gelobt hat. Der war nämlich ursprünglich zu 100 % linear. Haushalte, die bewusst Raumwärme und Energie gespart haben, wurden durch außerordentlich niedrige Heizkosten belohnt, Vielverbraucher durch hohe Heizkosten zum sparsamen Verbrauch von Raumwärme angeregt. Der Tarif war zugleich ein ganz starker Anreiz an Kiels Vermieter, ihre Heizungsanlagen zu modernisieren und den Wärmeschutz ihrer Gebäude zu verbessern. Solche Maßnahmen zahlten sich unmittelbar in spürbar niedrigeren Energiekosten aus.

Diesen Trend haben die Stadtwerke vor wenigen Jahren abrupt gestoppt mit der Einführung eines gesplitteten Tarifs, nach dem 50 % der Heizkosten verbrauchsunabhängig als Grundkosten umgelegt und nur noch die zweite Hälfte verbrauchsabhängig abgerechnet wurde. Resultat: Der  Nutzeffekt energetischer Investitionen hat sich ebenfalls halbiert und damit das Interesse in Energieeinsparung zu investieren. Der Kieler Mieterverein hatte seinerzeit mit Brandbriefen an verantwortliche Wohnungs- und Energiepolitiker versucht, den Tarifwechsel zu verhindern. Leider erfolglos.

Vor wenigen Monaten haben die Stadtwerke dem Kieler Mieterverein dann eröffnet, dass sie den ohnehin sehr viel nachteiligeren 50 % zu 50 %-Tarif noch einmal verschärfen wollen. Der Grundkostenanteil wird weiter erhöht mit der Folge, dass Abnehmer mit sehr niedrigem Energieverbrauch höher belastet und Hochverbraucher entlastet werden. Klimaschutz ade! Mit der aktuellen Kündigungswelle wird die Absicht umgesetzt.

Der Kieler Mieterverein hält seine Kritik an den Stadtwerken aufrecht und fordert die Verantwortlichen in Kiel, in Mannheim und bei den Stadtwerken auf, den Schritt noch einmal zu überdenken. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit geht der Kieler Mieterverein aber davon aus, dass auch dieser Appell verpuffen wird. Schließlich hat sich die Stadt die Suppe selbst eingebrockt. Wer seine Unternehmen der Daseinsvorsorge einfach verscheuert, darf sich nicht wundern, wenn die Erwerber mit diesen Unternehmen genau das Riesengeschäft machen, das die Stadt mit ihrem Eigenbetrieb eigentlich verhindern wollte. Das war bei der KWG so, die in kommunaler Trägerschaft preiswertes und sicheres Wohnen in einem gepflegten Gebäudebestand garantiert hat. Die Erwerberin Deutsche Annington ist an der Landeshauptstadt nicht interessiert, sondern an ihrer eigenen Rendite. Das ist jetzt bei den Stadtwerken genauso. Der Mehrheitseigentümer sitzt in Mannheim. Was interessiert es den, ob es in Kiel gelingt, den Klimaschutz zu fördern und eine preiswerte faire Fernwärme anzubieten.

Dies alles spräche dafür, dass die Stadt die fehlenden zwei Prozentpunkte zurückkauft, um wieder die Mehrheit bei den Stadtwerken zurück zu erlangen. Aber auch diese Hoffnung wird wohl illusorisch sein, weil der Preis für diese zwei Prozentpunkte heute wohl höher liegen wird als der damalige Kaufpreis von 51 %.

Deswegen spricht sich der Kieler Mieterverein dafür aus, dass den Stadtwerken Alternativen entgegen gestellt werden. Dies können unabhängige Nahversorgungsnetze für Raumwärme sein, Blockheizkraftwerke, die eine günstige Stromversorgung mit der Erzeugung von Raumwärme verbinden und auch Windkraftanlagen, die dezentral zur Energieversorgung beitragen. Der langsame Wiederaufbau einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft könnte ein derartiges Konzept gut flankieren. Die Ausverkäufer in der Landeshauptstadt haben ihr großen Schaden zugefügt. Aber niemand hindert diese Stadt daran, langfristig zu planen und die Daseinsvorsorge allmählich wieder in eigene Regie zu übernehmen. Es ist höchste Zeit!

Nähere Auskünfte zu allen hiermit zusammenhängenden Fragen erteilt der Kieler Mieterverein für seine Mitglieder. Dessen Geschäftsstelle befindet sich in der Eggerstedtstraße 1, 24103 Kiel. Der Verein ist unter der Rufnummer 0431/97919-0 oder per eMail info@kieler-mieterverein.de zu erreichen.

Verantwortlich: Jochen Kiersch, Kiel

Quelle: Kieler Mieterverein e.V.


Wohnungswechsel nur bei zu hoher Gesamtmiete

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Verlangen Jobcenter von einem Hartz IV-Bezieher wegen zu hoher Heizkosten einen Wohnungswechsel, muss der Umzug wirtschaftlich sein und sich tatsächlich auch rechnen. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), ob Kaltmiete und Heizkosten in der Summe unangemessen hoch sind.

Geklagt hatte eine alleinstehende Frau, die für ihre 48 Quadratmeter große Wohnung eine sehr geringe Kaltmiete von nur 203,64 € inklusive Betriebskosten zahlte. Da die Wohnung jedoch sehr schlecht isoliert war, undichte Fenster hatte und über eine alte Gasetagenheizung verfügte, waren die Heizkosten mit 127,00 € monatlich unangemessen hoch. Der Klägerin standen auch keine Gründe zur Seite, die in ihrem Fall dafür sprachen, dass der Heizbedarf in ihrem Einzelfall doch angemessen war (z.B. Bettlägerigkeit eines Angehörigen oder kleine Kinder im Haushalt).

Eine Pflicht zur Senkung der Unterkunftskosten durch einen Wohnungswechsel kann aber auch bei unangemessenen Heizkosten nur gefordert werden, wenn die tatsächlichen Gesamtaufwendungen für Miete, Betriebskosten und Heizkosten zusammen die Gesamtkosten für eine angemessene Vergleichswohnung übersteigen. Hieran hatte das BSG aufgrund der geringen Bruttokaltmiete der Klägerin Zweifel und verwies das Verfahren deswegen zur weiteren Aufklärung an das Landessozialgericht zurück.

(BSG, Urteil vom 12.6.2013, B 14 AS 60/12 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur rückwirkenden Befreiung vom Rundfunkbeitrag

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Seit dem 01.01.2013 gibt es in Deutschland den geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag. Die Beitragspflicht ist nicht mehr an das Bereithalten eines Rundfunkempfangsgerätes gebunden, sondern an das Bewohnen einer Wohnung: Jeder Wohnungsinhaber muss – unabhängig davon, ob er ein Rundfunkempfangsgerät bereithält sowie von deren Art und Anzahl (zur verfassungsrechtlichen Problematik etwa hier) – einen pauschalen Rundfunkbeitrag von 17,98 € im Monat bezahlen.

Beitragsservice fordert rückwirkend Beiträge nach

In hiesiger Praxis häufen sich seit Mitte 2014 die Anfragen von Beziehern von Leistungen nach dem SGB II, die bisher keine Rundfunkgeräte besessen haben und die nun vom „Beitragsservice“ der öffentlichen Rundfunkanstalten rückwirkend ab 01.01.2013 angemeldet und zur Zahlung der offenen Beiträge aufgefordert werden, die sich mittlerweile auf rund 400 € belaufen.

Was verschwiegen wird: Eine rückwirkende Befreiung ist möglich

Worauf der „Beitragsservice“ der öffentlichen Rundfunkanstalten nicht hinweist: Die Vermutung, dass die angemeldeten Wohnungsinhaber Beitragsschuldner des Beitrages in Höhe von 17,98 € monatlich sind, kann nach § 14 Abs. 5 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages  (RBStV) durch Übersendung der „Bescheinigung über den Leistungsbezug zur Vorlage bei dem Beitragsservice von ARD, ZDF und Deutschlandradio“, die jedem ALG II Bescheid als letzte Seite angefügt ist, widerlegt werden. Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) werden dann rückwirkend ab 01.01.2013 von der Beitragspflicht befreit.

Wer bereits gezahlt hat: Frist 31.12.2014 beachten!

Leistungsberechtigte, die für Zeiträume, in denen eine Befreiung möglich gewesen wäre, bereits den Rundfunkbeitrag bezahlt haben, müssen sich sputen: „Eine Erstattung bereits geleisteter Rundfunkbeiträge kann vom Beitragsschuldner nur bis zum 31.12.2014 geltend gemacht werden.“ (§ 14 Abs. 5 Satz 3 RBStV)

Wichtig: § 14 RBStV gilt nur für die sog. Ersterfassung!

Die Übergangregelungen nach § 14 RBStV gelten nur für die nach dem neuen Beitragsrecht erstmals angemeldeten Beitragsschuldner, vor allem also die bisher mangels Empfangsgeräten nicht angemeldeten Personen (vgl. § 14 Abs. 2 RBStV). Danach ist § 4 Abs. 4 RBStV zu beachten:

„Die Befreiung oder Ermäßigung beginnt mit dem Ersten des Monats, zu dem der Gültigkeitszeitraum des Bescheids beginnt, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach dem Erstellungsdatum des Bescheids nach Absatz 7 Satz 2 gestellt wird. Wird der Antrag erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt, so beginnt die Befreiung oder Ermäßigung mit dem Ersten des Monats, der der Antragstellung folgt. Die Befreiung oder Ermäßigung wird für die Gültigkeitsdauer des Bescheids befristet. Ist der Bescheid nach Absatz 7 Satz 2 unbefristet, so kann die Befreiung oder Ermäßigung auf drei Jahre befristet werden, wenn eine Änderung der Umstände möglich ist, die dem Tatbestand zugrunde liegen.“

Derzeitige Bearbeitungszeiten des Beitragsservices

Wer in diesen Tagen einen Befreiungsantrag beim Beitragsservice stellt, muss sich auf längere Bearbeitungszeiten einstellen. So wurde ein am 22.09.2014 per Telefax gestellter Antrag erst am 28.11.2014 beschieden. In dem Befreiungsbescheid entschuldigt der Beitragsservice für die lange Bearbeitungszeit: „Da wir aktuell sehr viele Anfragen erhalten, kommt es leider zu Verzögerungen.“

Angebliche Ratenzahlungsersuchen über 50 € monatlich

Mehrere Kommentatoren dieses Beitrages haben zwischenzeitlich berichtet, der Beitragsservice habe auf ihre Anträge auf (rückwirkende) Beitragsbefreiung mit der Annahme tatsächlich nie geäußerter Ratenzahlungsersuchen über einen Betrag in Höhe von monatlich 50 € geantwortet (siehe die Kommentare). Offenbar versucht der Beitragsservice, auf diesem Wege tatsächlich nicht berechtigte Beitragsforderungen durchzusetzen. Denn leisten Betroffene Ratenzahlungen, obwohl sie einen Anspruch auf rückwirkende Befreiung haben, gilt nach § 14 Abs. 5 Satz 3 RBStV: „Eine Erstattung bereits geleisteter Rundfunkbeiträge kann vom Beitragsschuldner nur bis zum 31.12.2014 geltend gemacht werden.“ Das heißt mit anderen Worten: Seit dem 01.01.2015 können die ohne rechtliche Verpflichtung gezahlten Raten selbst nach einer nachträglichen Befreiung vom Beitragsservice nicht zurückgefordert werden. Zudem besteht das Risiko, dass Zahlungen vom Beitragsservice als sog. „faktisches Anerkenntnis“ der Beitragspflicht gewertet werden. Betroffene, die sich sicher sind, einen Anspruch auf rückwirkende Befreiung vom Rundfunkbeitrag zu haben, sollten deswegen auf gar keinen Fall auf die dubiosen Ratenzahlungsangebote des Beitragsservices eingehen.

Mehr zum Thema:

Junge Welt vom 03.09.2014: Kein Schuldner per se
Büro der Bürgerbeauftragten, Presseinformation vom 25.11.2014:  Hartz IV: Rückwirkende Befreiung vom Rundfunkbeitrag möglich
Beispiel für einen rückwirkenden Befreiungsbescheid ab 01.01.2013
Möglichkeit zur drei Jahre zurückwirkenden Befreiung vom Rundfunkbeitrag wird Gesetz

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue ALG II-Bescheide ab 18.08.2014

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Die Bundesagentur für Arbeit stellt in ihren Jobcentern ab dem 18. August 2014 stufenweise auf eine neue Software um. Mit ALLEGRO werden künftig Geldleistungen berechnet und Bescheide erstellt. ALLEGRO steht für „AlgII-Leistungsverfahren Grundsicherung Online“ und löst das bisherige Programm A2LL ab. Alle Jobcenter, die von Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit gemeinsam betrieben werden, nutzen künftig die neue Software. (Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit). Begründet wird die Umstellung unter anderem mit der besseren Verständlichkeit der neuen Bescheide. Hiervon freilich kann keine Rede sein.

Gesamtbetrag nicht mehr im Bescheid ausgewiesen

Vollkommen unverständlich ist, warum auf der ersten Seite der neuen Bewilligungsbescheide der der Bedarfsgemeinschaft zustehende Gesamtbetrag nicht mehr ausgewiesen ist, sondern sich erst auf der letzten Seite des Berechnungsbogens findet. Eine Schildbürgerstreich ersten Ranges, der absehbar zu unzähligen Nachfragen nicht nur in den Jobcentern, sondern auch bei Rechtsanwälten und in Beratungsstellen führen wird. Auf die Kritik aus der Mitarbeiterschaft lässt die Bundesagentur wissen (Seite 9): „Die Beauftragung einer Änderungsanforderung wird aktuell hinsichtlich Realisierbarkeit und Aufwand geprüft.“

Neue Bedarfsgemeinschaftsnummern

Die Vergabe neuer Bedarfsgemeinschaftsnummern wird jedenfalls in einer Übergangszeit zu erheblichen Mehrarbeit führen, die Angabe der Kundennummern auf den Bewilligungsbescheiden erscheint weder erforderlich noch trägt die Angabe sonderlich zur Übersichtlichkeit bei.

Keine Gewährung von „Abschlagszahlungen“ mehr möglich

Bisher hatten die Jobcenter die Möglichkeit, recht unbürokratisch „Abschläge“ auf die ALG II-Leistungen des Folgemonats zu gewähren, um so akute Notlagen abzuwenden (Paradefall: Gestohlenes Portemonnaie). Die Abschlagszahlungen wurde regelmäßig zeitnah mit den Leistungen des Folgemonats verrechnet. Dies wird zukünftig nicht mehr möglich sein. Zur Begründung führt die Bundesagentur aus (Seite 10): „In A2LL konnte in der Zahlungsübersicht auch eine noch nicht fällige Zahlung (ggf. auch nur teilweise) als fällig gekennzeichnet und ausgezahlt werden. Da dieses Vorgehen rechtlich problematisch ist, erfolgt hier keine Unterstützung durch ALLEGRO. In Notlagen kann ein Darlehen (z. B. bei einem unabweisbaren Bedarf nach § 24 Abs.1 SGB II) gewährt werden.“ Die unbürokratische Gewährung von Abschlägen hat sich in der Praxis bewährt und vielen Hilfebedürftigen schnell zu existenzsichernden Leistungen verholfen. Demgegenüber ist die Gewährung eines Darlehens das, was sich mit Fug als ein „bürokratisches Monster“ bezeichnen lässt.

Ein Anspruch auf die Gewährung von „Vorschüssen“ nach § 42 SGB I besteht weiterhin. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist aber deutlich kleiner. Besteht ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach, ist aber zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich, so kann der Grundsicherungsträger – und muss es bei einem entsprechenden Antrag (§ 42 Abs. 1 Satz 1 SGB I) – auf die Leistungen für den laufenden Monat einen Vorschuss zahlen, der später auf die bewilligten Leistungen angerechnet wird (§ 42 Abs. 2 Satz 1 SGB I).

Kein Sperren der Auszahlungen mehr möglich

Die Möglichkeit zum kurzfristigen Sperren von Auszahlungen bei offenkundigen Berechnungsfehlern hat sich – auch aus anwaltlicher Sicht – als hilfreich erwiesen. Die Bundesagentur hält dieses Vorgehen für „grundsätzlich nicht korrekt“. Nach hiesigen Erfahrungen ist das Problem der „Leistungseinstelleritis“ indes an anderer Stelle zu verorten: Es werden schlicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 SGB III nicht korrekt geprüft.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Umgangskosten: Keine Bagatellgrenze von 10 %

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Nach § 21 Abs. 6 SGB II haben Hartz IV-Empfänger einen Anspruch auf Leistungen für einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen und besonderen Bedarf. In Betracht kommen etwa Leistungen für Pflege- und Hygieneartikel, die aus gesundheitlichen Gründen laufend benötigt werden, die Kostenübernahme für Putz- bzw. Haushaltshilfen für körperlich stark beeinträchtigte Personen oder Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts bei getrennt lebenden Eltern. Nach den „Fachlichen Hinweisen“ der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II in der aktuellen Fassung wird ein Bedarf indessen erst anerkannt, wenn er in der Summe 10 Prozent der maßgeblichen Regelleistungen (bei einer alleinstehenden Person also derzeit 39,10 €) übersteigt. Bei geringeren Mehraufwendungen sei es den Leistungsberechtigten zumutbar, einen höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch Einsparungen in einem anderen Lebensbereich auszugleichen.

Diese Verwaltungspraxis hat das Bundessozialgericht (BSG) in einer aktuellen Entscheidung nun für rechtswidrig erklärt. Nach Auffassung des BSG ist eine Rechtsgrundlage für die Annahme einer allgemeinen Bagatellgrenze nicht zu erkennen. Insbesondere scheide eine Heranziehung der 10 %-Regelung für die Rückzahlung von Darlehen nach § 42a SGB II aus. Denn bei einem Darlehen haben die Leistungsberechtigten das Geld vorher vom Jobcenter erhalten, dass sie dann an dieses zurückzahlen müssen, während es ihnen bei einer Bagatellgrenze vorenthalten würde, obwohl sie darauf einen Anspruch haben.

(BSG, Urteil vom 4.6.2014, B 14 AS 30/13 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ergänzendes zu der rückwirkenden Anerkennung der neuen Kieler Mietobergrenzen ab 01.01.2013

Wappen KielFür Leistungsbezieher nach dem SGB II und SGB XII, die (bisher) zu ihrer Miete hinzu zahlen, dokumentieren wir an dieser Stelle den Redebeitrag des Sozialdezernenten Gerwin Stöcken (SPD) in der Ratsversammlung vom 10.07.2014 im vollen Wortlaut, mit dem ergänzende Aussagen zur rückwirkenden Anerkennung der neuen Mietobergrenzen ab 01.01.2013 getroffen werden.

„Herr Stadtpräsident, meine Damen und Herren,

wir legen Ihnen mit dieser geschäftlichen Mitteilung die Auswirkungen des Urteils des Landessozialgerichts zu den Mietobergrenzen und dem schlüssigen Konzept [dar].

Und zunächst einmal will ich vorwegstellen: Wir gehören zu den wenigen Städten in Deutschland – unter anderem München – die ein gerichtlich anerkanntes schlüssiges Konzept haben. Das ist nämlich gar nicht so einfach, nicht etwa deshalb, weil wir uns auf dem Wohnungsmarkt nicht auskennen, sondern weil wir unser Auskennen auch noch mit statistischen Auswertungen so unterlegen müssen, dass die Gerichte eine abstrakt angemessene Mietobergrenze wahrnehmen können. Deswegen sind wir richtig stolz, dass wir das hinbekommen haben, und jetzt mittlerweile Rechtssicherheit eingetreten ist.

Auch wenn wir hier über abstrakt angemessene Mietobergrenzen sprechen, geht es doch immer um das Wohnen für jeden Einzelnen. Und es muss angemessen sein, die Menschen müssen angemessen wohnen können und überall in der Stadt eine Wohnung finden können. Wir bei der Stadt und gemeinsam mit dem Jobcenter arbeiten daran, dass wir diesen Überblick haben: Gibt es eigentlich genügend Wohnungen in dieser Stadt? Und die jetzt neu formulierte Mietobergrenze plus die Steigerung bei den Nebenkosten führt dazu, dass es Kostensteigerungen gibt. Die ist ausgewiesen in der Tabelle, und wir müssen jetzt aufpassen, dass wir Betriebskostennachzahlungen in Betriebskostenvorauszahlungen umwandeln. Das setzt voraus, dass wir jeden Mietvertrag, dass jeder seinen Mietvertrag daraufhin überprüft, dass der Vermieter auch die richtigen Nebenkosten beschrieben hat. Wenn uns das gelingt, sollte diese Veränderung weitestgehend kostenminimierend oder kostenneutral organisierbar sein, weil wir heute schon große Betriebskostennachzahlungen am Ende Jahres haben, weil der Vermieter eben nicht ordentlich kalkuliert hat, und es dem Mieter anschließend in Rechnung stellt. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt dem Jobcenter schon heute die Erlaubnis geben, schon mit diesen Mietobergrenzen zu verfahren, damit wir diese ganzen Umsetzungsschritte machen können. Wir werden die Richtlinien entsprechend überarbeiten, und all die Themen, die hier eine Rolle spielen, entsprechend aufnehmen, damit wir dann auch eine abstrakt angemessene Mietobergrenze im schlüssigen Konzept haben und eine daraus abgeleitete Richtlinie.

Insofern habe ich den Antrag der Linken nicht verstanden, weil wir genau das sagen: Wir arbeiten die Dinge jetzt ab, Stück für Stück, wann immer ein Antrag angefasst wird, wann immer eine Akte angefasst wird, gucken wir: Müssen wir hier bis 2013 rückwirkend auch Nachzahlungen vornehmen? Ich würde der Ratsversammlung abraten davon, die Formulierung auch in dem neuen Antrag zu übernehmen, denn die Ratsversammlung bewilligt diese Kosten nicht. Die Ratsversammlung setzt das Jobcenter in die Lage, entsprechende Bewilligungen aussprechen zu können. Bitte lassen Sie uns dabei bleiben: Das Jobcenter setzt für uns das SGB II um, und wir schreiben in den Richtlinien fest, wie es dies machen soll. Wir bewilligen aber nicht aus der Ratsversammlung heraus Kosten. Das ist mir ganz wichtig, hier zu erwähnen.

Wir haben im Bundestag die Diskussion gehabt um den Mindestlohn. Und ich habe mir mal die Mühe gemacht ihnen zu sagen: Was bedeutet dieser Mindestlohn eigentlich auch für uns in Kiel, wenn der so umgesetzt wird? Und dazu müssen Sie wissen: Die neue Mietobergrenze für eine einzelne Person ist 332,00 €, wenn die Betriebskosten richtig berechnet sind, plus etwa 60,00 € Heizkosten, habe ich mal so überschlagen, 382,00 € Regelsatz [Anm.: seit 01.01.2014 391,00 €], sind 774,00 €, die monatlich zu zahlen sind. Wenn jemand arbeiten geht und 160 Stunden im Monat, das ist etwa eine Vollzeitstelle, mit 8,50 € Geld verdient, dann kommen dazu noch Freibeträge, von 100,00 € + 180,00 €, also von 280,00 €, ungefähr Überschlag, so das er einen Anspruch von 1.054,00 € hat. Der Nettolohn bei 8,50 € ist 1.013,92 €, wenn ich dem Gehaltsrechner des Internets glaube, mag auch ein bisschen mehr, mag auch ein bisschen weniger sein. Sie sehen also, dass die Mietentwicklung in Kiel ausmacht, ob man mit dem Mindestlohn, der irgendwo festgelegt wird, auskömmlich in Kiel leben kann. Und deswegen ist es mir so wichtig, immer darauf hinzuweisen, nicht etwa, weil ich den Menschen Geld wegnehmen will, sondern ich will dafür sorgen, dass die Kostenentwicklung in Kiel sich nicht so entwickelt, dass man von einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn allein gar nicht leben kann, sondern man muss immer noch mal Geld dazu kriegen.

Das ist mir wichtig, und deswegen auch meine Bitte, auch an der anderen Stelle dafür zu sorgen, nicht zu meinen, mit mehr Geld habe ich schon Sozialpolitik gemacht. Sondern nur dann, wenn wir die Dinge so übereinander bringen, dass die Dinge funktionieren können, dann haben wir ordentliche Sozialpolitik gemacht.

Ich glaube, dass wir mit der geschäftlichen Mitteilung die Voraussetzungen legen, dass die Ratsversammlung diese Wirkung dieses Urteils wirklich gründlich prüfen und studieren kann und dann die richtigen Ableitungen treffen kann. Heute oder Morgen schon Geld in die Hand zu nehmen, halte ich für falsch, denn wir werden alles tun, es wird so sein, dass jeder seinen Anspruch ohne Antrag durchsetzen kann. Auch das ist mir wichtig, hier öffentlich zu sagen: Es muss niemand einen Antrag stellen. Wenn jemand das machen möchte, kann er es gerne tun. Es muss niemand einen Antrag stellen. Alle halbe Jahr wird jede Akte angefasst, alle halbe Jahr wird überprüft: Sind Nachzahlungen zu leisten? Und dann werden sie gewährt. Niemand muss einen Anwalt beauftragen, um diese Ansprüche durch anwaltliche Vertretung durchzusetzen. Das wird das Jobcenter aus eigener Veranlassung tun. Und es wird ein wenig dauern, auch das ist wichtig zu wissen, dass wir das jetzt nicht beschleunigen können, weil im Jobcenter gerade die Software umgestellt wird, von A2LL, sie wissen, dieses Programm, das nicht so gut funktioniert, in Allegro, und in diese Situation würde jetzt auch dieses fallen, und deswegen kann es nur so sein, wie wir das hier in der geschäftlichen Mitteilung geschrieben haben. Auch wenn der Zeitraum 01.01.2015 erreicht ist, werden wir trotzdem das Jobcenter bitten, und anweisen, auch nachträglich zu bewilligen.

Das ist zu dieser geschäftlichen Mitteilung ergänzend zu sagen. Ich danke für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir dann so verfahren können, danke.“

Der Videomitschnitt findet sich hier. Dank für das Lektorat an Björn Nickels.

Anmerkungen

Die Ergänzungen zur geschäftlichen Mitteilung sind zu begrüßen. Mit ihr werden die wesentlichen aus der Sicht von Leistungsbeziehern und ihren Beratern noch offenen Fragen beantwortet.

Nach hiesiger Einschätzung kann davon ausgegangen werden, dass die Stadt und das Jobcenter Kiel – auch nach Ablauf der Überprüfungsfristen zum 01.01.2015 – rückwirkend ab 01.01.2013 Leistungen für die Unterkunft auf der Grundlage der neuen Mietobergrenzen nachzahlen werden. Diese Beurteilung beruht auf zwei Erwägungen: Zum einen scheinen Stadt und Jobcenter Kiel das Gerechtigkeitsproblem erkannt zu haben, welches darin bestünde, nur jenen Leistungsberechtigten, die rechtzeitig einen Überprüfungsantrag stellen, Unterkunftskosten in rechtmäßiger Höhe nachzuzahlen. Zum anderen wäre der politische Flurschaden eines Wortbruches wohl um ein Vielfaches höher als der monetäre „Gewinn“ für die Stadt Kiel durch eingesparte Sozialleistungen in letztlich doch geringer Höhe.

Für die Anwaltschaft bleibt die Situation indes schwierig. Rechtsansprüche, die sich notfalls auch auf dem Rechtswege durchsetzen lassen, begründen die Positionierungen der Stadt nicht. Deswegen ist jeder Rechtsanwalt – auch haftungsrechtlich – auf der „sicheren Seite“, wenn er seinen Mandanten dazu rät, doch lieber vorsorglich für alle Fälle einen Überprüfungsantrag zu stellen. Aufgrund der nunmehr geklärten Rechtslage scheint eine anwaltliche Vertretung indessen nicht mehr erforderlich. Mandanten sollten über die Rechtslage aufgeklärt sowie auf die Möglichkeit eines formlosen Überprüfungsantrages, welcher einer Begründung nicht mehr bedürfen sollte, hingewiesen werden. Im Regelfall sollte es damit sein Bewenden haben können.

Ratsherrn Stefan Rudau von der Ratsfraktion DIE LINKE ist an dieser Stelle für seinen Antrag zu danken. Ohne sein beharrliches Nachbohren wäre dieses wichtige Thema nicht erörtert und die entsprechenden Klarstellungen seitens der Stadt so nicht getroffen worden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Handlungsanweisungen des Kreises Plön zu den Kosten der Unterkunft

Ortsschild PlönDer Kreis Plön hat neue Handlungsanweisungen zu den Kosten der Unterkunft für Bezieher nach dem SGB II (Hartz IV) und SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfe zum Lebensunterhalt) erlassen, die sich hier finden.

Neue Regelungen für unter 25jährige

Im Zuge der Überarbeitung seiner Handlungsanweisungen hat der Kreis Plön auch die Regelungen für unter 25jährige geändert. In den bis einschließlich Oktober 2013 gültigen Handlungsanweisungen war noch geregelt, dass bei unter 25jährigen Unterkunftskosten nur in Höhe der pauschalierten BAföG-Sätze (derzeit 224,00 €, im Zeitpunkt des Erlasses der Anweisung noch 205,00 €) anerkannt werden können:

„Grundsätzlich ist diesem Personenkreis ein möbliertes Zimmer zuzumuten. Als Richtwert ist dabei eine Miete von 205 € incl. Heiz- und Nebenkosten anzusetzen. Steht eine Wohnung zur Verfügung, deren Miete sich im Rahmen dieser Kosten hält und nachweislich Folgekosten nicht entstehen, kann auch die Anmietung einer kleinen Wohnung angemessen sein.“

Diese Regelung, die sich auch in den Handlungsanweisungen anderen Grundsicherungsträger wie etwa der Stadt Kiel findet, hatten die Sozialgerichte in mehreren Verfahren für rechtswidrig erklärt. In der neuen Handlungsanweisung des Kreises Plön heißt es zu dieser Thematik nun:

„Grundsätzlich ist darauf hinzuwirken, dass dieser Personenkreis, entsprechend den Lebensgewohnheiten vergleichbarer Personengruppen, auf einen besonders preisgünstigen Wohnraum (ein möbliertes Zimmer oder ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft) verwiesen wird.“

Das klingt nach einem wenig praxistauglichen Kompromiss. Denn Leistungsberechtigte lassen sich nicht auf Wohnraum „verweisen“. Sie suchen sich auf dem freien Wohnungsmarkt Wohnungen und legen Mietangebote mit dem Antrag auf Zusicherungserteilung beim Grundsicherungsträger (§ 22 Abs. 4 SGB II bzw. § 35 Abs. 2 Satz 3-4, 6 SGB XII) vor. Liegen die Mietangebote innerhalb der maßgeblichen Obergrenzen, wird der Grundsicherungsträger die Zusicherung erteilen und die Mietkosten übernehmen müssen. Eine Ablehnung unter Hinweis auf die Möglichkeit der Anmietung eines möblierten Zimmers oder eines Zimmers in einer Wohngemeinschaft wäre rechtswidrig.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen heute Thema in der Kieler Ratsversammlung

Wappen KielIn der heutigen Kieler Ratsversammlung werden erneut Themen erörtert, die für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) und SGB XII (Grundsicherung im Alter usw.) von erheblicher Bedeutung sind. Die Tagesordnung finden Interessierte hier. Zu den einzelnen Tagesordnungspunkten finden sich auch Links auf die dazugehörigen Drucksachen.

Geschäftliche Mitteilung zu den neuen Mietobergrenzen

In einer „Geschäftlichen Mitteilung“ wird das Amt für Familie und Soziales (Stadtrat Gerwin Stöcken) das neue Konzept der Stadt Kiel zur Berechnung der angemessenen Kosten der Unterkunft für Bezieher/innen von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II und XII vorstellen. Die Ratsversammlung wird das Konzept nicht beschließen, sondern die „Geschäftliche Mitteilung“ zur Kenntnis nehmen.

Höhere Unterkunftskosten für unter 25jährige

Erneut wird die Ratsfraktion DIE LINKE den Antrag in der Ratsversammlung einbringen, die Mietobergrenzen für unter 25jährige ohne abgeschlossene Berufsausbildung in Höhe von derzeit 224,00 € bruttowarm (Gesamtmiete inklusive Heizkosten) an die für alle Leistungsbezieher geltenden Obergrenzen anzupassen und die rechtswidrigen Sonderregelungen für junge Erwachsene ersatzlos zu streichen. Mehr zum Thema:
Linke Ratsfraktion fordert höhere Mietobergrenzen für unter 25jährige
Kieler Ratsversammlung debatiert Mietobergrenzen für unter 25jährige

Rückwirkende Anpassung der Mietobergrenzen ab 01.01.2013

Mit einem weiteren Antrag wird die Ratsfraktion DIE LINKE zudem fordern, dass die neuen Mietobergrenzen rückwirkend zum 01.01.2013 automatisch auch in den Fällen angepasst werden, in denen Betroffene, die zu ihrer Miete hinzu zahlen, keinen Antrag auf Überprüfung stellen. Die „Geschäftliche Mitteilung“ vom 13.06.2014 ist in diesem Punkt zumindest missverständlich.

In der heutigen Beratung hat ein Mandant hier erstmals einen Bescheid (Grundsicherung nach dem SGB XII) vom 27.06.2014 vorgelegt, in dem ab 01.07.2014 die neue Mietobergrenze für einen Einpersonenhaushalt in Höhe von 332,00 € anerkannt wird. Weiter heißt es in dem Bescheid:

„Die Mietobergrenze hat sich rückwirkend ab Januar 2013 von 316,00 € auf 332,00 € erhöht. Die Nachzahlung haben wir heute angewiesen.“

Es ist vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass die Stadt Kiel – anders als in der Vergangenheit – die neue Mietobergrenzen tatsächlich von sich aus rückwirkend anerkennen und Sozialleistungen nachzahlen wird. Solange indessen keine rechtsverbindliche Erklärung der Stadt Kiel vorliegt, auch nach Ablauf der Überprüfungsfristen zum 31.12.2014 für das Jahr 2013 in zu geringer Höhe gewährte Unterkunftskosten nachzuzahlen, ist Betroffenen weiterhin zur Stellung fristwahrender Überprüfungsanträge zu raten.

Mehr zu diesem Thema:
Geschäftliche Mitteilung zu den neuen Kieler Mietobergrenzen
Höhere Mietobergrenzen für Kiel

Interessierte Bürger könne die Ratsversammlung heute ab 14.00 Uhr im Livestream beim Offenen Kanal Kiel verfolgen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Über Roben und andere Herzensdinge

Immer wieder fange ich mir strenge Blicke und Ermahnungen von – vor allem – Richterinnen ein, wenn ich zu einer mündlichen Verhandlung am Sozialgericht meine Anwaltsrobe nicht mitgenommen habe. Natürlich bin ich im Interesse meiner Mandanten stets darauf bedacht, Richter gewogen zu stimmen, und sogar bereit, mich dafür in schwarzes Tuch zu hüllen – wenn es denn der Rechtsfindung dient.

Der schleswig-holsteinische Rechtsanwalt: (Fast) Robenfrei seit 1971

Trotzdem muss es nun einmal gesagt werden: Das Sozialgericht hinkt der Rechtsentwicklung 43 Jahre hinterher. Und das ist dann doch eine beachtliche Zeit.

§ 89 des Ausführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 24.04.1878 in der Fassung der Bekanntmachung vom 31.12.1971 lautete:

„Richter, Staatsanwälte, auf Lebenszeit angestellte Amtsanwälte und Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tragen in den öffentlichen Sitzungen eine von dem Ministerium für Justiz, Kultur und Europa zu bestimmende Amtstracht. Dieselbe Vorschrift findet Anwendung auf die in den öffentlichen Sitzungen der Oberlandesgerichte und Landgerichte auftretenden Rechtsanwälte. Die nicht auf Lebenszeit angestellten Amtsanwälte sind befugt, die für die Amtsanwälte bestimmte Amtstracht zu tragen.“

Der Rechtsanwalt war also schon bisher lediglich in den öffentlichen Sitzungen der Oberlandesgerichte und Landgerichte, nicht also u.a. in den Sitzungen vor den Sozialgerichten, verpflichtet, seine Anwaltsrobe zu tragen.

Frischer Wind unter Rot-Grün-Blau

Es mag einigen RichterInnen die Zornesröte ins Gesicht treiben und sie werden jetzt sehr, sehr tapfer sein müssen: Mit dem Gesetzt zur Aufhebung der landesrechtlichen Vorschriften über die Berufstracht von Rechtsanwälten vom 31.05.2014 ist auch die Pflicht der Rechtsanwaltschaft zur Tragung ihrer Anwaltsrobe in den öffentlichen Sitzungen der Oberlandesgerichte und Landgerichte aufgehoben und Satz 2 in § 89  des Ausführungsgesetzes ersatzlos gestrichen worden (Gesetzes- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 2014, Ausgabe 26.06.2014, Seite 92).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Deckelung der Unterkunftskosten bei Neueintritt der Hilfebedürftigkeit

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Zieht ein Hartz IV-Empfänger um, ohne dass dieser Umzug erforderlich war (etwa infolge einer Kündigung durch den Vermieter, weil die Wohnung zu teuer oder die Wohnverhältnisse unzumutbar waren), werden für die neue Wohnung lediglich die bisherigen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung der alten Wohnung anerkannt, § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

In einem aktuellen Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) nun entschieden, dass die Voraussetzungen für die fortgesetzte Begrenzung der vom Jobcenter zu zahlenden Kosten für Unterkunft und Heizung auf die geringeren Kosten der zuvor von dem Leistungsberechtigten bewohnten Wohnung entfallen, wenn dessen Hilfebedürftigkeit für mindestens einen Kalendermonat durch bedarfsdeckendes Einkommen überwunden wurde und der Leistungsberechtigte dadurch aus dem Leistungsbezug ausgeschieden war. Mit Eintritt der neuen Hilfebedürftigkeit liegt danach ein neuer Leistungsfall vor, bei dem die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in der gesetzlichen Höhe zu übernehmen sind.

(BSG, Urteil vom 09.04.2014, B 14 AS 23/13 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geschäftliche Mitteilung zu den neuen Kieler Mietobergrenzen

Wappen KielIn der Geschäftlichen Mitteilung vom 13.06.2014 erklärt das Amt für Familie und Soziales, die Kieler Mietobergrenzen auf Grund der neuen Berechnungsmethode des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts „rückwirkend zum 01.01.2013 anzupassen“.

Automatischen Anpassung an die neuen Obergrenzen?

Zum Verfahren heißt es in der Mitteilung:

„In der Praxis erfolgt die Anpassung der Leistungen nach dem SGB II und SGB XII schrittweise im Rahmen der „laufenden Bearbeitung“ – insbesondere in Hinblick auf die Prüfung, wie weit eine rückwirkende Anpassung möglich ist und ob angemessene Betriebskostenvorauszahlungen vereinbart sind. Des Weiteren erfolgt die Umsetzung im Widerspruchsverfahren oder bei der Bearbeitung von Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X.“

Unklar bleibt, ob die Stadt beabsichtigt, Leistungsberechtigten, welche zu ihrer Miete hinzuzahlen, von sich aus rückwirkend ab 01.01.2013 Unterkunftskosten in Höhe der neuen Mietobergrenzen auch außerhalb von fristwahrend gestellten Überprüfungsanträgen und rechtzeitig eingelegten Widersprüchen nachträglich zu gewähren. Die Formulierung, die Anpassung erfolge „schrittweise im Rahmen der „laufenden Bearbeitung“ – insbesondere in Hinblick auf die Prüfung, wie weit eine rückwirkende Anpassung möglich ist“, lässt hier die gebotene Klarheit vermissen. Vor diesem Hintergrund ist Betroffenen weiterhin zu raten, vorsorglich bis spätestens 31.12.2014 einen Überprüfungsantrag zu stellen.

Vorläufige Umsetzung ohne Ratsbeschluss

Mit Fug als ein Novum kann bezeichnet werden, dass die Verwaltung beabsichtigt,

„die o.g. Mietobergrenzen vorläufig umzusetzen und eine Beschlussfassung durch die Ratsversammlung mit der Neuberechnung zum 01.01.2015 – einschließlich einer Überarbeitung der gesamten Richtlinien – vorzubereiten.“

Dies dürfte bedeuten, dass die neuen Mietobergrenzen ab sofort „gelten“ und vom Jobcenter Kiel sowie den Trägern der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII angewandt werden. Diese Entscheidung ist vernünftig. Sie liegt im Interesse der Hilfebedürftigen und der Stadt Kiel. Für letztere verhindert sie unnötige sowie arbeits- und kostenintensive Widerspruchsverfahren.

Zukünftiger Umgang mit Betriebskosten unklar

Nicht ganz deutlich wird, wie die Stadt zukünftig insbesondere bei der Prüfung von Mietangeboten im Rahmen der Neuanmietung von Wohnraum die Betriebskosten berücksichtigen will. In der Geschäftlichen Mitteilung heißt es hierzu:

„Daher wird es darauf ankommen, bei neuen Mietverträgen und bei Mieterhöhungen, darauf zu achten, dass der Anteil der Betriebskostenvorauszahlungen dem durchschnittlichen Wert von 1,55 [€/qm] entspricht. Hier sind entsprechende Vereinbarungen für die Sachbearbeitung der SGB II- und SGB XII-Leistungsabarbeitung notwendig.“

Bei neuen Mietverträgen kommt es ausschließlich auf die Höhe der Bruttokaltmiete an (Produkttheorie). Die isoliert betrachtete Höhe der Betriebskosten ist kein Beurteilungsmaßstab. Da Betriebskosten von Immobilie zu Immobilie erheblich variieren können, kommt es schon gar nicht darauf an, ob „der Anteil der Betriebskostenvorauszahlungen dem durchschnittlichen Wert von 1,55 entspricht.“

Richtig wäre allein, darauf zu achten, dass die geforderten Betriebskostenvorauszahlungen dem zu prognostizierenden Verbrauch entsprechen (vgl. auch § 560 BGB). Sollte dies mit dem – sprachlich verunglückten – Text gemeint sein, wäre der Ansatz richtig. Allerdings ist eine solche Prüfung auch bisher schon erfolgt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietschuldenübernahme auch im Wiederholungsfall

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Gemäß § 22 Abs. 8 SGB II können Mietschulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer Vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Mietschulden sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. In Kiel hat die Trägerversammlung beschlossen, dass die Entscheidung über die Gewährung wohnraumsichernder Hilfen nach § 22 Abs. 8 SGB II durch das Amt für Wohnen und Grundsicherung, Abteilung Wohnungs- und Unterkunftssicherung, wahrgenommen werden soll (vgl. § 44b Abs. 4 SGB II, § 44c Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB II). Beim Jobcenter Kiel gestellte Anträge auf Mietschuldenübernahme werden automatisch an das Amt für Wohnen und Grundsicherung weitergeleitet.

Stadt Kiel: Ablehnung bei wiederholten Mietschulden

In ständiger Verwaltungspraxis lehnt die Stadt Kiel die darlehensweise Übernahme von Mietschulden ab, wenn Antragsteller in der Vergangenheit bereits Mietschulden haben auflaufen lassen und erst recht, wenn deswegen in der Vergangeheit schon einmal wohnungssichernde Hilfen erbracht worden sind. So heißt es zur Begründung in einem Ablehnungsbescheid vom 24.04.2014 etwa:

„Sie befinden sich nicht mehr in einer einmaligen Notlage, sondern haben leider zum wiederholten Male Mietschulden in einer Höhe, die zum Wohnungsverlust führen kann. Zudem haben Sie in der Vergangenheit auch schon wohnungssichernde Hilfen von der Stadt Kiel erhalten. Im August 2004 wurden für Sie Mietrückstände und Verfahrenskosten in Höhe von insgesamt 2.608,98 € zum Erhalt der damaligen Wohnung im (…) als Beihilfe übernommen. Im Mai 2011 erfolgte eine weitere wohnungssichernde Hilfe in Höhe von 792,65 € als Darlehen zum Erhalt der derzeitigen Wohnung im (…).“

Ablehnungspraxis der Stadt Kiel rechtswidrig

In seinen rechtlichen Hinweisen vom 04.06.2014 im Verfahren S 22 SO 9/14 ER hat die 22. Kammer am SG Kiel diese Praxis der Stadt Kiel nun für rechtswidrig erklärt und zur Begründung ausgeführt:

„Entgegen der von der Antragsgegnerin im Bescheid vom 24.04.2014 vertretenen Auffassung geht die Kammer davon aus, dass ein Anordnungsanspruch gemäß § 86 b Abs. 2 SGG glaubhaft gemacht ist. Führt die Schuldenlage zu drohender Wohnungslosigkeit i.S.v. § 22 Abs. 8 S. 1 SGB II, verbleibt einem Grundsicherungsträger für die Ausübung seines Ermessens regelmäßig kein Spielraum (BSG Urteil vom 17.06.2010 – B 14 AS 58/09 R, Rn 31 zur Vorgängervorschrift des § 22 Abs. 5 SGB II). Wirtschaftlich unvernünftiges Handeln, das die drohende Wohnungslosigkeit mitverursacht hat, tritt zurück. Ebenso ist regelmäßig die Tatsache, dass die Mietschulden durch ein Fehlverhalten des Antragsstellers zu 1) entstanden sind, nicht zu berücksichtigen (vgl. BSG Urteil vom 17.06.2010 – B 14 AS 58/09 R, Rn 31). Nur in atypischen Ausnahmefällen kann die Übernahme der Schulden abgelehnt werden. Ein solcher Ausnahmefall kann in Missbrauchsfällen bei gezielter Herbeiführung der Mietrückstände trotz ausreichendem Einkommen oder bei wiederholten Mietrückständen ohne erkennbaren Selbsthilfewillen angenommen werden (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. September 2013, L 19 AS 1501/13 B – juris). Einen solchen atypischen Ausnahmefall vermag die Kammer nach summarischer Prüfung nicht zu erkennen. Allein das wiederholte Entstehen von Mietrückständen und die bereits im Jahr 2004 und 2011 erfolgten wohnungssichernden Hilfen begründen noch kein gezieltes Handeln zu Lasten der Antragsgegnerin, das zu einer rechtmäßigen Versagung der existenzsichernden Hilfe fahren würde.“

Hinweise für Betroffene

Aus hiesiger Beratungspraxis sind Fälle bekannt, in denen Anträge von Bürgern dieser Stadt auf wohnungssichernde Hilfen bei wiederholten Mietschulden vom Amt für Wohnen und Grundsicherung mit dem Hinweis, der Antrag würde ohnehin abgelehnt werden, gar nicht erst angenommen worden sind. Diese Praxis ist rechtswidrig. Die Behörde ist verpflichtet, jeden Antrag anzunehmen, zu prüfen und zu bescheiden. Betroffene sollten daher auf einen schriftlichen Bescheid bestehen. Aufgrund der regelmäßig bestehenden erhöhten Eilbedürftigkeit wird der Stadt in vielen Fällen eine Prüfungsfrist von einigen wenigen Tagen zu setzen sein. Wird der Antrag auf darlehensweise Schuldenübernahme unter Hinweis auf eine wiederholte Antragstellung abgelehnt, ist Betroffenen die Inanspruchnahme sozialgerichtlichen Eilrechtsschutzes anzuraten, da eine Ablehnung mit dieser Begründung vor Gericht keinen Bestand haben wird.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Höhere Mietobergrenzen für Kiel

Wappen KielIn der Berichterstattung der Kieler Nachrichten (KN vom 20.05.2014, Seite 19) wurde der Eindruck erweckt, die Kieler Mietobergrenzen seien mit den Urteilen des SH LSG vom 19.05.2014 in den Verfahren L 6 AS 18/13, L 6 AS 171/12 und L 6 AS 146/13 nur unwesentlich angehoben worden. So wird bei einem Einpersonenhaushalt von einer Steigerung von lediglich 4,50 € berichtet. Dieser Wert beruht auf der unzutreffenden Annahme, die Stadt Kiel habe bislang für einen Einpersonenhaushalt bis zu 327,50 € anstatt – was zutreffend ist – 316,00 € bruttokalt anerkannt. Eine Korrektur dieser falschen Berichterstattung, die u.a. auch von mir angemahnt wurde, haben die KN abgelehnt. Nach internen Berechnungen der Stadt errechnen sich die neuen Mietobergrenzen ab dem 01.01.2013 vorbehaltlich einer Bestätigung durch die Kieler Ratsversammlung wie folgt (alle Angaben ohne Gewähr):

Anzahl der im Haushalt lebenden Personen Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenzen bruttokalt nach Mietspiegel 2012 in der vom Jobcenter ab 1.1.2013 anerkannten Höhe
Mietobergrenzen gemäß den Berechnungen des SH LSG ab dem 1.1.2013
1 bis 50 316,00 €
332,00 € (+ 16,00 €)
2 50-60 379,20 €
398,50 € (+ 19,30 €)
3 60-75 457,50 €
493,50 € (+ 36,00 €)
4 75-85 531,25 €
599,50 € (+ 68,25 €)
5 85-95 593,75 €
670,00 € (+ 76,25 €)
6 95-105 656,25 €
740,50 € (+ 84,25 €)
7 105-115 718,75 €
811,00 € (+ 92,25 €)
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 62,50 €
70,50 € (+ 8,00 €)

Wer in Kiel derzeit zu seiner Miete hinzuzahlt, weil das Jobcenter Kiel nur die aktuell gültige Mietobergrenze anerkennt, sollte einen Antrag auf Überprüfung aller Bewilligungsbescheide für den Zeitraum ab 01.01.2013 stellen (§ 40 Abs. 1 SGB II, § 44 SGB X) und das Jobcenter bitten, ab 01.01.2013 rückwirkend Leistungen für die Unterkunft in Höhe der neuen, vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht festgelegten Mietobergrenzen zu bewilligen. Das Jobcenter Kiel wird voraussichtlich – wie schon in der Vergangenheit – nicht von sich aus eine Überprüfung vornehmen und die Differenz zwischen der alten und der neuen Mietobergrenze bzw. der tatsächlichen Miete (soweit diese unter der neuen Mietobergrenze liegt) nachzahlen. Über gestellte Überprüfungsanträge wird das Jobcenter Kiel erst entscheiden, nachdem die Kieler Ratsversammlung die neuen Mietobergrenzen beschlossen hat. Der Beschluss der Ratsversammlung wird im Monat Juli 2014 erwartet.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Bei Haft kann Sozialamt Miete übernehmen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Verbüßt ein Bezieher von Leistungen nach dem SGB II eine Haftstrafe, erhält er für den Zeitraum seines Haftaufenthaltes keine Leistungen nach dem SGB II, § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II. Die Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 SGB II (6-Monate-Regelung) gilt nur für Krankenhäuser im Sinne von § 107 Abs. 1 SGB V, also nicht einmal für Haft-Krankenhäuser.

Allerdings ist die Erhaltung von Wohnraum für Inhaftierte Aufgabe des Sozialhilfeträgers nach § 67 i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (LSG NRW, Beschluss vom 19.5.2005, L 9 B 9/05 SO ER und Beschluss vom 30.6.2005, L 20 B 2/05 SO ER; Bay LSG, Beschluss vom 20.8.2008, L 7 B 605/08 AS ER und Beschluss vom 17.09.2009, L 18 SO 111/09 B ER).

Die Sozialhilfe setzt ein, sobald der Träger der Sozialhilfe (in Kiel das Amt für Familie und Soziales) Kenntnis von dem Bedarf erlangt hat. Wegen § 16 Abs. 2 SGB I muss der Sozialleistungsträger dabei auch das Bekanntwerden beim SGB II-Leistungsträger (Jobcenter) gegen sich gelten lassen.

Als Maßnahme zur  Erhaltung einer Wohnung (§ 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) können aber nur fällige, noch nicht bezahlte Mieten übernommen werden, da andernfalls kein Wohnungsverlust droht. Erhält das Jobcenter keine oder verspätet Kenntnis vom Haftaufenthalt und fordert es die Leistungen für die Unterkunft deswegen später zurück, kann daher kein Ersatz vom Sozialhilfeträger verlangt werden.

Es ist aus diesem Grunde jedem zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Bezieher von Leistungen nach dem SGB II dringend zu raten, das Jobcenter rechtzeitig vor Haftantritt über die Verbüßung der Freiheitsstrafe zu informieren und bei dem Sozialhilfeträger einen Antrag nach §§ 67 f. SGB XII zu stellen.

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2014

Umfassende Infos zum Thema SGB II / SGB XII und Inhaftierung: sozialrecht justament, Nr. 1, Februar 2013

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bundesagentur für Arbeit: Durch unbekannte Telefonnummern für den Bürger besonders gut erreichbar

(c) Matthias Balzer / pixelio.de

(c) Matthias Balzer / pixelio.de

Im März 2014 berichtete ich in diesem Blog über einen Antrag in der Kieler Ratsversammlung, mit dem die freiwillige Veröffentlichung der Telefonnummern der Mitarbeiter des Jobcenters Kiel gefordert wurde, sowie die teils emotionalen Reaktionen auf diesen Antrag. Der Antrag wurde – wie zu erwarten war – unter Anstimmung von Lobeshymnen auf das „Service Center“, ein von der Bundesagentur für Arbeit betriebenes Call-Center, welches auch das Jobcenter Kiel nutzt, von einer großen Mehrheit der Ratsfraktionen abgelehnt.

„Behörden offenbaren keine Rufnummern“

Eine neue, gänzlich andere Problematik hat nun die Erfahrung eines Mandanten aufgezeigt, der in einem Schreiben an die Bundesagentur für Arbeit folgenden Sachverhalt schildert:

„Gerade habe ich einen Anruf mit Rufnummernunterdrückung erhalten. Dennoch wurde der Anruf entgegen genommen. Die Anruferin stellte sich als Frau T von der Agentur für Arbeit vor und wollte mit mir über ein aktuelles Schreiben sprechen. Auf meinen Einwand, dass ich mit „Anonymus“  keine relevanten Dinge bespreche, wurde erwidert, dass Behörden keine Rufnummern offenbaren. Das sehr provokativ geäußerte Angebot einer schriftlichen Stellungnahme habe ich angenommen. Sofort wurde aufgelegt. Bitte teilen Sie mir mit, ob die Rufnummernunterdrückung zu der üblichen Praxis gehört.“

Tatsächlich sind die Telefonnummern von Behörden – insbesondere aufgrund ihrer in der Regel gleichlautenden und allgemein bekannten Anfangsziffern wie etwa der 901 bei der Stadt Kiel – eine gute Möglichkeit, um sich von der Identität des Anrufers als Mitarbeiter einer Behörde zu überzeugen. Dies gilt vor allem dann, wenn einem die Mitarbeiter persönlich noch nicht bekannt sind. Zudem sind unterdrückte Rufnummern nicht selten ein Hinweis auf einen (unerlaubten) Werbeanruf oder andersartige Missbrauchsversuche, weswegen bei unterdrücken Rufnummern eine gewisse Vorsicht durchaus geboten ist.

Durch unbekannte Telefonnummern besonders gut erreichbar

Das „Kundenreaktionsmanagements“ der Agentur für Arbeit Kiel scheint in der Rufnummernunterdrückung allerdings keinerlei Probleme zu sehen, im Gegenteil. Darauf getrimmt, in freundlich klingenden Floskeln notfalls auch einen Kreis zu quadrieren, werden dem Kunden die Vorzüge des hauseigenen Call-Centers erläutert. Indem Anrufe nämlich über das Service Center gesteuert würden, werde eine „bessere telefonische Erreichbarkeit für die Kunden erzielt“. Hierzu gehöre auch, „dass keine direkten Durchwahlnummern auf dem Telefon-Display angezeigt werden.“ Behördenmitarbeiter, deren Telefonnummern kein Bürger kennt, sind für den Bürger also besonders gut erreichbar. Man lernt offenbar nie aus.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen für Kiel

Sybille Kambeck / janefire.de

Sybille Kambeck / janefire.de

Mit Urteil vom heutigen Tag hat der 6. Senat des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts das neue Konzept der Stadt Kiel zur Bestimmung der Mietobergrenzen für ALG-Empfänger sowie Empfänger von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII im Wesentlichen als schlüssig bestätigt (Az. L 6 AS 18/13, L 6 AS 171/12, L 6 AS 146/13).

Neue Mietobergrenzen

Maximal 332,00 € (statt bisher 316,00 €) Mietkosten (Grundmiete inklusive kalter Betriebskosten) zuzüglich Heizkosten muss das Jobcenter Kiel nach der Entscheidung seit dem 1. Januar 2013 für einen Einpersonenhaushalt in der Stadt Kiel zahlen. Für einen Zweipersonenhaushalt sind danach 398,40 € (statt bisher 379,20 €) als noch „angemessen“ anzuerkennen.

Bezugsgröße unteres Drittel

Nach der Urteilsbegründung ist die Datengrundlage für die Bestimmung der Nettokaltmiete repräsentativ und valide. Die Berücksichtigung lediglich des im unteren Drittel liegenden Preissegmentes zur Bestimmung der Mietobergrenzen im Bereich der Grundsicherung reicht nach Ansicht des Gerichts aus.

Mietspiegel bildet Wohnungsmarkt hinreichend ab

Soweit die tatsächliche Verteilung des mietspiegelrelevanten Wohnungsbestandes in der Stadt Kiel dem Tabellenraster im Kieler Mietspiegel zugeordnet werden kann, bildet das Konzept der Stadt nach Ansicht des Gerichts auch den tatsächlichen Wohnungsmarkt für Grundsicherungsempfänger realitätsgerecht ab. Lediglich die Felder b1 bis b3 des Kieler Mietspiegels seien bei der Berechnung für einen Einpersonenhaushalt zu einem einheitlichen Feld zusammen zu führen, da der tatsächliche Wohnungsbestand nicht der Mietspiegeldifferenzierung (vgl. Mietspiegel 2012, Seite 11) nach dem Ausstattungsstand von Bad und Küche zugeordnet werden könne.

1,55 €/m2 für die kalten Betriebskosten

Hinsichtlich der kalten Betriebskosten wurde das (neue) Konzept und die Berechnung des Jobcenters Kiel bzw. der Stadt Kiel, das zu einem Wert von 1,55 €/m2 gelangt, in vollem Umfang bestätigt.

Revision nicht zugelassen

Die Revision ist im Urteil nicht zugelassen worden, weil sich der Senat im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sieht und die grundsätzlichen Fragen zum Konzept von Mietobergrenzen auf der Grundlage von qualifizierten Mietspiegeln inzwischen geklärt sei.

Die Nichtzulassung ist rechtlich nicht vertretbar. Denn dass Bundessozialgericht hatte in seinem Urteil vom 22.08.2012 im Verfahren B 14 AS 13/12 R (dort Rz. 25) zu der Berechnung der Kieler Mietobergrenzen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht den Wert für den maximal angemessenen Quadratmetermietpreis in Kiel „insgesamt erneut zu bestimmen“ habe, weil das Bundessozialgericht an der bisherigen Bestimmung durch die Stadt Kiel Zweifel hatte. Dies hätte für das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht Anlass genug sein müssen, in den drei „Musterverfahren“ die Revision zuzulassen und damit eine Überprüfung der jetzt vorgenommen „Neubestimmung“ durch das Bundessozialgericht zu ermöglichen.

Mit der Nichtzulassung der Revision setzt das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht eine ungute Tradition fort. Schon in der Vergangenheit hatte das Gericht Revisionen gegen offenkundig nicht haltbare Entscheidungen in Verfahren betreffend die Kieler Mietobergrenzen systematische nicht zugelassen, um seine Mietobergrenzen-Rechtsprechung einer höchstrichterlichen Überprüfung zu entziehen (zur Kritik mehr hier und hier).

Die Rechtsanwälte der Kläger haben angekündigt, nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe in die Nichtzulassungsbeschwerde zu gehen.

Hinweise für betroffene Kieler

Wer in Kiel derzeit zu seiner Miete hinzuzahlt, weil das Jobcenter Kiel nur die aktuell gültige Mietobergrenze anerkennt, sollte einen Antrag auf Überprüfung aller Bewilligungsbescheide für den Zeitraum ab 1. Januar 2013 stellen (§ 40 Abs. 1 SGB II, § 44 SGB X) und das Jobcenter bitten, ab 1. Januar 2013 rückwirkend Leistungen für die Unterkunft in Höhe der neuen, vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht festgelegten Mietobergrenzen zu bewilligen. Das Jobcenter Kiel wird voraussichtlich – wie schon in der Vergangenheit – nicht von sich aus eine Überprüfung vornehmen und die Differenz zwischen der alten und der neuen Mietobergrenze bzw. der tatsächlichen Miete (soweit diese unter der neuen Mietobergrenze liegt) nachzahlen. Über gestellte Überprüfungsanträge wird das Jobcenter Kiel erst entscheiden, nachdem die Kieler Ratsversammlung die neuen Mietobergrenzen beschlossen hat. Der Beschluss der Ratsversammlung wird im Monat Juli 2014 erwartet.

Mehr Infos/Quellen:

Pressemitteilung SH LSG: Mietobergrenzen in Kiel im Wesentlichen gebilligt
Kieler Nachrichten/dpa: Keine zusätzlichen Kosten für Kiel
NDR: Hartz IV: Gericht billigt Kieler Konzept

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht verhandelt erneut über Kieler Mietobergrenzen

Wappen KielAm Montag, den 19.05.2014 um 10:00 Uhr findet in Saal 346 des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts der Fortsetzungstermin zum Thema „Mietobergrenze Kiel“ statt.

Was bisher geschah

Vorausgegangen war am 04.07.2013 eine 6-stündige Marathon-Verhandlung, die mit einem Auflagenbeschluss des Landessozialgerichts an das Jobcenter endete. Dieses sollte sein eigenes Konzept zur Mietobergrenze überprüfen und gegebenenfalls überarbeiten. Dazu gab das Landessozialgericht eine Erläuterung seines Beschlusses ab. Das Jobcenter Kiel bzw. die Stadt Kiel benötigten bis Ende Januar, um eine „Neukonzeption“ abzuliefern. Die erheblichen Bedenken gegen diese Neukonzeption drückten die Klägervertreter in ihren Schriftsätzen vom 05.05.2014 aus. Die Vorsitzende des Senats (Frau Dr. Fuchsloch) erließ daraufhin am 09.05.2014 eine weitere
Aufforderung an das Jobcenter.

Worum es bei diesem Prozess geht

Sozialleistungsträger (also Jobcenter und Landeshauptstadt) übernehmen im Rahmen der Leistungsgewährung nach SGB II und SGB XII nur die angemessenen Unterkunftskosten. Es ist unbestimmt, welche Kosten angemessen sind. Die Leistungsträger stellen eine Mietobergenze auf, mit der sie die Angemessenheit definieren. Die Stadt Kiel bzw. das Jobcenter hat zu diesem Zweck bislang die Mietspiegeldaten herangezogen. Die Schwächen dieser Vorgehensweise wurden beim ersten Verhandlungstag aufgezeigt. Das „neue“ Konzept zieht ähnliche Daten heran und ist unseres Erachtens daher ebenso unbrauchbar. Erwähnenswert ist, dass die Stadt Kiel die Herausgabe der Grundlagendaten mit dem Hinweis auf den Datenschutz verweigert. Eine Kontrolle auch durch einen Sachverständigen ist daher ausgeschlossen.

Pressemitteilung der Rechtsanwälte Sabine Vollrath und Lars Piepenburg


Für 628 Euro durch Europa

Weil ihr Monatslohn beim lettischen Logistik-Unternehmen „Dinotrans” wechselkursbedingt auf gerade einmal 628 Euro pro Monat gesunken war, legten am 21. Februar 2014 mehrere Dutzend philippinische Fahrer in Lübeck die Arbeit nieder. Hier hatte Dinotrans 2009 eine Niederlassung aufgemacht. Über den Fall berichtet die Monatszeitschrift Gegenwind in ihrer April-Ausgabe.


Umzugskosten: Pauschaler Verweis auf Selbsthilfe unzulässig

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Nach § 22 Abs. 6 SGB II können Umzugskosten nach vorheriger Zusicherung vom Jobcenter übernommen werden. Die Zusicherung soll erteilt werden, wenn der Umzug durch das Jobcenter veranlasst worden oder aus anderen Gründen notwendig ist. In ihren Grundsätzen über die Erbringung städtischer Leistungen (Seite 11 im PDF) hat die Stadt Kiel geregelt:

„Umzüge sind durch den/die Hilfesuchende in eigener Organisation durchzuführen. Es wird davon ausgegangen, dass die Unterstützung von Freunden, Bekannten und Verwandten in Anspruch genommen wird. Sollte hierzu ein besonderer Umzugswagen zum Selbstfahren erforderlich sein, so sind entsprechende Angebote von Autovermietungen vorzulegen (in der Regel drei Kostenvoranschläge). Für das günstigste Angebot ist eine Beihilfe zu gewähren. Auf Antrag ist eine Pauschale in Höhe von 50 € zu bewilligen, damit der/die Hilfesuchende die erhaltene Unterstützung auch anerkennen kann.“

In ihren Hinweisen in ihrem Vergleichsvorschlag 27.03.2014 hat die 38. Kammer am SG Kiel im Verfahren S 38 AS 1328/11 nun Zweifel an dieser Praxis angemeldet. Es erscheine problematisch, dass das beklagte Jobcenter Kiel die Kläger in diesem Verfahren vollumfänglich auf eine Durchführung des Umzugs ohne Hilfe eines Umzugsunternehmens verweist. Im Einzelnen hat das Gericht ausgeführt:

Das Fahren eines Umzugswagens erfordert ein gewisses Mindestalter

„Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin zu 1) oder der Kläger zu 2) zum Zeitpunkt des Umzuges über eine Fahrerlaubnis verfügten. Soweit lediglich der Kläger zu 2) über eine Fahrerlaubnis verfügt haben sollte, erscheint es gleichwohl fraglich, ob es ihm aufgrund seines Alters möglich gewesen wäre, ein entsprechendes Umzugsfahrzeug anzumieten und zu fahren. Eine Vermietung von Fahrzeugen durch kommerzielle Fahrzeugvermietungen erfolgt in der Regel erst an Personen mit einem gewissen Mindestalter bzw. ab einer bestimmten Mindestdauer an Fahrpraxis. Dies gilt insbesondere für größere Fahrzeuge, die zur Durchführung eines Umzuges erforderlich und geeignet sind.“

Verweis auf Verwandte und Freunde rechtlich zweifelhaft

„Es erscheint weiter fraglich, ob die Kläger hinsichtlich des Fahrens eines Umzugsfahrzeugs auf die Hilfe von Verwandten oder Freunden verwiesen werden konnten. Auch von Verwandten oder Freunden dürfte grundsätzlich nicht zu erwarten sein, dass sie sich für den Umzug eines Anderen den Haftungsrisiken der §§ 18, 7 StVG aussetzen.“

Kosten für Fahrer für gesamte Umzugszeit

„Damit erscheinen zumindest die Kosten eines Fahrers als notwendig und angemessen. Diese Kosten umfassen auch die für die Beladung des Fahrzeugs notwendigen Zeiten, da der Fahrer gemäß § 22 Abs. 1 StVO für die Sicherung der Ladung verantwortlich ist. Zu berücksichtigen ist danach auch die Entladezeit, während der der Fahrer seine Tätigkeit nicht anderweitig ausüben kann. Da die Umzugszeit insgesamt einen Umfang nicht überschritten hat, in dem der Fahrer an einem anderen Ort hatte eingesetzt werden können, dürfte eine Bezahlung des Fahrers für die gesamte Umzugszeit erforderlich gewesen sein, wobei er in den Zeiten, in denen er nicht seinen gesonderten, vorstehend dargestellten Pflichten nachkam, als Träger zur Verfügung gestanden haben dürfte.“

Kosten für Träger sowie Möbelauf- und -Abbau Frage des Einzelfalls

„Ob den Klägern über die Kosten für einen Fahrer sowie einen Umzugswagen weitere Kosten (insbesondere für weitere Helfer und die De- und Montage) zustehen, erscheint nach derzeitiger Aktenlage hingegen fraglich. Insofern wäre insbesondere eine Anhörung der Kläger zu 1) und 2) notwendig.“

Hinweise für Betroffene

Die Verwaltungspraxis des Jobcenters Kiel zu den Umzugskosten ist in vielen Fällen rechtswidrig, weil die Umstände des Einzelfalls keinen Eingang in die Beratung durch die Mitarbeiter der Behörde finden. Übernahmefähige Umzugskosten werden aus diesem Grunde nicht selten rechtswidrig abgelehnt. In einem solchen Fall sollten Betroffene umgehend um rechtlichen Beistand nachsuchen. Aufgrund der (rechtswidrigen) Weisungslage des Jobcenters Kiel gelingt es Betroffenen nach hiesiger Erfahrung praktisch nie, ihre Ansprüche ohne Rechtsanwalt durchzusetzen. Häufig führt auch kein Weg an einer gerichtlichen Klärung vorbei.

Das Klageverfahren endete heute mit dem Abschluss des vom Gericht vorgeschlagenen Vergleichs. Die Kläger hatten dem Vorschlag des Gerichts bereits außergerichtlich zugestimmt, das Jobcenter Kiel einen Vergleichsschluss jedoch zunächst abgelehnt, so dass ein Verhandlungstermin erforderlich wurde – der heute Vormittag eine Richterin, zwei Schöffen, einen Rechtsreferendar, einen Rechtsanwalt, einen Sachbearbeiter der Rechtsabteilung des Jobcenters Kiel sowie die Klägerin und ihren Sohn beschäftigte.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Einzelhandel: Ausbilden statt einstellen?

(c) LieC / pixelio.de

(c) LieC / pixelio.de

In ihrer heutigen Ausgabe titeln die Kieler Nachrichten auf Seite 1: „Fast 10.000 Lehrstellen in Schleswig-Holstein noch frei“. Es herrsche Bewerbermangel, jeder fünfte Betrieb könne seine Ausbildungsplätze nicht besetzen. Zu den „Top Ten“ der freien Plätze gehöre etwa die Ausbildung zum Kaufmann/-Frau im Einzelhandel. Hier seien landesweit noch 879 freie Ausbildungsplätze zu vergeben.

Auszubildende sind die billigeren Arbeitskräfte

In meiner anwaltlichen Praxis berichten mir zahlreiche junge Mandanten mit einer abgeschlossenen Lehre im Einzelhandel, dass sie trotz intensivster Bemühungen und einem guten Abschluss keine Anstellung finden konnten. Sie erklären sich das unter anderem auch damit, dass der Einzelhandel zwar gerne Auszubildende als günstige Arbeitskräfte nimmt, den Arbeitgebern ausgebildete Einzelhandelskaufleute aber zu teuer sind. So wurde mir von einem bekannten Schuhhändler in Kiel erzählt, der fortlaufend 4 Auszubildende vollschichtig beschäftigt, aber nur 3 fest angestellte Mitarbeiter und 2 bis 3 Teilzeitkräfte hat, deren Arbeitszeiten sich zudem nach dem Umsatz richten. Nicht anders sieht es in vielen anderen Einzelhandelsunternehmen aus. Es bedeutet eins und eins zusammen zu zählen um zu dem Schluss zu gelangen, dass im Einzelhandel über den Bedarf ausgebildet wird. Die Sorge des Einzelhandels gilt dann wohl auch weniger dem qualifizierten Nachwuchs als den Auszubildenden selbst.

20.748 Verkäufer in Schleswig-Holstein suchen einen Job

Ein Blick in die Statistik des Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass es in Schleswig-Holstein einen Mangel an Fachkräften für den Einzelhandel nicht gibt: Im März 2014 gab es 13.015 Arbeitslose (März 2013: 12.507) in Verkaufsberufen (mit Helfern) und 20.748 Arbeitssuchende (März 2013: 19.803) in diesem Bereich bei 1.430 als unbesetzt gemeldeten Arbeitsstellen.

Einzelhandelskaufleute orientieren sich neu

Ein Teil meiner Mandanten geht mittlerweile wieder zur Schule, um einen höheren Schulabschluss zu erwerben. Andere haben sich zu einer neuen Ausbildung entschlossen, die ihnen ernsthafte Berufsperspektiven eröffnet. Auch in hiesiger Bürogemeinschaft wird gerade eine junge Frau mit abgeschlossener Ausbildung als Einzelhandelskauffrau zur Rechtsanwalts- und Notarangestellten ausgebildet. Ihre Bilanz nach langer, erfolgloser Suche nach einer Anstellung im Einzelhandel: In dem Beruf habe ich keine Zukunft.

Der Markt irrt nicht

Offenbar spricht sich das unter jungen Leute herum und sie meiden bestimmte Ausbildungsberufe. Und das ist gut so. Denn der Ausbildungsmarkt ist ein Markt wie jeder andere. Angebot und Nachfrage regeln den Preis. Das Angebot scheint groß zu sein, die Nachfrage aber – zu Recht – nicht. Denn arbeitslos sein geht auch ohne Ausbildung. Und Berufe mit Perspektive gibt es ja zum Glück auch noch.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Eingliederungsvereinbarung bei Zweifel an der Erwerbsfähigkeit

GesaD  / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Der gängigen Praxis vieler Jobcenter entspricht es, dass sie ihren Kunden bei Zweifeln an deren Erwerbsfähigkeit auffordern, eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, in der sich die Leistungsberechtigten verpflichten sollen, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen. Lehnen die Kunden dies ab, so wird die Vereinbarung nicht selten durch einen gleichlautenden Verwaltungsakt ersetzt.

Das Sozialgericht Kiel hat diese Praxis nun in einem aktuellen Beschluss für rechtswidrig erklärt. Zur Überzeugung des Gerichts kann bei zweifelhafter Erwerbsfähigkeit eine Eingliederungsvereinbarung weder abgeschlossen werden noch durch einen Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II erfolgen. Denn Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) werden nur an erwerbsfähige Hilfebedürftige gewährt, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II. Daher ist das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit Voraussetzung für den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung bzw. für den Erlass eines die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsaktes. Insofern, so das Gericht weiter, kann die Frage, ob die Erwerbsfähigkeit tatsächlich gegeben ist, nicht Gegenstand einer in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Maßnahme sein. Die notwendige Überzeugung von der Erwerbsfähigkeit muss das Jobcenter im Zweifelsfall durch eine amtsärztliche, ambulante Untersuchung zuvor gewonnen haben.

(Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 26.11.2013, S 33 AS 357/13 ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter Segeberg verschickt Umzugsaufforderung wegen 1,78 € zu hoher Miete

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Eine Alleinerziehende Mutter und ihre zwei Kinder, die in Norderstedt in einer 68 Quadratmeter großen Wohnung leben, sind vom Jobcenter Segeberg mit Schreiben vom 18.03.2014 aufgefordert worden, ihre Unterkunftskosten unter anderem durch einen Umzug zu senken, weil ihre Miete 1,78 € über der vom Jobcenter als maßgeblich erachteten Mietobergrenze liegt. Wörtlich heiß es in dem Aufforderungsschreiben:

„Da ich nicht dauerhaft aus Mitteln des SGB II unangemessen hohe Unterkunftskosten zahlen darf, sollten Sie sich darum bemühen, Ihre Unterkunftskosten durch Wohnungswechsel, durch Untervermietung oder auf andere Weise zu senken.“

Weiter führt die Behörde in ihrer Senkungsaufforderung aus: „Nicht angemessenen Mieten können in der Regel längstens für drei Monate anerkannt werden (§ 22 Abs. 1 SGB II). Damit sind ab dem 01.08.2014 nur noch die angemessenen Kosten der Berechnung der Leistungen zu berücksichtigen.“

Wenn es nicht so traurig wäre, man müsste lachen: Eine Umzugsaufforderung wegen 1,78 €. Genau für Fälle wie diesen hat der Gesetzgeber in weiser Voraussicht in das Gesetz geschrieben: „Eine Absenkung der nach Satz 1 unangemessenen Aufwendungen muss nicht gefordert werden, wenn diese unter Berücksichtigung der bei einem Wohnungswechsel [Anm.: vom Jobcenter und damit dem Steuerzahler] zu erbringenden Leistungen unwirtschaftlich wäre“ (§ 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II). Was aber kann unwirtschaftlicher sein als ein Umzug wegen einer Ersparnis von 1,78 € im Monat?

Schlimmer noch ist aber, dass in der Senkungsaufforderung bewusst falsch über die Rechtslage informiert wird. Nicht angemessene Unterkunftskosten können nämlich keineswegs „in der Regel längstens für drei Monate anerkannt werden“, sondern – wie jeder des Lesens kundige leicht feststellen kann – „in der Regel (…) längstens für sechs Monate“ (§ 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II).

Mehr als nur ein Geschmäckle hat zuletzt, dass dem Kreis Segeberg nach hiesigen Informationen ein neues Gutachten von Analyse & Konzepte mit neuen Mietobergrenzen vorliegt, welches aber noch “intern diskutiert” würde.

Zu diesem Artikel:

http://www.infoarchiv-norderstedt.org

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragsstellung muss begründet werden

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Nach § 12a SGB II sind ALG II-Empfänger verpflichtet, ab dem 63. Lebensjahr Altersrente in Anspruch zu nehmen, auch wenn dies mit Abschlägen bei der Rente verbunden ist. Tun sie das nicht, kann das Jobcenter den Rentenantrag selbst stellen, § 5 Abs. 3 SGB II. Die Unbilligkeitsverordnung regelt, unter welchen Voraussetzungen eine vorzeitige Antragstellung nicht verlangt werden kann. Die Aufforderung zur Rentenantragstellung ist ein Verwaltungsakt, gegen den der ALG II-Bezieher Widerspruch einlegen kann. Allerdings hat der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung, so dass der Antrag trotzdem gestellt werden muss. Ist die Aufforderung offenkundig rechtswidrig, kann der Betroffene beim Sozialgericht aber einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stellen. Wird dem Antrag stattgegeben, muss kein Rentenantrag gestellt werden.

Nach einer Entscheidung des Sozialgerichts Neubrandenburg steht auch die Aufforderung zur Rentenantragstellung im pflichtgemäßen Ermessen des Jobcenters mit der Folge, dass das Jobcenter nicht nur die Rechtsvorschriften zitieren darf, sondern im Aufforderungsschreiben auch die Ermessensgesichtspunkte darlegen muss, von welchen es sich bei seiner Entscheidung zur „Aussteuerung“ des ALG II-Beziehers in die Rente hat leiten lassen. Die Ermessensgesichtspunkte können dabei der Unbilligkeitsverordnung entnommen werden, müssen aber auch erkennen lassen, dass sich das Jobcenter mit den Gründen des Leistungsberechtigten auseinandergesetzt hat.

(Sozialgericht Neubrandenburg, Beschluss vom 29.12.2013, S 13 AS 1751/13 ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 02/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


FDP Ratsfraktion: Bürgerentscheide nicht erschweren!

Logo FDPZu der Presseerklärung der Initiatoren und Vertretungsberechtigten des Bürgerentscheides gegen die geplante Ansiedlung von Möbel Kraft und Sconto auf dem Prüner Schlag in Kiel erklärt der Fraktionsvorsitzende der FDP Ratsfraktion, Hubertus Hencke:

„Zu Recht weisen die Initiatoren darauf hin, dass der erste Bürgerentscheid Kiels ein großer Erfolg für die politische Kultur war und ist. Politische Stimmen, die nun eine gesetzliche Einschränkung des Bürgerentscheides fordern, verkennen Ursache und Wirkung. Natürlich müssen auch Investoren mit dem Risiko eines gegenteiligen Bürgerwillens leben und leben lernen. Sie bewegen sich nicht im rechts- und politikfreien Raum. Eine Einschränkung kann nur der fordern, der die eigene Meinung als unumstößlich richtig und die der anderen als falsch ansieht.

Tatsächlich ging es bei der Frage der Ansiedlung um eine persönliche Abwägung zwischen Naturschutz und Wirtschaftskraft. Diese Frage hat die FDP Ratsfraktion für sich klar zu Gunsten der Wirtschaftskraft beantwortet. Sie hätte es respektiert, wenn sich die Mehrheit der Abstimmenden für den Naturschutz entschieden hätte. Investoren wussten und wissen, dass auch der Bürgerwille ein zu berücksichtigender Faktor bei Ansiedlungen ist.

Als liberale Kraft, die Bürgerrechte als wesentliche Entscheidungsgrundlage ansieht, wird sich die Ratsfraktion der Kieler FDP deshalb mit aller Kraft gegen Versuche einsetzen, auf kommunaler Ebene Bürgerentscheide zu verhindern oder zu erschweren. Der Bürgerentscheid ist ein Korrektiv, der der Politik verdeutlicht, dass auch in einer repräsentativen Demokratie gewonnene Überzeugung vermittelt und die Menschen mitgenommen werden müssen.

Die FDP Ratsfraktion begrüßt die Erwartung der Initiatoren im weiteren Bauleitverfahren auf Augenhöhe mit den Gegnern der Ansiedlung zu verhandeln. Die FDP Ratsfraktion hält es bei der Ansiedlung für wesentlich, dass ein erheblicher Teil der Parkflächen unter dem Gebäude angebracht und dass die Fassade begrünt wird.

Klar muss aber auch sein, dass der Inhalt des Aufstellungsbeschlusses in vollem Umfang – auch mit der Sconto-Ansiedlung – zu akzeptieren ist. Über diesen Inhalt haben die Bürger abgestimmt. Dieses Ergebnis muss akzeptiert werden, auch wenn es knapp war.“

Presseinformation Nr. 26 / 2014 Kiel, 26. März 2014

Mehr zum Thema:

Kiel Kontovers vom 26.03.2014: Werden Bürgerentscheide abgeschafft?


Hartz IV-Kritikerin Inge Hannemann in Kiel

Inge Hannemann, freigestellte Jobcentermitarbeiterin aus Hamburg, bekannt geworden durch ihren Widerstand gegen die Sanktionierungen von Hartz IV – Empfängern, kommt am Donnerstag, den 27. März 2014 nach Kiel. Um 19 Uhr wird sie im Hörsaal 10 (großes Hörsaalgebäude) der FH Kiel von ihren Erfahrungen berichten und darlegen, weshalb Hartz IV ihrer Überzeugung nach menschenverachtend und verfassungswidrig ist. Zu Beginn gibt Prof. Christian Brütt, Armutsforscher an der FH Kiel, eine kurze Einführung zum Thema „Hartz IV und die neoliberale Wende in der deutschen Sozialpolitik“. Im Anschluss an die Vorträge wird es Gelegenheit für Diskussion und Fragen an Frau Hannemann geben. Die Veranstaltung ist öffentlich und der Eintritt kostenlos.

Kurz notiert: Donnerstag, 27. März 19:00 – 21:00, FH Kiel, Sokratesplatz 1, 24149 Kiel (Hörsaal 10 – großes Hörsaalgebäude)

Quelle: Heinrich Böll Stiftung Schleswig-Holstein


Bürgerentscheid: Knappe Mehrheit für Möbel Kraft

Landesmöbelhauptstadt KielNach einem sehr ungleichen Wahlkampf haben sich eine knappe Mehrheit von 52,5 % der Kieler für die Ansiedlung von Möbel Kraft in Kiel ausgesprochen, 47,5 % für den Erhalt des Kieler Grüngürtels auf dem ehemaligen Kleingartengelände Prüner Schlag.

In der Kieler Ratsversammlung hatten sich zuvor CDU, SPD, Grüne, FDP, Piraten und SSW, die bei der letzten Kommunalwahl 2013 zusammen 93,3 % der Wählerstimmen erreicht haben, für die Ansiedlung von Möbel Kraft stark gemacht. Nur DIE LINKE und WIR in Kiel, die zusammen auf 5,6 % der Wählerstimmen kamen, sprachen sich für den Erhalt der Stadtgärten aus.

Dieses Ergebnis zeigt, dass eine Mehrheit in der Ratsversammlung durchaus gegen den Willen einer Mehrheit in der Bevölkerung entscheiden kann. Die Vorstellungen von 47,5 % der Kieler Wähler werden beim Thema Möbel Kraft derzeit von 3 Ratsleuten vertreten, während 49 Ratsleute im Sinne von 52,5 % der Kieler Wähler handeln. Hier zeigt sich die Legitimation – aber auch die Notwendigkeit – von Bürgerentscheiden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Bürgerentscheid: Heute können Sie entscheiden!

BE-facebookAm heutigen Sonntag, den 23.03.2013, können die Kieler das erste Mal in der Geschichte dieser Stadt über eine politische Frage selbst entscheiden, nachdem der Schleswig-Holsteinische Landtag (LT-Drucksache 18/501) zuvor die Mitbestimmungsrechte der Bürger Schleswig-Holsteins ein wenig mehr ausgeweitet hatte. Während in politischen Sonntagsreden darüber lamentiert wird, wie Kommunalpolitik für den Bürger attraktiver gemacht werden kann und allenthalben die geringe Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen (in Kiel 2013 zuletzt 37,15 %, bei der OB-Wahl 2012 31,9 %) beklagt wird, zeigt sich nun, was Kommunalpolitik und Stadtverwaltung tatsächlich von direktdemokratischen Elementen halten: Die Stadt Kiel führt eine beispiellose Propagandaschlacht gegen den aus der Bürgerschaft heraus initiierten Bürgerentscheid. Mit 30.000 € Steuergeldern ist Kiel mit Plakaten der Stadt zugepflastert, seit Wochen werden mit Steuergeldern großflächige Anzeigen in der einzigen regionalen Tageszeitung geschaltet. Das erste Mal in der Geschichte der Stadt mischt sich auch ein Konzern selbst unmittelbar in einen „Wahlkampf“ ein: Kaum eine Bushaltestellen, an der Möbel Kraft nicht für eine Ablehnung des Bürgerbegehrens und damit für seine eigenen wirtschaftlichen Interessen wirbt. 100.000 € gibt der Konzern dafür aus.

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Ratsversammlung diskutiert Veröffentlichung der Telefonliste des Jobcenters Kiel

Wappen KielIn der heutigen Ratsversammlung wurde der Antrag der Ratsfraktion DIE LINKE zur Veröffentlichung der Telefonliste des Jobcenters Kiel kontrovers debattiert.

Städtische Telefonnummern: Öffentlicher, als mancher Ratsherr glaubt

Ratsherr Stefan Rudau (DIE LINKE) löste gleich zu Beginn Erstaunen und empörte Zwischenrufe mit seinem Hinweis aus, DIE LINKE fordere eigentlich nur die Veröffentlichung bereits öffentlicher Information auf der Homepage des Jobcenters Kiel, denn das Städtische Telefonbuch der Stadt Kiel mit allen Durchwahlnummern auch der Mitarbeiter des Jobcenters Kiel sei für jedermann käuflich zu erwerben. Ratsherr Michael Schmalz (SPD) ließ sich in seiner Erwiderung zu der (später zurückgenommenen) Aussage hinreißen, die Ratsfraktion DIE LINKE verkaufe offenbar die Telefonlisten des Jobcenters Kiel in ihrem Fraktionsbüro. Der übliche Budenzauber also von Ratsleuten, die nicht einmal wissen, wo man das Städtische Telefonbuch erstehen kann. Wir wollen das Geheimnis lüften: Es ist käuflich zu erwerben bei dem Verlag, der es herausgibt und druckt (welch Wunder!), dem Verlag Schmidt-Römhild (http://www.schmidt-roemhild.de/). Zu finden unter „Shop“ und dann in der Sidebar unter „Adress- und Telefonbücher“ „Kiel“ auswählen, Preis 8,- €.

Von Feindbildern und Sabotage

Erstaunlich ist – trotz des allgemein niedrigen Niveaus der Debattenkultur in der Kieler Ratsversammlung – immer wieder, wie auf sozialpolitische Anträge der Fraktion DIE LINKE reagiert wird. Ratsherr Michael Schmalz konstatierte (ohne nähere Erläuterungen oder einen erkennbaren Zusammenhang), die LINKE stigmatisiere mit ihrem Antrag Hartz IV-Empfänger, Ratsherr Jan Wohlfahrt (CDU) setzte nach: Die Linke habe ein „Feindbild Jobcenter“ und wolle dessen „Arbeit sabotieren“. Hartz IV-Bezieher hätten ihre – so wörtlich – „Betreuer zugewiesen“, das reiche völlig. Bezieher von Leistungen nach dem SGB II unter Betreuung. Es fällt einem wenig dazu ein.

Sympathisch, aber leider unpraktikabel

Immerhin, Ratsfrau Musculus-Stahnke (FDP) hatte „Sympathie für den Antrag“, nur sei dieser leider unpraktikabel. Worauf diese Unpraktikabilität genau fußen soll, blieb indessen eher im Dunkeln. Dass zahlreiche Jobcenter in Deutschland das Callcenter der Bundesagentur für Arbeit gar nicht nutzen (vgl. die Antwort der Bundesregierung vom 13.03.2014) und – wie auch die Stadt Kiel selbst – ohne ein Callcenter auskommen, für die Bürger also direkt erreichbar sind und dennoch gute Arbeit leisten, scheint sich jedenfalls bis in die Kieler Ratsversammlung noch nicht herumgesprochen zu haben.

Wunderwaffe Datenschutz

Ein stets beliebtes Argument, wenn man etwas nicht so gern öffentlich machen möchte: Datenschutzrechtliche Bedenken. Ratsherrn Rainer Kreutz (CDU) fiel das zum Thema ein. Aber bei Dienstnummern von Behördenmitarbeitern? Weil auch die Vornamen im Telefonbuch stehen? Irgendwo hört es dann doch mal auf. Und wenn man denn schon datenschutzrechtliche Bedenken haben sollte, dann bitte auch bei dem frei käuflichen Telefonbuch der Stadt. Allerdings muss dann die Frage erlaubt sein, wie es einer freiheitlichen Gesellschaft zu Gesicht steht, wenn sich Behördenmitarbeiter hinter „Geheimnummern“ vor den eigenen Bürgern verstecken.

Kieler Piraten: Ein ganz spezieller Fall

Während die Bundespartei der Piraten die Telefonlisten der Jobcenter veröffentlicht hat, konnte Ratsherr Marcel Schmidt (Piratenpartei) nicht schnell genug beteuern, die Listen seien nicht von den Kieler Piraten veröffentlicht, diese lehnten eine Veröffentlichung natürlich strikt ab („Wir sind nicht dabei.“). Ob die Kieler Wähler der Piraten geahnt haben, was für Leichtmatrosen mit Plastiksäbelchen sie da in die Kieler Ratsversammlung gewählt haben?

Alles gut?

Bleibt zum Abschluss die Frage: Ist der Antrag der Ratsfraktion DIE LINKE berechtigt? Wir lassen andere sprechen:

„Handlungsbedarf wurde bei der Sicherstellung der telefonischen Erreichbarkeit gesehen.“ (Antwort der Bundesregierung (18/735) vom 13.03.2014 auf eine Kleine Anfrage Fraktion DIE LINKE)

„Zum Ende eines sehr intensiven Arbeitsjahres muss die Bürgerbeauftragte feststellen, dass dem Anspruch vieler hilfesuchender Bürgerinnen und Bürger nach einer umfassenden persönlichen Beratung durch die Sozialbehörden immer weniger nachgekommen wird. Eine zeitnahe und unbürokratische Klärung von Fragen und Sachverhalten ist daher oft nicht möglich. Dies führt zu Konflikten und Schwierigkeiten, die durch eine konsequente Ausrichtung der Behörden auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger vermieden werden könnte. So sind u.a. die Agenturen für Arbeit, die Familienkassen oder auch einige Jobcenter telefonisch oft nur über Servicecenter zu erreichen.“ (Pressemitteilung der Bürgerbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein vom 27.12.2013)

Report aus Main vom 29.04.2014: Mitarbeiter von Jobcentern sind für ihre Kunden unerreichbar

Der Antrag der Ratsfraktion DIE LINKE wurde von SPD, Grünen, SSW, CDU, FDP und Piraten abgelehnt. Ratsherr Nonnsen von WIR in Kiel hat sich enthalten.

Die Video-Aufzeichnung der Erörterung des Antrages findet sich hier (die Diskussion geht weiter in Video 29).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Ratsfraktion DIE LINKE fordert Veröffentlichung der Telefonlisten des Jobcenters Kiel

Logo_Ratsfraktion2Immer mehr Bürgerinnen und Bürgern beklagten, dass ihnen die notwendige persönliche Beratung durch Behörden vorenthalten wird. Die Bürgerbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein kritisiert in ihrer Presserklärung von 27.12.2013 die schlechte Erreichbarkeit und das mangelnde Beratungsangebot der Behörden. Dem Anspruch vieler hilfesuchender Bürgerinnen und Bürger nach einer umfassenden persönlichen Beratung durch die Sozialbehörden werde immer weniger nachgekommen. Eine zeitnahe und unbürokratische Klärung von Fragen und Sachverhalten sei daher oft nicht möglich. Dies führe zu Konflikten und Schwierigkeiten, die durch eine konsequente Ausrichtung der Behörden auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger vermieden werden könnte. Besonders wird kritisiert, dass u.a. auch einige Jobcenter – und hierzu gehört auch das Jobcenter Kiel – telefonisch nur über Servicecenter zu erreichen sind.

Um diesen Missständen abzuhelfen, hat die Erwerbslosenorganisation Tacheles die Telefonlisten mit den Durchwahlnummern der Sachbearbeiter von zurzeit 134 Jobcentern, hierunter auch jene des Jobcenters Kiel, veröffentlicht. Nachdem der Initiator Harald Thomé unter dem Eindruck der Androhung rechtlicher Schritte durch mehrere Jobcenter – aber auch Beleidigungen und der Androhung körperlicher Gewalt – sein Projekt aufgeben musste, setzt derzeit die PIRATENPARTEI das Transparenz-Projekt fort. Die Durchwahlnummern auch des Jobcenters Kiel sind damit gegenwärtig allgemein öffentlich zugänglich.

Im Sinne eines „Rechts auf gute Verwaltung“ fordert die Ratsfraktion DIE LINKE mit ihrem Antrag vom 10.03.2014, dass die Landeshauptstadt Kiel mit gutem Beispiel vorangeht und die Durchwahlnummern der Mitarbeiter des Jobcenters (im Antragstext heißt es derzeit noch unzutreffend einschränkend „der Fallmanagerinnen und Fallmanager“) auf der Website des Jobcenters Kiel allgemein öffentlich zugänglich macht und sich sowohl organisatorisch als auch personell auf direkte Anrufe seiner Kunden einstellt.

Mehr zum Thema auf dieser Seite:
Telefonlisten der Jobcenter

Aktuelles zum Thema:
Antwort der Bundesregierung vom 13.03.2014 auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag

Report aus Main vom 29.04.2014: Mitarbeiter von Jobcentern sind für ihre Kunden unerreichbar

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Gültigkeit der Unterkunftssatzung der Stadt Neumünster wird gerichtlich überprüft

Wappen Neumünster

Die Stadt Neumünster hat bekanntlich in einer kommunalen Unterkunftssatzung nach § 22a ff. SGB II geregelt, bis zu welcher Höhe die Mieten von Beziehern von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II (Hartz IV) und SGB XII (vor allem Grundsicherung im Alter) übernommen werden. Jetzt hat Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht, Bernd Petersen, Neumünster, beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht Antrag auf Normenkontrolle nach § 55 a Sozialgerichtsgesetz gestellt (Aktenzeichen L 11 AS 24/14 NK).

SGB-II Leistungsbezieher sind in den vergangenen Tagen vom Jobcenter Neumünster unter anderem aufgefordert worden, ihre nach der Satzung angeblich zu hohen Unterkunftskosten innerhalb von sechs Monaten durch Umzug oder auf andere Weise zu senken. Sollte dies den Beziehern von Sozialleistungen nicht gelingen, bleibt vielen nur noch der Auszug auch aus langjährig bewohnten Unterkünften, da ihnen das Jobcenter dann nur noch Unterkunftskosten nach den Regelungen der Unterkunftssatzung bewilligt und damit die Mieten nicht mehr gezahlt werden können.

Rechtsanwalt Petersen hält allerdings die Satzung der Stadt Neumünster in wesentlichen Punkten für ungültig und geht von einer gleichlautenden Entscheidung des angerufenen Gerichtes aus.

Unter anderem kritisiert Rechtsanwalt Petersen, dass gegenüber den bisherigen Regelungen in Neumünster in der Satzung die Wohnflächenzahlen um 5 qm für jede Haushaltsgröße abgesenkt wurden, obwohl das Bundessozialgericht noch in 2012 entschieden hatte, dass z.B. für 1-Personenhaushalte eine Wohnungsgröße von 50 m² angemessen ist.

Rechtsanwalt Petersen weist auch auf Entscheidungen des Sozialgerichts Kiel vom 09.08.2013 und 26.11.2013 hin. Danach kann auch die Regelung der Satzung der Stadt zur abweichenden Ermittlung von Unterkunftskosten bei unter 25-jährigen keinen Bestand haben. Nach dem Sozialgericht Kiel haben auch unter 25-jährige Anspruch auf Anerkennung angemessener Unterkunftskosten wie über 25-jährige und dürfen nicht anders behandelt werden.

Erheblichen Bedenken unterliegt nach Auffassung von Rechtsanwalt Petersen auch die Regelung der Satzung hinsichtlich der Angemessenheit der Heizkosten. Dessen Angemessenheit soll sich danach ausschließlich nach dem jährlich aktualisierten bundesweiten Heizspiegel richten. Nach der Rspr. des BSG sind allerdings die tatsächlichen Heizkosten nur dann als angemessen zu betrachten, sofern nicht Grenzwerte überschritten werden, die ein unangemessenes Heizverhalten indizieren. Ist diese Grenze nicht überschritten, sind die tatsächlichen Heizkosten als angemessen zu betrachten. Nur im Falle der Überschreitung dieser Grenze muss der Leistungsempfänger die Möglichkeit haben, im konkreten Einzelfall Umstände darzutun, warum seine Aufwendungen gleichwohl noch als angemessen anzusehen sind, zB. defekte Heizung, undichte Fenster etc. Dieses Recht wird ihm durch die Satzungsregelung verwehrt.

Quelle: Presseerklärung des Rechtsanwalts Bernd Petersen von 7. März 2014

Presse: Holsteinischer Courier vom 12. März 2014: Gericht soll Sozialmieten überprüfen

Mehr zum Thema auf dieser Seite:
Neumünster regelt Unterkunftskosten für Grundsicherungsbezieher neu


Demonstration für Kiels „Grüne Lunge“ und den Respekt vor dem Bürgerwillen

BE-facebookAm Samstag, den 01. März 2014, findet eine Demonstration gegen den Bau des „Möbelkraftzentrums“ auf dem Kleingartengelände Prüner Schlag/Brunsrade am Westring sowie gegen den Umgang der Kieler Ratsversammlung mit dem Bürgerwillen – insbesondere mit dem Bürgerentscheid und dem Ausverkauf der sog. „Grünen Lunge“ Kiels – statt. Der Umzug beginnt im HIROSHIMAPARK und führt von dort ab 13 Uhr die Rathausstraße hoch, am Exerzierplatz vorbei über den Schützenwall zum Schützenpark, wo dann bis 18 Uhr eine musikalische Abschlusskundgebung veranstaltet werden wird.

Nehmt teil und zeigt der Stadt und Möbel-Kraft, dass man eure Stimmen auch mit Werbekampagnen für 130.000 € nicht kaufen kann. Stadt und Möbel-Kraft haben mehr Geld, aber auf die Straße wird für deren Ziele keiner gehen.

Mehr Infos: https://www.facebook.com
Schöne Fotos von der Demo auch hier.


Streit um Schulbegleitung: Bürgerbeauftragte mahnt Kreise zur Sachlichkeit

ltsh_logoKiel (SHL) – Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten Birgit Wille fordert die Träger der Sozialhilfe dazu auf, die Diskussion über die Durchführung und Finanzierung von Schulbegleitern sachlich zu führen. „Kostenpolitische Diskussionen auf dem Rücken behinderter Kinder und deren Eltern auszutragen ist inakzeptabel“, sagte Wille gestern in Kiel. Brachiale Sprache und die Androhung pauschaler Leistungseinstellungen seien der schwierigen Situation nicht angemessen. Den Rest des Beitrags lesen »


Kieler Ratsversammlung debatiert Mietobergrenzen für unter 25jährige

Wappen KielIn ihrer heutigen Sitzung hat die Kieler Ratsversammlung den Antrag der Ratsfraktion DIE LINKE zum Thema Mietobergrenze für unter 25jährige erörtert. Da in dieser Sitzung auch viel von Schulpolitik die Rede war, drängt sich das Urteil auf: Thema verfehlt, setzen. Wenn es die Note 7 gäbe, sie wäre hier angebracht.

DIE LINKE und Sozialgerichte „Büttel des Kapitals“?

Den Aufschlag machte Ratsherr Schmalz, sozialpolitischer Sprecher der SPD. Zunächst mokierte der Ratsherr sich darüber, DIE LINKE nehme ihre Verantwortung für den städtischen Haushalt nicht ernst. Stiegen die Mieten für Leistungsbezieher, so stiegen die Mieten für alle. Die Linke mache sich damit – so wörtlich – „zum Büttel des Kapitals“. Starker Tobak. Vor allem aber am Thema vorbei. Die Bestimmung von Mietobergrenzen dürfen sich – dies ist ständige Rechtsprechung aller Sozialgerichte – nicht an fiskalpolitischen Erwägungen orientieren, sondern müssen die Anmietbarkeit von Wohnraum unter den realen Marktbedingungen ermöglichen. Orientieren sich Kommunen an haushaltspolitischen Überlegungen, sprechen Juristen von „sachfremden Erwägungen“. Unter Juristen ist das ein ziemlich vernichtendes Verdikt. Der Antrag (der nicht mehr als die Umsetzung der Rechtsprechung des SG Kiel fordert), sei, so der „Sozialexperte“ der SPD weiter – man kommt aus dem Staunen nicht heraus – nicht mehr als billige „Effekthascherei“, denn das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht entscheide über die Frage, welche Mietobergrenzen unter 25jährigen zustünden, schließlich gerade. Auch hier allerdings irrt Ratsherr Schmalz. Mitnichten entscheidet das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht in den laufenden „Musterverfahren“ gerade über diese Frage. Keiner der Kläger in diesen Verfahren ist nämlich unter 25. So einfach ist das. Mit ein bisschen Nachdenken. Aber gut, das zu erwarten, ist offenkundig zu viel verlangt. Vielsagend sind zuletzt die Aussagen des SPD-Ratsherren zu seinem sozialpolitischen Grundverständnis, die sich alle arbeitslosen jungen Menschen bis zur nächsten Wahl gut merken sollten: Junge Leute unter 25 ohne Ausbildung, so der „Sozialdemokrat“, dürften nicht wie junge Menschen unter 25 mit Ausbildung behandelt werden, die sich schließlich „anstrengen“. Dass junge Menschen vielleicht keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, obwohl sie sich angestrengt haben – in die Welt des SPD-Ratsherren scheint das nicht zu passen.

Ratsleute im Blindflug

CDU und Grüne, von denen letzteren ein Tag vor der Ratsversammlung auch noch ihr sozialpolitischer Sprecher abhanden gekommen ist, hielten sich wie gewohnt in der Sozialpolitik zurück – es ist halt nicht ihr Thema. Aber auch in wenigen Sätzen kann man viel Falsches sagen. Nein, im Kontext der Neuberechnung der abstrakten MOG durch F+B sind die Mietobergrenzen für U25 kein Thema. Aber das wissen die Ratsleute vielleicht auch gar nicht – denn das Gutachten von F+B haben sie von der Verwaltung ja nicht erhalten. Das erklärt so machen Blindflug am heutigen Tage – macht die Sache aber auch nicht besser. Übrigens: Die Anwaltschaft hat die Gutachten. Lesen bildet ungemein.

Merke: Rechtskräftige Urteile und Beschlüsse haben eine Begründung

Immer wieder Freude bereitet es mir auch, meiner Kollegin von der FDP, Frau Musculus-Stahnke, zuzuhören. Als Juristin sehe sie, dass die Urteilsgründe zu den im Antrag der LINKEN zitieren Urteilen noch gar nicht abgesetzt worden seien. Was Frau Musculus-Stahnke so alles sieht – oder auch nicht sieht. Nun hatte DIE LINKE doch extra für die Juristen unter den Ratsleuten die Urteile zitiert: SG Kiel, Urteil vom 26.11.2013, S 30 AS 767/10; SG Kiel, Beschluss vom 9.8.2013, S 31 AS 251/13 ER – rechtskräftig; so bereits SG Schwerin, Beschluss vom 29.03.2007, S 10 ER 49/07 AS. Aber offenbar hat DIE LINKE es versäumt, für die Rechtsanwältin Musculus-Stahnke zu erläutern, innerhalb welcher Fristen Urteile abzusetzen sind und das Judikate, die rechtskräftig sind (!), wohl auch abgesetzt sein dürften. DIE LINKE hat scheinbar auch hier einfach zu viel Sachverstand vorausgesetzt.

Ergebnis dieser neuerlichen Provinzposse: Der Antrag wurde bis zu einer Entscheidung des Landessozialgerichts (wann immer die zum Thema Unterkunftskosten für U 25 erfolgen soll), längstens für 6 Monate, zurückgestellt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Linke Ratsfraktion fordert höhere Mietobergrenzen für unter 25jährige

Logo_Ratsfraktion2Wie berichtet, ist nach den derzeitigen Richtlinien der Landeshauptstadt Kiel zu den Regel-Höchstbeträgen für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem SGB II und dem SGB XII in ihrer aktuellen Fassung vom 13.12.2012 bei unter 25jährigen Beziehern von Leistungen nach dem SGB II ohne abgeschlossene Berufsausbildung eine Miete bis maximal 224 € inklusive Heizkosten anzuerkennen, mit einer abgeschlossenen Ausbildung werden die Mietobergrenzen zugrunde gelegt, die auch für über 25jährige gelten. Dies Praxis wurde von einigen Kammern am SG Kiel für rechtswidrig erklärt.

Die Ratsfraktion DIE LINKE fordert deshalb, die in den Richtlinien der Landeshauptstadt Kiel enthaltenen Sonderregelungen für Jugendliche und junge Erwachsene ersatzlos zu streichen. Der Antrag findet sich hier.

Vergleichbare Sonderregelungen für U 25 haben in Schleswig-Holstein etwa der Kreis Rendsburg-Eckernförde, der Kreis Plön und die Stadt Neumünster.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt und Ratsherr Stefan Rudau


Jobcenter Plön wendet die Mietobergrenzen des eigenen Kreises nicht an

Sybille Kambeck / janefire.de

Sybille Kambeck / janefire.de

Wie berichtet, hat der Kreis Plön mit Wirkung zum 01.11.2013 neue Mietobergrenzen erlassen, weil die bisherigen Obergrenzen von den Gerichten als rechtswidrig verworfen worden waren mit der Folge, dass deutlich höhere Mieten nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 % anzuerkennen waren (vgl. Tabelle).

Auf einen Überprüfungsantrag für den Zeitraum 01.08.2013 bis 31.03.2014 wurden nun einem von mir vertretenen Mandanten mit Bescheid vom 05.02.2014 dennoch Unterkunftskosten nach § 12 WoGG zuzüglich des 10 %-Sicherheitszuschlages bewilligt. Während der Kreis Plön nach seinen Richtlinien eine Bruttokaltobergrenze von 318,00 € für angemessen erklärt, bewilligte das Jobcenter Plön 363,00 €.

Noch verwirrender: In einem Klageverfahren will das Jobcenter Plön die erst ab 01.11.2013 geltenden neuen Obergrenzen schon für den davor liegenden Zeitraum August und September 2013 zugrunde legen. Was ist bloß los im Jobcenter Plön?

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Nutzung von Bildern von Pixelio

Sybille Kambeck / janefire.de

Sybille Kambeck / janefire.de

Wie Spiegel Online gestern berichtet hat, hat das Landgericht Köln (14 O 427/13) entschieden, dass Webseitenbetreiber, die kostenlose Bilder von Pixelio für die eigenen Website nutzen, den Urhebervermerk direkt in die Bilddatei einfügen müssen.

In dem Urteil heißt es nach Angaben von Spiegel Online dazu, der Nutzer hätte „in diesem Fall entweder technische Möglichkeiten ergreifen müssen, um eine solche isolierte Anzeige und Auffindbarkeit über eine Internetsuchmaschine gänzlich zu unterbinden oder aber den Urhebervermerk im Bild selbst anbringen müssen, wie es nach dem eigenen Kenntnisstand der Kammer auch mit einer Standardbildbearbeitungssoftware jedem durchschnittlichen Internetnutzer ohne weiteres möglich ist.“

Spiegel Online weist weiter darauf hin, dass ein Nutzer von Google+ bemerkt hat, dass auf der Website des Landgerichts Köln – offenbar erst kurze Zeit vor dem Urteilsspruch – die Bilder entsprechend bearbeitet worden sind und nun den Hinweis auf den Urheber direkt im Bild tragen. Das hat schon mehr als nur ein Geschmäckle und es darf mit Fug bezweifelt werden, dass es die Richter am LG Köln höchstpersönlich waren, denen die Kennzeichnung im Bild – um den bornierten Duktus aufzugreifen – „ohne weiteres möglich“ war. Zumal darauf hingewiesen wird, dass es das LG Köln mit der Urhebernennung bei den auf der eigenen Website verwendeten Bildern doch nicht so genau zu nehmen scheint. “Die Bürger von Schilda” lassen grüßen.

In seiner Stellungnahme merkt die pixelio media GmbH an, dass das Urteil aus Sicht des Unternehmens aus mehreren Gründen unrichtig ist: Die Nutzungsbedingungen fordern eine Urheberbenennung am Bild selbst oder am Seitenende, soweit dies technisch möglich ist – aber gerade nicht im Bild. Zu einer Urheberbenennung „am Bild oder am Seitenende“ besteht bei einer isolierten Darstellung des Bildes im Browser durch direkten Aufruf der Bild-URL technisch keine Möglichkeit, so das diese von den Nutzungsbedingungen auch nicht gefordert wird. Weiter weist Pixelio darauf hin, dass eine Einfügung des Quellennachweises direkt „im Bild“ bei denjenigen Bildern nicht zulässig ist, welche vom Fotografen nur mit einem eingeschränkten Bildbearbeitungsrecht freigegeben worden sind. Die weiteren Ausführungen können auf der Seite von Pixelio nachgelesen werden.

Mehr zum Thema:
http://www.ra-plutte.de
heise.de: Kommentar zu Pixelio und den Bildhinweis-Abmahnungen: Von wegen lizenzfrei

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Bild“: Jobcenter Kiel will Hartz-IV-Empfänger auf Waffen und Drogen kontrollieren lassen

Logo Jobcenter KielNach einem Bericht der „Bild“-Zeitung in der heutigen Donnerstags-Ausgabe wollen mehrere Jobcenter in Kiel Hartz IV-Empfänger und andere Besucher durch Sicherheitsdienste auf Waffen und Drogen kontrollieren lassen. Schon mehrfach sollen Mitarbeiter in den Kieler Jobcentern attackiert worden sein.

Mehr Infos:
Focus.de vom 30.01.2014: Angst vor AttackenJobcenter kontrollieren auf Drogen und Waffen
Kieler Nachrichten vom 31.01.2014: Jobcenter sucht Sicherheitsdienst
Kieler Nachrichten/dpa vom 01.02.2014: Nach Stellenausschreibung in Kiel – Piraten fordern Abrüstung in Jobcentern


Sozialpolitische Forderungen der Kieler Linken

Logo_Ratsfraktion2Im Rahmen der Beratungen zum städtischen Haushalt für 2014 hat der Fraktionsvorsitzende der Ratsfraktion DIE LINKE in der Kieler Ratsversammlung, Heinz Wieser, am 12.12.2013 sozialpolitische Forderungen für Kiel bekräftigt. Die Rede soll hier im Auszug wiedergegeben werden:

Forderung nach dem Wiederaufbau eines städtischen Wohnungsbestandes

„Es gibt so einiges an Gründen für uns, ihren Haushalt abzulehnen. Ich will ihnen aber zwei Punkte benennen, die ich für entscheidender halte. Zuerst: Ihre kategorische Ablehnung einen städtischen Wohnungsbestand aufzubauen. Das ist ein Fehler mit verheerenden Folgen für die Entwicklung des Kieler Wohnungsmarktes. Ihre Weigerung ist auch nicht nachzuvollziehen, sind doch Investitionen in den eigenen Wohnungsbestand durchaus rentierlich und würden zu den Investitionen gehören, die die Kommunalaufsicht bereit wäre vor die berühmte Klammer zu ziehen. Mit eigenen Wohnungen hat eine Kommune Gestaltungsmöglichkeiten und, das ist vielleicht wichtiger, Einfluss auf die Mietpreisentwicklung.

Wenn sie schon bereit sind zuzugeben, dass der Verkauf der KWG ein großer Fehler war – ich weiß, sie hören das nicht gerne – aber, wenn sie das schon öffentlich zugeben, dann ist es umso unverständlicher, dass sie nicht bereit sind, diesen Fehler zu korrigieren. Wir wissen, dass man es nicht von heute auf morgen realisieren kann, dass die Stadt auf dem Markt wieder eine Rolle spielt. Das wird dauern. Sicher. Aber man muss doch zumindest damit beginnen, um sukzessive auf dem Wohnungsmarkt wieder ein einflussnehmender Akteur zu werden.

Sie geben 80 Mio. EUR pro Jahr, ein Zehntel des Gesamthaushaltes als KdU an die freie Wohnungswirtschaft, jeden Monat 6,5 Mio. EUR. Dieser Betrag wird durch einen eigenen Wohnungsbestand natürlich nicht kleiner. Aber die Stadt würde partizipieren als Besitzerin eigener Wohnungen. Dass sie diese städtische Einnahmemöglichkeit einfach ignorieren, ist vollkommen unverständlich. Sie beklagen lautstark kaum Möglichkeiten zu haben, die städtischen Einnahmen zu erhöhen. Hier bietet sich eine Gelegenheit. Natürlich ist der Besitz von Wohnungen auch mit Kosten verbunden, das wissen wir auch. Eine städtische Wohnungsbaugesellschaft könnte aber, je nach Größe des Wohnungsbestandes, beträchtliche Mittel zum Haushalt beitragen. Ihre Weigerung hier wirtschaftlich aktiv zu werden, macht ihre Bemühungen die Einnahmesituation der Stadt verbessern zu wollen, nicht gerade glaubwürdiger und ist im Grunde ignorant und verantwortungslos.“

Forderung nach einem Mobilitätsticket

„Der zweite entscheidende Punkt unserer Ablehnung ist ihre permanente Weigerung, die Mobilität von Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommen finanziell zu unterstützen. Was denken sie, warum wir die Einführung eines Mobilitätstickets so vehement und penetrant fordern? Weil wir kein Interesse an anderen Politikthemen haben? Nein, ganz bestimmt nicht. Der Grund ist ein ganz einfacher. Die Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen, brauchen so ein Ticket. Und zwar dringend. Ganz dringend. Mobilität ist heutzutage ein wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe. Wer sich in der Stadt nicht bewegen kann, ist sozusagen nicht mit dabei. So einfach, so schlimm. Die Stadt unterhält Kultureinrichtungen, Beratungsstellen, vieles mehr, was löblich und sinnvoll ist. Aber erreichen auch alle Menschen diese Angebote? Nein. Und das ist das Problem. Grenzen sie die Menschen nicht aus.

Ausgrenzung und die Verweigerung der Teilhabe ist das gemeinste was man Menschen, vor allem Kindern, antun kann. 

Ich habe im Zusammenhang mit dem Wohnungsmarkt hier schon einmal die Landespastorin Thobaben zitiert, die sagte, man könne die Versorgung mit Wohnraum nicht allein dem Markt überlassen. In Gesprächen mit dem KDA, das ist, wenn sie so wollen, die Gewerkschaft der Kirchen und kirchlichen Einrichtungen, es ging dabei um Arbeitnehmerrechte und die sogenannte Armutsindustrie, habe ich festgestellt, dass wir in Analyse und Forderungen vieles gemeinsam hatten. Auf mein Resümee: “Ihr seid ja richtig links.“ bekam ich die Antwort: „ Ja, nein, wir nennen das aber nicht links, wir nennen das nah am Menschen.“

An die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hier im Raum: Bauen sie bezahlbaren Wohnraum, helfen sie Menschen mit geringem Einkommen am Leben in unserer Stadt teilhaben zu können. Erinnern sie sich ihrer Geschichte und machen sie es besser als ihre Genossinnen und Genossen der Bundesebene:

… machen sie eine Politik, die nah am Menschen ist.“

Die gesamte Haushaltsrede findet sich hier: http://www.linksfraktion-kiel.de/


Telefonlisten der Jobcenter

logoDie Piratenpartei Deutschland hat die Telefonlisten mit den Durchwahlnummern der Sachbearbeiter von zur Zeit 134 Jobcentern veröffentlicht. Damit setzt sie das Transparenz-Projekt von Harald Thomé fort, der das Kostenrisiko für Rechtsverfahren nicht mehr tragen mochte, die ihm von mehreren Jobcentern angedroht wurden. Harald Thomé entschied sich am 8. Januar 2014, das Projekt aufzugeben. Die Piratenpartei führt es nun weiter, denn als Partei kann sie nach eigener Aussage den Einschüchterungsversuchen von Jobcentern gelassener entgegentreten als eine Einzelperson.

Die Telefonliste findet sich hier, ein Bericht auf Spiegel Online hier.
Eine nette Idee: Rechtsanwalt Thomas Lange: Verklagt mich doch
Siehe auch: Bürgerbeauftragte: Bürger klagen über mangelnde Erreichbarkeit und unzureichendes Beratungsangebot der Behörden

Nachtrag 02.02.2014 (heutiger Newsletter von Harad Thomé): Piratenpartei setzt das Telefonlistentransparenzprojekt fort

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Auch unter 25jährige haben Anspruch auf volle Miete

Wappen KielNach den Richtlinien der Landeshauptstadt Kiel ist bei unter 25jährigen Beziehern von Leistungen nach dem SGB II ohne abgeschlossene Berufsausbildung eine Miete bis maximal 224 € inklusive Heizkosten anzuerkennen, mit einer abgeschlossenen Ausbildung werden die Mietobergrenzen zugrunde gelegt, die auch für über 25jährige gelten.

Diese vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht bislang bestätigte Praxis haben mehrere Kammern am Sozialgericht Kiel zu Recht für rechtswidrig erklärt. Die Praxis der Stadt orientiere sich an den Regelungen zum BAföG-Recht. Die Möglichkeit für Studenten, nach § 27 Abs. 3 SGB II vom für sie örtlich zuständigen Jobcenter einen Zuschuss zu ihren angemessenen Aufwendungen für ihre Unterkunft zu erhalten, die vom BAföG nicht gedeckt sind, zeige indessen, dass eine an den BAföG-Regelungen orientierte Bemessung der Mietobergrenzen für junge Erwachsenen sinnwidrig ist. Denn der Anspruch auf ergänzende Leistungen zur Deckung des durch das BAföG ungedeckten Teils der Unterkunfts- und Heizkosten wurde gerade ins SGB II aufgenommen, weil die BAföG-Sätze nicht immer ausreichend sind, um das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Die Unterkunftssätze, die im Leistungsrecht des BAföG gewährt werden, stellten ausdrücklich nur einen pauschalierten Zuschuss zu den Unterkunftskosten dar, die regelmäßig nicht zum Bestreiten der tatsächlichen Kosten ausreichen. Auch unter 25jährige haben deswegen einen Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung in der Höhe, in der diese auch über 25jährigen zustehen.

(SG Kiel, Urteil vom 26.11.2013, S 30 AS 767/10; SG Kiel, Beschluss vom 9.8.2013, S 31 AS 251/13 ER – rechtskräftig)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2014

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X

Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Nach wohl überwiegender Auffassung der Kammern am SG Kiel (etwa SG Kiel, Urteil vom 26.03.2013, S 38 AS 278/10) können im Falle eines erfolgreichen Widerspruchsverfahrens die durch die Mandatierung eines Rechtsanwalts entstandenen Kosten nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X erst geltend gemacht werden, nachdem dem Mandanten die Kosten von seinem Rechtsanwalt nach § 10 Abs. 1 Satz 1 RVG tatsächlich in Rechnung gestellt worden sind (unter Hinweis auf LSG NRW, Beschluss vom 20.04.2012, L 19 AS 26/12 B). Dies soll auch für den Fall geltend, dass die Mandanten beratungshilfeberechtigt sind und es dem Rechtsanwalt standesrechtlich eigentlich untersagt ist, seinen Mandanten eine Gebührenrechnung zu stellen, § 49a BRAO (zur Kritik hier).

In seinen rechtlichen Hinweisen vom 10.01.2014 hat die 36. Kammer am SG Kiel im Verfahren S 36 AS 1459/13 dargelegt, dass diese Rechtsprechung sich nach vorläufiger Einschätzung des Gerichts nur auf die Geltendmachung des Gebührenanspruches, nicht jedoch auf die Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X bezieht:

„Da es sich bei der Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X um einen den Sozialleistungsbezieher belastenden Verwaltungsakt handelt, kann dieser auch angegriffen werden, ohne dass eine konkret bestehende Kostenlast nachgewiesen werden muss. Es wäre nach vorläufiger Einschätzung der Kammer allenfalls denkbar, bei nicht bestehender Belastung mit Kosten ein fehlendes allgemeines Rechtsschutzbedürfnis anzunehmen. Dies wäre aber wohl nur dann gerechtfertigt, wenn eine Zahlungsverpflichtung oder anderweitige Belastung mit Kosten auch in der Zukunft gänzlich auszuschließen wäre. Dies dürfte vorliegend nicht der Fall sein.“

Die Mandanten bleiben in einem Rechtsstreit, in dem es um die Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X geht, auch dann aktivlegitimiert, wenn sich der Rechtsanwalt von seinen Mandanten in der Vollmacht „sämtliche Kostenerstattungsansprüche gegen den o.g. Anspruchsgegner“ hat abtreten lassen:

„Diese Abtretung erfasst aber – unabhängig von der Wirksamkeit einer solchen Vereinbarung im Rahmen einer Formularvollmacht – nach vorläufiger Einschätzung nur die Geltendmachung eines (feststehenden) Erstattungsanspruches, gegebenenfalls ein- schließlich des Höhenstreits, nicht jedoch die Kostengrundentscheidung.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Grüne, SPD, SSW und CDU für Laubenabriss

Prüner Schlag 2014

Stadt Kiel lässt Gärten zerstören

Mit ihrem Antrag „Laubenabriss stoppen!“ in der heutigen Ratsversammlung hat die Ratsfraktion DIE LINKE die Kieler Ratsversammlung dazu aufgefordert, sich aus Respekt vor dem von über 10.000 Kieler Bürgern angestrebten Bürgerentscheid für den Erhalt der zweitältesten Gartenanlage Deutschlands für eine störungsfreie Durchführung des Bürgerentscheides einzusetzen und die Verwaltung aufzufordern, die erteilte Genehmigung zum Abriss der Gartenlauben auf dem „Prüner Schlag“ zu widerrufen, jedenfalls aber die Firma Krieger (Möbel Kraft) aufzufordern, trotz erteilter Abrissgenehmigung keine Gartenlauben abzureißen und die Durchführung des Bürgerentscheides abzuwarten.

Grüne, SPD, SSW und CDU haben diesen Antrag geschlossen abgelehnt und sich damit für eine völlige Zerstörung der Kleingartenanlage „Prüner Schlag“ noch vor dem Bürgerentscheid, der am 23.03.2014 durchgeführt werden wird, ausgesprochen. Wer von Politikern Respekt vor dem Willen der Bürger erwartet, Bürgerentscheide für ein hohes Gut hält und von der Stadt Kiel einen fairen Umgang mit seinen Bürgern einfordert, kann dabei auf Grüne, SPD, SSW und CDU nicht setzen.

Dem Antrag der LINKEN Ratsfraktion haben die Ratsfraktionen der FDP und der Piraten sowie WIR IN KIEL und die NPD zugestimmt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wir fordern Respekt für den ersten Bürgerentscheid Kiels

Prüner Schlag 2014

Der Prüner Schlag, die zweitälteste Kleingartensiedlung Deutschlands, im Januar 2014.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Peter Todeskino,

Kiel hatte für mich bisher das Image einer weltoffenen, lebenswerten Stadt am Meer. Dieses Image wird nun massiv gestört durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem ersten Bürgerentscheid* in der Geschichte der Stadt. Wir sehen täglich Bilder von intakten Gartenlauben, die wenig später zu Trümmerhaufen zusammengeschoben wurden, von tiefen Baggerspuren in Gärten und abgesägten Hecken; diese massiven Eingriffe haben nichts mehr mit der „Verkehrssicherung“ zu tun, von der Sie gesprochen haben.

Für das geplante Möbelzentrum mit Möbel Kraft und Sconto gibt es keinen rechtskräftigen Bebauungsplan. Sie setzen damit einen Vorentwurf um, der ohne Bürger- oder Ratsbeteiligung entstanden ist. Ich fordere Sie daher dringend auf, unverzüglich mit den Initiatoren des Bürgerbegehrens, dem Kleingärtnerverein und dem Investor Krieger Gespräche über eine einvernehmliche Lösung bezüglich der Verkehrssicherungsmaßnahmen aufzunehmen. Es besteht sonst die Gefahr, dass Ihr Vorgehen als Strategie der vollendeten Tatsachen wahr genommen wird und dass damit im Endeffekt der 1. Kieler Bürgerentscheid von einem „Grünen“ Bürgermeister torpediert wird.

Mit freundlichen Grüßen,

Ulrike Hunold

* Bürgenentscheid: Ja zum Planungsstopp zu Möbel Kraft und Sconto auf dem 17.2ha großen Kleingartengelände am Westring. Info unter http://ttkielblog.wordpress.com
Petition unterzeichnen: Link zur Petition
Petition zum Rücktritt von Bürgermeister Peter Todeskino: Link zur Petition
RTL Nord vom 13.01.2014: Kieler Kleingärtner wehren sich gegen Möbel Kraft
Sat1.Regional vom 23.01.2014: Streit um geplante Möbel Kraft-Filiale in Kiel

Mehr zum Thema auf dieser Seite:
Kiel: Soziale Politik statt “Grüner” Politik!


Jobcenter Kiel: Von Dumpinglöhnen keine Kenntnis

Logo Jobcenter KielWie berichtet, klagen Jobcenter in einigen Kommunen vorenthaltenes Arbeitsentgelt aus übergegangenem Recht von Arbeitgebern ein, die sittenwidrige Löhne gezahlt haben. Die Kieler Ratsfraktion DIE LINKE hat dies zum Anlass genommen, beim Jobcenter Kiel nachzufragen:

1. Hat das Jobcenter Kiel Kenntnis von gezahlten Dumpinglöhnen an Kieler Leistungsberechtigte nach dem SGB II?
2. Wird die Frage zu 1. bejaht, bitte ich um Beantwortung nachstehender Fragen:
a) In wie vielen Fällen ist das Jobcenter straf- bzw. arbeitsrechtlich gegen in Kiel ansässige Arbeitgeber vorgegangen (Angaben bitte differenziert nach Jahren)?
b) Ab welchem Stundenlohn geht das Jobcenter Kiel von einem sittenwidrigen Lohn aus?
c) Wie hoch waren die gezahlten Löhne in den vom Jobcenter Kiel beanstandeten Fällen?

Auf die Fragen hat das Jobcenter Kiel mit Schreiben vom 06.01.2014 nun mitgeteilt:

Zu Ihren Fragen können wir folgende Auskünfte geben:
1. Nein.
2. b) Es gelten die gesetzlichen Regelungen.
Ergänzend möchten wir lhnen erläutern, dass das Jobcenter Kiel bei jeder Antragstellung von Aufstockern seit 2005 grundsätzlich auf die Einhaltung der ortsüblichen Löhne der Branchen achtet, um die tatsächliche Hilfebedürftigkeit und vorrangige Leistungen festzustellen. Zudem werden in der Erstberatung durch die lntegrationsfachkräfte bereits bestehende Arbeitsverhältnisse auf ihre Substanz, Tragfähigkeit und Ausbaufähigkeit überprüft. Seit 2005 gab es im Jobcenter Kiel weniger als 10 Verdachtsfälle. Nach interner Prüfung der Bereiche Ordnungswidrigkeiten oder Arbeitsgeberservice lag hierbei keine Sittenwidrigkeit vor.

Soweit das Jobcenter Kiel auf die Frage, ab welchem Stundenlohn es von einem sittenwidrigen Lohn ausgeht, auf die „gesetzlichen Regelungen“ verweist, ist darauf hinzuweisen, dass es „gesetzliche Regelungen“ darüber, ab wann ein Lohn sittenwidrig ist, gar nicht gibt. Vor dem Hintergrund dieser unzutreffenden rechtlichen Annahme darf angezweifelt werden, dass eine sorgfältig Prüfung durch das Kieler Jobcenter derzeit in jedem Fall erfolgt. Unklar ist auch, inwieweit das Jobcenter Kiel „bestehende Arbeitsverhältnisse auf ihre Substanz, Tragfähigkeit und Ausbaufähigkeit“ überprüfen will. Ein Arbeitsverhältnis ist tragfähig, solange das Unternehmen den vereinbarten oder tarifvertraglichen Lohn bezahlen kann. Auf die „Substanz“ des Arbeitsverhältnisses – was immer damit gemeint sein mag – kommt es jedenfalls nicht an, solange der Arbeitgeber den Lohn zahlt und ob eine Arbeitsverhältnis „ausbaufähig“ ist, wird sich nicht an den Wünschen einer Behörde festmachen lassen, sondern an der Auftragslage des jeweiligen Unternehmens.

Von einer sittenwidrigen Vergütung wird im Allgemeinen gesprochen, wenn das gezahlte Entgelt nicht einmal 2/3 der üblichen tariflichen Vergütung erreicht. Liegt eine vertragliche Lohnvereinbarung unterhalb der so ermittelten Grenze und klagt der Arbeitnehmer hiergegen vor dem Arbeitsgericht, wird der Arbeitgeber im Regelfall verurteilt, die tarifliche Vergütung zu bezahlen. Das Vorenthalten von Arbeitsentgelt ist gemäß § 266a StGB strafbar. Betroffene Geringverdiener aus Kiel, die meinen, das ihnen gezahlte Gehalt könnte sittenwidrig sein und ihren Lohn mit ALG II aufstocken, werden gebeten, sich an die Ratsfraktion DIE LINKE in Kiel, Rathaus, Fleethörn 9 – 13, 24099 Kiel, Telefon: (0431) 901 – 2542, Email: post@linksfraktion-kiel.de zu wenden oder die Kommentarfunktion in diesem Blog zu nutzen.

RA Helge Hildebrandt / Florian Jansen, Geschäftsführer der Kieler Ratsfraktion DIE LINKE


Keine hälftige Anrechnung der Widerspruchsgebühr auf die Gebühr für ein gerichtliches Eilverfahren

Thorben Wengert / pixelio.de

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Auch nach dem neuen Vergütungsrecht sind für Verfahren ab dem 01.08.2013 Rechtsanwaltsgebühren für ein Widerspruchsverfahren nicht zur Hälfte auf den Vergütungsanspruch für ein anschließendes sozialgerichtliches Antragsverfahren anzurechnen.

In Teil 3 Vorbemerkung 3, dort Abs. 4 VV RVG ist seit 01.08.2013 geregelt:

(4) Soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäftsgebühr nach Teil 2 {außergerichtliches Verfahren, Widerspruchsverfahren} entsteht, wird diese Gebühr zur Hälfte, bei Wertgebühren jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75, auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet. Bei Betragsrahmengebühren beträgt der Anrechnungsbetrag höchstens 175,00 €. Sind mehrere Gebühren entstanden, ist für die Anrechnung die zuletzt entstandene Gebühr maßgebend. Bei einer Betragsrahmengebühr ist nicht zu berücksichtigen, dass der Umfang der Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren infolge der vorangegangenen Tätigkeit geringer ist. Bei einer wertabhängigen Gebühr erfolgt die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstands, der auch Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist.

Das Jobcenter Kiel hatte die Auffassung vertreten, dass im neuen Kostenrecht bei der Festsetzung von Kosten in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auch Kosten eines Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen seien, welches in „derselben Angelegenheit“ geführt worden sei.

Dem bin ich mit Schriftsatz vom 13.11.2013 (Az. 209/13) entgegengetreten und habe u.a. ausgeführt:

Bei dem Antragsverfahren S 34 AS 284/13 ER dürfte es sich bereits nicht um denselben Gegenstand wie bei dem Widerspruchsverfahren W 2613/13 handeln, denn bei einem Eilverfahren ist neben der materiellen Rechtslage stets auch das besondere Erfordernis der Eilbedürftigkeit zu prüfen. Ein Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt damit eine Rechtsschutzform dar, die eigenen Entscheidungsmaßstäben folgt und somit nicht auf ein vorangegangenes Verwaltungsverfahren aufbaut (SG Schleswig, Beschluss vom 28.02.2012, S 4 SF 67/09 E). Mit dieser Begründung hat auch die Kostenkammer am SG Kiel in gefestigter Rechtsprechung Nr. 3102 VV RVG anstatt Nr. 3103 VV RVG a.F. für anwendbar erklärt. (…)

Für dieses Ergebnis spricht weiter, dass die Gebühr für ein außergerichtliches Verfahren nicht auf zwei (mögliche) gerichtliche Verfahren – ein Antrags- und ein Hauptsacheverfahren – angerechnet werden kann.

Dieser Auffassung hat sich das SG Kiel mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 30.12.2013, S 34 AS 284/13 ER angeschlossen und ausgeführt:

Die Rechtsauffassung hinsichtlich der Nichtanrechnung der Geschäftsgebühr wird auch vom Kostenbeamten geteilt. Für die weitere Begründung wird auf den Schriftsatz des Antragstellers vom 13.11.2013 verwiesen.

Weiter war die Gebühr in diesem Fall nicht die „zuletzt entstandene Gebühr“, denn das Widerspruchsverfahren wurde (wenngleich nur kurze Zeit) nach dem Eilverfahren aufgenommen.

Fraglich – allerdings für dieses Verfahren rechtlich unerheblich – war die Frage, ob die „zuletzt entstandene Gebühr“ vor einem gerichtlichen Verfahren nicht stets die Beratungshilfegebühr ist, welche für die Beratung über die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels – hier also eines sozialgerichtlichen Verfahrens – entsteht.

Wie hier auch SG Kiel, Kostenfestsetzungsbeschluss vom 03.02.2014, S 38 AS 372/13 ER (hiesiges Az. 198/13).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Zankapfel Bedarfsgemeinschaft

Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Mit Beschluss vom 18.11.2013 hat das Sozialgericht Kiel im Verfahren S 35 AS 355/13 ER einige wichtige Hinweise zur Beurteilung des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft für den Fall gegeben, dass keiner der Vermutungstatbestände nach § 7 Abs. 3 a SGB II vorliegt.

Kein Indiz für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft sind danach Angaben im ALG II Antrag zum Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, wenn das Jobcenter bereits im Rahmen der Antragsstellung ohne hinreichende Prüfung von einer Bedarfsgemeinschaft ausgeht und durch Ausgabe entsprechender Antragsunterlagen eine vorzeitige Weichenstellung vornimmt.

Auch der Umstand, dass ein gemeinsamer Mietvertrag mit gesamtschuldnerischer Haftung im Sinne von § 421 BGB abgeschlossen wurde, rechtfertigt für sich nicht die Annahme eine Einstehensgemeinschaft, wenn sich die Partner der Bedeutung und Tragweite einer gesamtschuldnerischen Haftung nicht bewusst waren und der Grund für den gemeinsamen Vertragsschluss die Absicherung des zuziehenden Partners vor einem unfreiwilligen Wohnungsverlust ist, welcher nachvollziehbar ist und auch einem weit verbreiteten Sicherheitsbedürfnis von Mietern entspricht (a.A. wohl LSG NRW, Beschluss vom 29.05.2012, L 12 AS 1409/11). Auch das weitergehende Motiv, sicherzustellen, dass die Antragstellerin in dem Haus verbleiben kann, falls dem Partner berufsbedingt etwas zustößt, ist nach Auffassung des Gerichts „eher Ausfluss eines respektvollen weil umsichtigen Umgangs miteinander, als dass hieraus valide Rückschlüsse auf ein aktives gegenseitiges füreinander Einstehen in jeder Lebens- und insbesondere auch Notlage gezogen werden könnten.“

Zuletzt waren auch die partielle Aufgabe von Privatsphäre und weitere Unterstützungshandlungen bei der Haushaltsführung und Nahrungszubereitung sowie die beabsichtigte Ermöglichung der Berufsausübung im Haus in diesem Fall als Nothilfe zu werten, die nicht zu der Annahme einer Verantwortung- und Einstehensgemeinschaft führen konnte.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Das neue Antragsformular für die Beratungshilfe

Bernd Kasper / pixelio.de

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Am 19.12.2013 hat der Bundesrat die „Verordnung zur Verwendung von Formularen im Bereich der Beratungshilfe“ (BerHFV) mit einigen Änderungen versehen verabschiedet. Die BerHFV ist am 09.01.2014 im Bundesgesetzblatt verkündet worden und damit in Kraft getreten. Ab dem 09.01.2014 muss daher das neue Formular verwendet werden. Im Rahmen des Entwurfs für das Beratungshilfeformular hat die Bundesrechtsanwaltskammer eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht (Stellungnahme Nr. 21/2013), von denen das Bundesjustizministerium einige aufgegriffen hat. So wird etwa – wie bisher – nur nach dem Beruf und der Erwerbstätigkeit und nicht auch nach dem Bildungsabschluss des rechtsuchenden Antragstellers gefragt. Die für die Praxis wichtigsten Neuerungen sollen hier kurz dargestellt werden.

Andere Möglichkeiten kostenloser Beratung

Unter B ist für eine positive Beratungshilfeentscheidung an zweiter Stelle zu erklären: „In dieser Angelegenheit besteht für mich nach meiner Kenntnis keine andere Möglichkeit, kostenlose Beratung und Vertretung in Anspruch zu nehme.“ Entfallen ist die bisherige beispielhafte Aufzählung „(z.B. als Mitglied eines Mietervereins, einer Gewerkschaft oder einer anderen Organisation)“, welche sich jetzt nur noch in dem „Hinweisblatt zum Antrag auf Beratungshilfe“ befindet. Möglichkeiten für eine kostenlose Beratung sind:

  • Bei Mitgliedschaft in einem Mieterverein (etwa dem Kieler Mieterverein) der Mieterverein für das Rechtsgebiet Mietrecht.
  • Bei Mitgliedschaft in einem Sozialverband (etwa dem SoVD oder dem VDK) der entsprechende Verband für das Rechtsgebiet Sozialrecht.
  • Bei Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft (etwa Verdi) die Gewerkschaft für die Rechtsgebiete Arbeitsrecht und ggf. Sozialrecht.

Keine andere Möglichkeit für eine kostenlose Beratung sind demgegenüber:

  • Die öffentliche Rechtsberatung im Kieler Rathaus, denn hier wird im Regelfall eine einkommensabhängige Verwaltungsgebühr erhoben. Diese liegt zwischen 5 € und 26 €. Ausnahme: Sozialleistungsempfängerinnen und Sozialleistungsempfänger erhalten Gebührenbefreiung bei Beratungen im Arbeits-, Miet-, Erb- und Familienrecht sowie in Pfändungssachen. Allerdings wird hier nur Beratung gewährt, so das bei Vertretungsbedarf im Arbeits-, Miet-, Erb- und Familienrecht sowie in Pfändungssachen auch für diese Rechtsgebiete die öffentliche Rechtsberatung keine „andere Möglichkeit“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHiG ist.
  • Das Büro der Bürgerbeauftragten, denn Bürgerinnen und Bürger führen eine Petition (vgl. §§ 2 und 3 Bürgerbeauftragtengesetz), wenn sie sich an die Bürgerbeauftragte wenden. Das in der Verfassung verankerte Petitionsrecht beruht ausnahmslos auf Freiwilligkeit. Aus diesem Grund kann das Führen einer Petition nicht Voraussetzung für die Gewährung von Beratungshilfe sein (mehr hier, eine Stellungnahme der Bürgerbeauftragten zum Thema findet sich hier).
  • Die Möglichkeit, sich durch einen Rechtsanwalt unentgeltlich oder gegen Vereinbarung eines Erfolgshonorars beraten oder vertreten zu lassen, ist ebenfalls keine andere Möglichkeit der Hilfe im Sinne des von § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHiG, vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 BerHiG.

Da das Formular ausdrücklich auf die Kenntnis des Rechtsuchenden abstellt, kann m.E. auch eine objektiv falsche Erklärung (etwa wenn der Antragsteller nicht weiß, dass seine Gewerkschaft auch im Sozialrecht Beratung und Vertretung anbietet) nicht zum nachträglichen Widerruf der Bewilligung führen. Hier ist es Aufgabe der Rechtspfleger bzw. Rechtsanwälte, konkret nachzufragen – und Aufgabe des Rechtsuchenden, gegebenenfalls Erkundigungen einzuholen, soweit er sich auf Nachfrage nicht sicher ist, welche kostenlosen Beratungs- und Vertretungsmöglichkeiten er hat.

Vollständige Angaben bei ALG II-Bezug

Während Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII bei Vorlage eines gültigen Bewilligungsbescheides nach wie vor keine weiteren Angaben zu ihrem Einkommen und Vermögen machen müssen soweit das Gericht nicht etwas anderes anordnet, müssen Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) ab 01.01.2014 das Beratungshilfeformular vollständig ausfüllen. Die Angaben müssen gegebenenfalls (etwa durch Vorlage von Kontoauszügen) glaubhaft gemacht werden, wenn das Gericht dies verlangt. Aus diesem Grunde sollten Bezieher von Leistungen nach dem SGB II zur Beantragung eines Berechtigungsscheins bei dem für sie zuständigen Amtsgericht bzw. – wenn sie sich direkt an den Rechtsanwalt wenden – zum ersten Beratungstermin bei ihrem Rechtsanwalt Nachweise zu allen Angaben ihres Einkommens oder Vermögens mitbringen, die sich nicht bereits aus dem ALG II-Bescheid ergeben (vor allem einen aktuellen Kontoauszug, ggf. das Sparbuch usw.).

Angaben zum Vermögen

Unter F wird von den meisten Beziehern von Leistungen nach dem SGB II nur das Girokonto anzugeben sein, weil anderes „Vermögen“ nicht vorhanden ist. Hier ist der aktuelle Kontostand im Zeitpunkt der Beratung anzugeben und sinnvoller Weise durch einen Kontoauszug nachzuweisen. Auch dann, wenn sich das Konto im Minus befindet, sollte das Konto immer angegeben werden. Wer Barvermögen von mehr 2.600 € (+ 256 € für jede Person, der Unterhalt gewährt wird) hat, erhält keine Beratungshilfe. Angegeben werden muss nun unter F auch, ob Eigentum an einem Kfz besteht. Eigentümer ist derjenige, der das Fahrzeug gekauft hat und an den dieses zivilrechtlich übereignet worden ist, nicht also notwendig der Fahrzeughalter. Ein vom Antragsteller oder einem Familienmitglied selbst genutztes angemessenes Fahrzeug ist dann nicht als Vermögenswert zu berücksichtigen, wenn dieses zur Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage dient. Zur Beurteilung der „Angemessenheit“ kann m.E. auf die Rechtsprechung des BSG zu § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II zurückgegriffen werden, wonach eine Kraftfahrzeug bis zu einem Verkehrswert von 7.500,00 € grundsätzlich als „angemessen“ zu gelten hat (BSG, Urteil vom 06.09.2007, B 14/7b AS 66/06 R). Zur Sicherung eines angemessenen Lebensstandards soll ein in diesem Sinne angemessenes Kraftfahrzeug nach den „Ausfüllhinweisen“ nur dienen, wenn das Fahrzeug „für die Berufsausbildung oder Berufsausübung benötigt wird“. Bei ALG II-Beziehern folgt der Schutz demgegenüber aus der Erwerbsobliegenheit und dem hieraus folgenden Flexibilitätserfordernis, welches Grund für den Vermögensschutz in § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II ist. Bei Beziehern von Leistungen nach dem SGB XII sind Angaben zum Vermögen regelmäßig nicht erforderlich, so dass sich Fragen zum Vermögensschutz eines Pkw nicht stellen, solange das Amtsgericht nicht nachfragt. Im SGB XII ist das selbstgenutzte „angemessene“ Kraftfahrzeug (dazu SG Augsburg, Urteil vom 15.09.2011, S 15 SO 73/11: 7.500 € + nicht ausgeschöpfter Vermögensfreibetrag) im Übrigen nur geschützt, wenn der Antragsteller oder ein Familienmitglied etwa aufgrund einer Gehbehinderung auf das Fahrzeug angewiesenen ist. In Kiel wird eine Verwertung von Kraftfahrzeugen im Regelungsbereich SGB XII zudem grundsätzlich nicht verlangt, wenn der Verkehrswert nicht mehr als 2.600 € beträgt (auch wenn zusätzlich Barvermögen in Höhe von 2.600 € vorhanden ist). Wie in diesen Fällen bei der Gewährung von Beratungshilfe zukünftig entschieden werden wird, bleibt abzuwarten.

Zahlungsverpflichtungen und sonstige Belastungen

Neu und zugleich hauptverantwortlich dafür, dass das neue Beratungshilfeformular nun drei anstatt wie bisher zwei Seiten lang ist, sind die Angaben zu „Zahlungsverpflichtungen und sonstigen Belastungen“. Die erste Frage („Haben Sie … Zahlungsverpflichtungen?“) ist unsinnig, weil jeder Antragsteller irgendwelche Zahlungsverpflichtungen hat. Bei ALG II-Bezug kommt es in der Regel nicht darauf an, etwa Kreditraten, die bei der Beratungshilfegewährung (nach mir nicht verständlicher Wertung des Gesetzgebers) einkommensmindernd zu berücksichtigen sind, anzugeben. Im Regelfall sollte daher die Frage „Haben Sie … Zahlungsverpflichtungen?“ mit ja beantwortet werden und der Satz angefügt werden: „Die üblichen, wie Mietzahlung, Telefon etc.“ Angaben in der Tabelle dürften regelmäßig entbehrlich sein (eine Ausnahme gilt möglicherweise bei sog. Aufstockern, die ALG II nur noch in ganz geringer Höhe beziehen). Mir ist indes kein Fall bekannt, in dem bei einem ALG II-Bezieher die Voraussetzungen der Beratungshilfe aufgrund der Einkommensverhältnisse nicht vorlagen (a.A. ein Rechtspfleger am AG Kiel).

4-Wochen-Frist zur Antragstellung

Wird der Anwalt unmittelbar aufgesucht (also nicht zuvor ein Berechtigungsschein beim örtlich zuständigen Amtsgericht beantragt), muss der Antrag zukünftig zwingend innerhalb von 4 Wochen ab Beginn der Beratung/Vertretung gestellt werden, § 6 Abs. 2 BerHiG.

Hinweise für die Praxis

Aufgrund der neuen deutlich umständlicheren Beratungshilfepraxis sollten Rechtsuchende vor einer anwaltlichen Beratung grundsätzlich einen Berechtigungsschein bei dem für sie zuständigen Amtsgericht beantragen. So haben sie die Sicherheit, dass ihnen tatsächlich Beratungshilfe gewährt wird und der Rechtsanwalt ist von der ggf. zeitraubenden Prüfung des Vorliegens und Nachweises der Beratungshilfevoraussetzungen befreit. Eine Ausnahme gilt für alte, kranke oder gehbehinderte Rechtssuchende bzw. solche, die einen weiten Weg zum zuständigen Amtsgericht auf sich nehmen müssten oder auch in besonders eiligen Fällen. Zur Beantragung eines Berechtigungsscheins bei dem für sie zuständigen Amtsgericht sollten Rechtsuchende unbedingt mitnehmen:

  • Ihre Personalausweis.
  • Ihren Bewilligungsbescheid (ALG II/Grundsicherung), Wohngeldbescheid und/oder Einkommensnachweis.
  • Lückenlose Kontoauszüge der letzten 4 Wochen bis aktuell und ggf. Nachweise über sonstige Konten/Sparbücher etc.
  • Soweit keine Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II oder SGB XII bezogen werden oder zwar Grundsicherungsleistungen bezogen werden, aber die tatsächliche Miete über der im Bescheid anerkannten Miete liegt und über zusätzliches Einkommen verfügt wird: Sicherheitshalber den aktuellen Mietvertrag oder eine Mietbescheinigung (wenn der Mietvertrag schon älter und nicht mehr aktuell ist).
  • Im Einzelfall und soweit erforderlich Nachweise zu sonstigen Belastungen (kostenaufwendige Ernährung, Zahlungsverpflichtungen etc.).

Weiterführende Infos:

Haufe Online Redaktion, Neues Prozesskosten- und Beratungshilferecht

juris.de: Reform der Prozesskostenhilfe zum 01.01.2014

reno-heute.de: Reform der Prozesskostenhilfe tritt zum 1.1.2014 in Kraft

Christina Hofmann, BRAK-Mitteilungen 6/2013, S. 269 f. (in der pdf-Datei ab S. 29)

Mitteilung der BRAK vom 23. Dezember 2013, Neue PKH- und BerH-Formulare (mit Links auf alle BR-Drucks.)

Assessorin Sabine Reckin, Wann der Staat jetzt noch Rechtsrat finanziert – und was Anwälte wissen sollten, Anwaltsblatt 12/2013, Seite 889 – 893.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte: Bürger klagen über mangelnde Erreichbarkeit und unzureichendes Beratungsangebot der Behörden

ltsh_logoKiel (SHL) ­ Zum Ende des Jahres stellt die Bürgerbeauftragte, Birgit Wille, fest: Immer mehr Bürgerinnen und Bürgern wird die notwendige persönliche Beratung durch Behörden vorenthalten. Die Bürgerbeauftragte kritisiert die schlechte Erreichbarkeit und das mangelnde Beratungsangebot der Behörden.

Zum Ende eines sehr intensiven Arbeitsjahres muss die Bürgerbeauftragte feststellen, dass dem Anspruch vieler hilfesuchender Bürgerinnen und Bürger nach einer umfassenden persönlichen Beratung durch die Sozialbehörden immer weniger nachgekommen wird. Eine zeitnahe und unbürokratische Klärung von Fragen und Sachverhalten ist daher oft nicht möglich. Dies führt zu Konflikten und Schwierigkeiten, die durch eine konsequente Ausrichtung der Behörden auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger vermieden werden könnte.

So sind u.a. die Agenturen für Arbeit, die Familienkassen oder auch einige Jobcenter telefonisch oft nur über Servicecenter zu erreichen. Andere Behörden, wie beispielsweise die Deutsche Rentenversicherung Nord, fahren ihre Beratungsangebote in der Fläche deutlich zurück. In Schleswig-Holstein sind z. B. die Beratungsstellen in Itzehoe oder Eutin geschlossen worden. ,,Es ist offensichtlich, dass hier aus Kostenerwägungen die Service- und Beratungsangebote zurückgefahren werden“, so Birgit Wille.

Zudem ist immer stärker zu beobachten, dass die Ratsuchenden auf Broschüren und Internetseiten verwiesen werden. Nach Ansicht der Bürgerbeauftragten ist ,,Beratung aber mehr als eine gepflegte Internetseite“. Sie erwartet, dass sich Behörden wieder verstärkt an den Interessen der Hilfebedürftigen orientieren und das persönliche Beratungsgespräch die Regel wird. Darüber hinaus hält sie ein Eingreifen des Gesetzgebers für erforderlich und plädiert nochmals dafür, ein Recht auf ,,Gute Verwaltung“ in die Landesverfassung aufzunehmen.

Quelle: Pressemitteilung 138/2013


Hartz IV: Anspruch auf außerschulische Lerntherapie bei Dyskalkulie

Das Sozialgericht Schleswig hat mit Beschluss vom 11.12.2013 (S 22 AS 177/13 ER) einem 9jährigen Schüler mit festgestellter Dyskalkulie Leistungen für eine angemessene Lernförderung nach § 28 Abs. 5 SGB II zugesprochen. Auch die Kosten einer nicht nur vorübergehenden Lerntherapie sind demzufolge nach dem Bildungs- und Teilhabepaket übernahmefähig. Das Gericht hat hierzu ausgeführt:

„Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Sache ist eilbedürftig, da die Gefahr besteht, dass der Antragsteller das Klassenziel nicht erreicht. Die Tatsache, dass eine automatische Versetzung in die nächsthöhere Jahrgangsstufe erfolgt,  steht dem nicht entgegen, da die Diskrepanz zwischen den geforderten und den vom Antragsteller tatsächlich erbrachten Leistungen ohne entsprechende Lernunterstützung durch den nicht therapiebegleitet erfolgenden Wechsel in die nächsthöhere Klasse nur noch weiter wachsen wird. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass bei ihm eine Dyskalkulie besteht, wodurch für ihn der mathematische Lernvorgang erheblich erschwert wird. Laut psychodiagnostischem Befundbericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und – psychotherapie des HELIOS Klinikum Schleswig vom 17. Oktober 2013 bedarf der Antragsteller zur Verbesserung seiner Rechenfertigkeiten der besonderen individuellen Förderung. Eilbedürftigkeit besteht auch deshalb, weil sich die bei dem Antragsteller bestehende schulische Situation bereits so auswirkt, dass er z.B. bei Mathearbeiten unter Bauchschmerzen leidet. (…)

Die Lernförderung ist geeignet und erforderlich im Sinne des § 28 Abs. 5 SGB II, da schulische Angebote nach der Einschätzung des Gerichts nicht ausreichen, dem Antragsteller die Chance zu vermitteln, das Lernziel der dritten Klasse zu erreichen. Hierfür reicht der reguläre Förderunterricht nicht aus. Es bedarf vielmehr hier einer Lernförderung durch Übernahme der Kosten für außerschulische Lerntherapie im Bereich der Dyskalkulie. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass die von der Therapeutin Frau H. angebotene Lerntherapie mit Hilfe der Kieler Zahlenbilder Wege zur Behandlung der Dyskalkulie und damit für den Antragsteller die Chance eröffnet, wieder Anschluss an den schulischen Mathematikunterricht zu bekommen.

Der Eignung und Erforderlichkeit der Lernförderung steht hier nicht entgegen, dass der Förderbedarf des Antragstellers nicht nur vorübergehend besteht. Zwar soll nach der Gesetzesbegründung Lernförderung in der Regel nur kurzfristig notwendig sein, um vorübergehende Lernschwächen zu beheben. In Ausnahmefällen kann jedoch eine nur vorübergehende Lernschwäche zumindest auch dann angenommen werden, wenn der Förderbedarf das gesamte Schuljahr oder darüber hinaus besteht (so jedenfalls das Sozialgericht Itzehoe, Beschluss vom 3. April 2012, S 11 AS 50/12 ER und das Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 22. August 2013, S 10 AS 156/13 ER).“

Wie hier auch:
Sozialgericht Stade, Beschluss vom 22.11.2012, S 28 AS 781/12 ER
Sozialgericht Braunschweig, Urteil vom 08.08.2013, S 17 AS 4125/12
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 26.03.2014, L 6 AS 31/14 B

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen im Kreis Plön seit 1.11.2013

Seit dem 01.11.2013 gelten im Kreis Plön die nachfolgenden Mietobergrenzen. Die Werte sollen künftig alle zwei Jahre aktualisiert werden.

Bruttokaltmieten Stand 1.11.2013

Wohnungs-markttyp

1 Person

(bis 50 qm)

2 Personen

(50 bis 60 qm)

3 Personen

(60 bis 75 qm)

4 Personen

(75 bis 85 qm)

5 Personen

(größer als 85 qm)*

MWE

MWE

MWE

MWE

MWE

I

 

319,50

392,40

495,00

512,55

557,65

II

 

357,00

436,80

526,50

601,80

627,95

III

 

318,00

400,80

481,50

553,35

618,45

IV

 

329,50

403,80

489,00

542,30

619,40

* bezogen auf 95 qm

Quelle: Mietwerterhebung Kreis Plön 2013

Wohnungsmarkttyp I: Amt Bokhorst-Wankendorf, Amt Preetz-Land, Amt Selent/Schelsen, Bönebüttel
Wohnungsmarkttyp II: Amt Schrevenborn, Stadt Schwentinental
Wohnungsmarkttyp III: Amt Großer Plöner See, Amt Lütjenburg, Amt Probstei
Wohnungsmarkttyp IV: Stadt Plön, Stadt Preetz

Ob diese Werte einer gerichtlichen Prüfung standhalten werden, bleibt Abzuwarten. Entscheidungen in Eilverfahren sind hier noch nicht bekannt.

Weitere Infos (mit weiteren Links)
Kreis Plön will Mietobergrenzen neu regeln
Offizielle Tabelle
Vergleich WoGG + 10 % (Rechtsprechung SG Kiel) mit neuen MOG

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Vorsicht mit den Buchungsnachweisen des Jobcenters Kiel

Logo Jobcenter KielEs ist ein Problem, das so manchem Kunden des Jobcenters Kiel vertraut sein dürfte: Das Jobcenter soll die Miete direkt an den Vermieter zahlen, damit die Mietzahlungen auch „sichergestellt“ sind. Viele Vermieter wünschen das so auch ausdrücklich, wenn sie wissen, dass ihre Mieter die Miete vom Jobcenter bezahlt bekommen. Doch dann meldet sich der Vermieter überraschend und teilt unter Bezugnahme auf seine Buchungskonten mit, dass das Jobcenter die Miete nicht gezahlt hat. Der irritierte Kunde spricht also bei seinem Jobcenter vor und erhält dort nicht selten die Auskunft, die Miete sei sehr wohl an den Vermieter überwiesen worden. Zum Nachweis wird dem Kunden meistens ein „ALG II Online“-Ausdruck mit den (angeblich) „Ausgezahlten Buchungen“ in die Hand gedrückt und die Mietzahlung mit Textmarker noch einmal zur Verdeutlichung markiert. So gewappnet marschiert der Kunde also wieder zu seinem Vermieter, der – leidgeprüft – nur noch die Augen verdreht und – wie mir jüngst per Email erklärt – mitteilt:

„Die Zahlung vom Jobcenter am 24.05.2013 ist nie bei uns eingegangen. Den Nachweis [gemeint ist der A2LL-Ausdruck] finde ich überflüssig, da wir solche Belege schon öfter hatten und diese nicht stimmten.“

Diese Aussage stammt von einem großen Kieler Vermieter mit einem Wohnungsbestand von über 9.000 Wohnungen in Kiel. Das spricht dafür, dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt. Betroffenen ist zu raten, sich mit der Aussage und auch den „Nachweisen“ des Jobcenters, ihre Miete sei angeblich an den Vermieter gezahlt worden, nicht abspeisen zu lassen. Auch wenn es Zeit und Mühe bedeutet, musste das Jobcenter nach einigem Hin- und Her schlussendlich in allen hier bekannten Fällen einräumen: Es stimmt, wir haben die Miete doch nicht überwiesen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Jugendbett als Erstausstattung

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

In einem aktuellen Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass es sich bei der erstmaligen Beschaffung eines „Jugendbettes“ – nachdem das Kind dem „Kinderbett“ entwachsen war – um eine angemessene Erstausstattung für die Wohnung im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II handelt.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 2007 geborene Kläger beantragte im Jahre 2010 beim Jobcenter ein Jugendbett als Erstausstattung. Das lehnte zunächst das Jobcenter und dann auch das angerufene Sozialgericht sowie das Landessozialgericht (LSG) ab. Das LSG argumentierte, bei dem angeschafften Bett handele es sich nicht um eine Erstausstattung, denn es sei bereits ein Bett für den Kläger vorhanden gewesen. Das neue Bett  habe grundsätzlich dieselbe Funktion wie das nicht mehr passende Kinderbett. Beide dienten zum Schlafen. Der Bedarf nach einem neuen Bett sei lediglich wegen des Wachsens der Klägers entstanden, es handele sich deswegen um eine bloße sog. „Ersatzbeschaffung“ wie etwa bei einem kaputt gegangen Möbelstück, das durch ein neues ersetzt werde. Die Kosten seien deshalb aus dem Regelsatz zu bestreiten. Diese Argumentation verwarf das BSG nun.

Bei der Anschaffung eines Jugendbettes handelt es sich nach der Entscheidung des BSG im Regelfall um eine Erstausstattung im Sinne von § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Ein für den Kläger geeignetes Bett war, nachdem er dem „Gitterbett“ entwachsen war, nicht mehr vorhanden. Das „Gitterbett“ sei zwar nicht „untergegangen“. Der Kläger benötige jedoch erstmals in seinem Leben ein seiner Körpergröße angepasstes größeres Bett. Bei dem Jugendbett handele es sich damit um ein Aliud gegenüber dem Gitter- oder Kinderbett. Anders wäre die Lage nach Ansicht des BSG lediglich zu beurteilen, wenn der Kläger bereits über ein im Kleinkindalter angeschafftes Jugendbett verfügen, dieses jedoch etwa in der Pubertät nicht mehr seinen geschmacklichen Vorstellungen entsprechen würde. Dann handele es sich bei einem neuen Jugend- oder Erwachsenenbett um eine Ersatzbeschaffung, die tatsächlich Ersatz für einen bereits vorhandenen und geeigneten Einrichtungsgegenstand ist (BSG, Urteil vom 23.5.2013, B 4 AS 79/12 R, Rz. 15).

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2013

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kiel: Neues Konzept zur Berechnung der Kieler Mietobergrenzen

Wappen KielIn der Sitzung des Ausschusses für Soziales, Wohnen und Gesundheit am 28.11.2013 wird die Landeshauptstadt Kiel die Grundlagen ihres neuen Konzepts zur Berechnung der angemessenen Kosten der Unterkunft für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII vorstellen (Drs. 982/2013, Anlage Erläuterung zur „Adamschen Formel“ und „Idealmodel“). Mit der konkreten Erarbeitung eines „schlüssigen Konzepts“ im Sinne des Rechtsprechung des BSG wurde die Firma F+B Forschung und Beratung mit Sitz in Hamburg beauftragt, die allerdings – anders, als in der Geschäftlichen Mitteilung nachzulesen – nicht nur die Kieler Mietspiegel 2010 und 2012, sondern auch den Kieler Mietspiegel 2008 erstellt hat.

Vom 6. Senat des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts war in der mündlichen Verhandlung vom 04.07.2013 vor allem beanstandet worden, dass die Feldbesetzungszahlen des Kieler Mietspiegels keine Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhältnis von Wohnraum der jeweiligen Lage, Größe, Baualter und Ausstattung zulassen. Kritisiert wurde – wie zuvor schon vom BSG in seinem Urteil vom 22.08.2012 zu den Kieler Mietobergrenzen (B 14 AS 13/12 R) – zudem die Berechnung der maximal anzuerkennenden kalten Betriebskosten durch die Stadt Kiel.

Zukünftig soll die Feldbelegung der einzelnen Mietspiegelfelder durch Gewichtungsfaktoren ersetzt werden, welche aus einer Auswertung der Mietwohnungs-Grundgesamtheit von 82.100 Mietwohnungen in Kiel gewonnen werden sollen. Damit versucht die Stadt, die Vorgaben des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts umzusetzen. Ob es allerdings eine methodisch überzeugende Lösung ist, zur Berechnung von Netto-Mietobergrenzen die Spannenwerte von Wohnraum einer repräsentativen Stichprobe (Mietspiegel 2012: 2006 Wohnungen), der innerhalb der letzten vier Jahr neu vermietet bzw. bei dem die Miete erhöht wurde, nach Faktoren zu gewichten, die aus einer Mietwohnungsgrundgesamtheit aller am Markt vorhanden 82.100 Wohnungen gezogen wurden, darf bezweifelt werden, da hier zwei vollkommen unterschiedliche Größen in ein Verhältnis gesetzt werden.

Uneingeschränkt zu begrüßen ist, dass die Stadt das „Idealmodell“ verwirft, welches der ehemalige 11. Senat am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht wohl hauptsächlich deswegen entwickelt hat, um der von der ersten Instanz favorisierten Berechnung nach der Adamschen Formel ein eigenes Modell entgegensetzen zu können. Ideal war an diesem Konzept allerdings nur dessen Name.

Zustimmung verdient auch der Ansatz zur Bestimmung der kalten Betriebskosten, mit dem der zuerst von Seiten der Anwaltschaft (mehr hier m.w.N.) und später auch dem SG Kiel sowie letztlich auch dem BSG (B 14 AS 13/12 R) geäußerten Kritik an der bisherigen Berechnung nach dem unteren Drittel nunmehr Rechnung getragen wird.

Zur Fragestellung der tatsächlichen Verfügbarkeit von Wohnraum innerhalb der abstrakten Angemessenheitsgrenzen hat der für den Regelungsbereich SGB II ehemals zuständige 11. Senat am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht die Auffassung vertreten, zum Nachweis einer konkreten Unterkunftsalternative („konkrete Angemessenheit“) durch die Jobcenter sei es hinreichend, wenn zu Beginn des ersten Monats der Kostenabsenkung Wohnraum in „ausreichender Zahl“ vorhanden sei, wobei der 11. Senat ohne erkennbare Begründung 10 innerhalb der jeweiligen Mietobergrenze anzumietende Wohnungen für ausreichend erachtet hat (Urteil vom 11.04.2011, L 11 AS 123/09 und L 11 AS 126/09).  Später stellte der 11. Senat (Urteil vom 6. Dezember 2011, L 11 AS 97/10) die Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der  „tatsächlichen Verfügbarkeit“ von kostenangemessenem Ersatzwohnraum mangels in Deutschland herrschender „allgemeiner Wohnungsnot“ infrage und erwog, auf dieses Merkmal ganz zu verzichten. Vor dem Hintergrund dieser rational kaum mehr nachvollziehbaren Rechtsprechung ist der Ansatz der Stadt, durch eine fortwährende Wohnungsmarktbeobachtung sicherzustellen, dass Wohnraum innerhalb der städtischen Angemessenheitsgrenzen anmietbar ist, der weitaus vernünftigere Weg. Allerdings ist in diesem Zusammenhang von der Stadt auch zu fordern, dass sie – wie es auch der Kreis Plön getan hat – die Anzahl der Leistungsbezieher benennt, die derzeit – gegebenenfalls notgedrungen – in einer zu teuren Wohnung wohnen und aus ihren Regelsätzen zu ihrer Miete hinzuzahlen müssen. Nur wenn diese Zahlen bekannt sind, lässt sich sagen, ob in Kiel tatsächlich genügend Wohnraum innerhalb der Mietobergrenzen für alle Bezieher von Transferleistungen verfügbar ist.

Das von der Stadt Kiel avisierte Verfahren, das neue Konzept zur Berechnung der Kieler Mietobergrenzen vor einer Beschlussfassung durch die Ratsversammlung erst dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht vorzulegen, ist richtig (mehr hier), genauso wie der Verzicht auf den Erlass einer Satzung nach § 22 a SGB II (dazu grundsätzlich hier), welche die materielle Frage nach der zutreffenden Bestimmung der angemessenen Höhe der Kieler Mietobergrenzen nicht beantwortet, dafür aber zahlreiche neue rechtliche Fragen aufgeworfen hätte.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen-Moratorium

Logo Jobcenter KielIn aktuellen Mietobergrenzenverfahren, in denen eine zu hohe Miete erstmals auf die derzeit maßgebliche Mietobergrenze abgesenkt werden soll, setzt das Jobcenter Kiel seit kurzem die Mietsenkungsverfahren aus, soweit die Überschreitung nicht zu hoch ist. Grund hierfür sind die Bemühungen der Stadt Kiel, im Arbeitskreis Mietobergrenzen eine gerichtsfeste Neubestimmung der Kieler Mietobergrenzen vorzunehmen. Mit einer Vorstellung der Ergebnisse im Sozialausschuss der Landeshauptstadt Kiel ist voraussichtlich im Februar 2014 zu rechnen. Die Mietobergrenzen dürften moderat angehoben werden.

Betroffenen, die derzeit aufgefordert sind, ihre Miete zu senken, aber noch keine neue Wohnung innerhalb der derzeit für sie gültigen Mietobergrenze finden konnten, ist zu raten, das Jobcenter Kiel um Aussetzung des Mietobergrenzenverfahrens zu bitten. Da das Jobcenter Kiel eine Überschreitung der maßgeblichen Mietobergrenzen von bis zu 10 % grundsätzlich toleriert, ohne ein Mietobergrenzenverfahren einzuleiten, dürfte ein Aussetzungsantrag bei einer Überschreitung der jeweiligen Mietobergrenze in Höhe von 10 % bis 20 % aller Wahrscheinlichkeit nach Aussicht auf Erfolg haben.

Der Stadt Kiel ist dringend zu raten, ihre neuen Berechnungen in einem der „MOG-Musterverfahren“ dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht zur Prüfung vorzulegen und die neuen Obergrenzen erst nach einem positiven Votum des Landessozialgerichts der Kieler Ratsversammlung zur Beschlussfassung zu übergeben. Jedes andere Vorgehen birgt die Gefahr, dass auch die neuen Berechnungen den Anforderungen, welche die Gerichte an ein sog. „schlüssiges Konzept“ anlegen, erneut nicht genügen könnten. Dies gilt es im Interesse einer pressant herzustellenden Rechtssicherheit zu vermeiden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bei langer Arbeitslosigkeit Anspruch auf Weiterbildung

Bubo

Bubo

Nach Zeiten lang andauernder Arbeitslosigkeit kann eine Aktualisierung sukzessiv entwerteter Berufsqualifikationen im Einzelfall nur noch durch die Finanzierung spezifischer Zusatzausbildungen durch das Jobcenter erfolgen.

Der Kläger, ein studierter Sozialpädagoge, hatte sich rund vier Jahre erfolglos um eine Beschäftigung in seinem erlernten Beruf bemüht. Weil in vielen Stellenanzeigen Bewerber mit einer sozial-psychiatrischen Zusatzausbildung gesucht wurden, beantragte er beim Jobcenter Kiel eine entsprechende Weiterbildung durch Ausgabe eines Bildungsgutscheins. Dies lehnte das Jobcenter mit der Begründung ab, der Kläger habe keine feste Einstellungszusage eines Arbeitgebers vorlegen können und man sei auch – entgegen allen vorgelegten fachkundlichen Stellungnahmen – nicht davon überzeugt, dass der Erwerb von Zusatzqualifikationen die Berufschancen des Klägers steigere.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Schleswig vier Jahre später – und verurteilte die Behörde unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts dazu, neu über den Antrag des Klägers zu entscheiden. Initiativbewerbungsverlangen seien im Fall des Klägers nicht zielführend, da er sich bereits bei allen in Frage kommenden Arbeitgebern beworben habe. Nur mit einer Zusatzausbildung könne der Kläger in Marktnischen vordringen sowie im Rahmen von mit der Zusatzausbildung verbundenen Praktika aktualisierte Kontakte zu möglichen Arbeitgebern aufbauen. Da diese zentralen Ermessensgesichtspunkte von dem beklagten Jobcenter nicht hinreichend gewürdigt worden seien, stelle sich die Ablehnung als rechtswidrig dar.

(SG Schleswig, Urteil vom 22.3.2013, S 9 AS 1059/09)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2013

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter klagen vorenthaltenes Arbeitsentgelt ein

GesaD  / pixelio.de

(c) GesaD / pixelio.de

Klagen der Jobcenter Oberspreewald-Lausitz und Elbe-Elster beschäftigen derzeit das Arbeitgericht Cottbus. Es geht um sittenwidrige Löhne. Die Jobcenter machen Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer nach § 115 SGB X aus übergegangenem Recht geltend. Die Arbeitnehmer hatten neben ihrem geringen Entgelt Sozialleistungen bezogen. Das Arbeitsgericht hat zu entscheiden, ob das Arbeitsentgelt so gering war, dass von einem sittenwidrigen Lohn gesprochen werden muss und die Jobcenter daher den Arbeitgeber „subventionierten“.

Von einer sittenwidrigen Vergütung wird im Allgemeinen gesprochen, wenn das gezahlte Entgelt nicht einmal 2/3 der üblichen tariflichen Vergütung erreicht. Das Vorenthalten von Arbeitsentgelt ist gemäß § 266a StGB strafbar. Die Staatsanwaltschaft Cottbus wurde daher vom Arbeitsgericht über die anhängigen Klagen informiert.

In 3 Fällen ist ein öffentlicher Arbeitgeber, das Amt Plessa, betroffen. Dort soll ein kalkulatorischer Stundenlohn von 1,92 € gezahlt worden sein, so das Jobcenter Elbe-Elster. Dies entspräche gerade einmal 22,3 % der geringsten tariflichen Vergütung. Die betroffenen Arbeitnehmer waren im Jahr 2012 befristet für die anfallenden Pflege- und Erhaltungsarbeiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in der Gemeinde Hohenleipisch für 3 Tage in der Woche mit je 4 Stunden angestellt.

Auch das Arbeitsgericht Eberswalde hatte bereits die auffallend niedrigen Löhne von 1,59 €, 1,65 € und 2,72 € eines uckermärkischen Pizza-Lieferservice für sittenwidrig erklärt. Damit war eine Klage des Jobcenters Uckermark erfolgreich. Der Arbeitgeber wurde verurteilt, rund 11.000 Euro Aufstockungsleistungen an das Jobcenter zurückzuzahlen (2 Ca 428/13, Kurzmitteilung).

Quellen:

Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Cottbus vom 06.09.2013

Badische Zeitung: Jobcenter gegen Minilöhne

Berliner Morgenpost: 165 Euro Monatslohn – Jobcenter verklagt Firma im Spreewald

rbb-online: Jobcenter klagt erfolgreich gegen Lohndumping

Süddeutsche.de: Jobcenter klagen gegen sittenwidrige Niedriglöhne

Thomé Newsletter 30.10.2013

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


50plus Kernig doch nicht so erfolgreich?

50plus KERNigNoch vor rund eineinhalb Jahren hatten die Jobcenter Kiel, Neumünster und Rendsburg-Eckernförde ambitionierte Ziele: In dem Gemeinschaftsprojekt 50plus KERNig sollten 3.200 Kunden über 50 betreut werden, von denen 1.100 im Jahr erfolgreich in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis vermittelt werden sollten. Seit dem offiziellen Start des Projekts im März 2011 sollten im Dezember 2011 angeblich bereits 800 Bewerber über 50 durch die Mitarbeiter des Projekts in Arbeit gebracht worden sein. In den Kieler Nachrichten vom 10.12.2011 fragte Jürgen Küppers seinerzeit mit vernehmlichem Erstaunen “Wo sind denn die vielen Jobs?” So recht glauben mochte die Zahlen schon damals niemand (zur Kritik mehr hier).

In der Sitzung des Jobcenter-Beirats vom 29.05.2013 teilte der Geschäftsführer des Jobcenters Kiel nun mit:

“Das Projekt 50+Kernig stellt sich zunehmend als problematisch dar, da es sich meist um Langzeitarbeitslose handelt, die nicht von der Arbeitsmarktentwicklung profitieren.“

Wenn man diesen Satz liest, reibt man sich schon die Augen. Als langzeitarbeitslos gilt, wer ein Jahr oder länger arbeitslos ist, § 18 Abs. 1 SGB III. Die Voraussetzungen erfüllt der ganz überwiegende Teil der Bezieher von Leistungen nach dem SGB II. Was also haben die Projektverantwortlichen erwartet? Das Projekt 50+Kernig stellt sich schlicht deswegen als “problematisch” dar, weil die Ansprechpartner zentral in Kiel und nicht “vor Ort” sitzen (also da, wo die potentiellen Arbeitgeber sitzen könnten), die meist neuen Mitarbeiter schlecht geschult waren, ihre Kunden nicht kannten, die erforderlichen Unterlagen nicht hatten und schlicht keine Beratungs- und Vermittlungsleistungen anbieten konnten, die nicht auch die “ganz normale” Integrationsfachkraft im Angebot hatte. Kurzum: Es war Verschwendung von Steuergeldern. Nicht mehr, aber leider auch nicht weniger.

Mehr zum Thema auf dieser Seite:

50plus KERNig: 800 neue Jobs oder nur 800 neue Arbeitsverträge für die Statistik?

Umfrage: “50Plus KERNig” aus der Sicht von Teilnehmern!

Förderrichtlinie für Teilnehmer am Projekt 50plus KERNig!

Mehr zum Thema:

Ältere haben schlechte Jobchancen

Ältere Arbeitslose am Markt fast chancenlos

BT-Drucksache 17/13298 – Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Thema Schlussfolgerungen aus der Evaluation der zweiten Programmphase des Bundesprogramms „Perspektive 50plus – Beschäftigungspakte in den Regionen“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kreis Plön will Mietobergrenzen neu regeln

Ortsschild PlönMangels rechtskonform bestimmter Mietobergrenzen legen die Sozialgerichte für den Kreis Plön seit geraumer Zeit die Werte der Wohngeldtabelle zuzüglich eines „Sicherheitszuschlages“ von 10 % zugrunde. Um wieder zu rechtssicheren Mietobergrenzen zu kommen, hat die Verwaltung des Kreises Plön Ende 2012 die Firma Analyse & Konzepte mit der Durchführung einer Mietwerterhebung, die diese Anforderungen erfüllen soll, beauftragt. Inzwischen hat Analyse & Konzepte ihre Arbeiten abgeschlossen. Die Ergebnisse werden am 23.10.2013 dem Ausschuss für Gleichstellung, Gesundheit und Soziales zur Kenntnisnahme vorgelegt. In Plön wurde bisher bei 17 % der Bedarfsgemeinschaften die Miete nicht in voller Höhe anerkannt, in Ascheberg sogar bei 30 % der Bedarfsgemeinschaften.

Sitzungsvorlage 047/13

Präsentation der wesentlichen Ergebnisse der Mietwerterhebung Kreis Plön 2013

Mehr zum Thema auf dieser Seite:

Mietobergrenzen des Jobcenters Plön nach wie vor rechtswidrig

Mietobergrenzen: 10 % Sicherheitszuschlag auch bei den Tabellenwerten zu § 12 WoGG

Zu Analyse & Konzepte:

Kritik am KdU-Gutachten der „Analyse & Konzepte“ 2013 für Göttingen

Angebliches schlüssiges Konzept nach BSG und wie man dies widerlegen kann

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Copy-and-paste-Verwaltungsakte

Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, haben Jobcenter die Möglichkeit, den Inhalt der Eingliederungsvereinbarung durch einen sog. „ersetzenden Verwaltungsakt“ nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II zu ersetzen. Es entspricht dabei der üblichen Praxis der Jobcenter, lediglich die Überschrift „Eingliederungsvereinbarung“ in „Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II“ abzuändern. Wie schnell diese Vorgehensweise zu rechtswidrigen Eingliederungsverwaltungsakten führen kann, zeigen anschaulich die richterlichen Hinweise im Verfahren SG Kiel, S 38 AS 458/12 ER vom 15.01.2013, die im Erwerbslosen Forum Deutschland (http://www.elo-forum.org) diskutiert worden sind.

Mehr zum Thema auf dieser Seite:

Keine Pflicht zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung

Hartz IV: Keine Sanktion bei Abbruch einer zu langen Maßnahme

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ALG II für Schüler bei BAföG-Ausschluss

Dr. Klaus-Uwe Gerhardt  / pixelio.de

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Grundsätzlich erhalten Auszubildende, deren Ausbildung u.a. im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) dem Grunde nach förderungsfähig ist, kein ALG II, § 7 Abs. 5 SGB II. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz regelt u.a. § 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II: ALG II ist zu gewähren, wenn der BAföG-Anspruch nach § 2 Abs. 1a BAföG ausgeschlossen ist. Letzteres ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs. 1a Nr. 1 BAföG der Fall, wenn der Schüler entweder bei seinen Eltern wohnt oder zwar nicht bei seinen Eltern wohnt, aber von der Wohnung der Eltern aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstätte erreichbar wäre. Wird Schüler-BAföG mit der Begründung abgelehnt, der nicht bei seinen Eltern lebende Schüler könne, würde er bei seinen Eltern leben, von dort aus einen gleichwertige Ausbildungsstätte erreichen, so kann der Schüler anstatt Schüler-BAföG ALG II beantragen. Gründe, die Vorschrift gegen ihren Wortlaut restriktiv auszulegen, sind nicht erkennbar. Hierzu hat das SG Kiel, Beschluss vom 10.10.2013, S 30 AS 337/13 ER, ausgeführt:

„Der Kammer sind nach einer summarischen Prüfung keine Gründe dafür ersichtlich, die Vorschrift des 7 Abs. 6 Nr. 1 SGB II gegen ihren Wortlaut – etwa nach Sinn und Zweck der Regelung – auszulegen und für das Eingreifen der Rückausnahme das engere Tatbestandsmerkmal des Lebens im elterlichen Haushalt einzuführen. Vielmehr führt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a BAföG und damit der Leistungsausschluss nach dem BAföG zur Anwendung der Rückausnahme nach 7 Abs. 6 SGB II (mit weiteren Nachweisen: SG Kassel, Beschluss vom 08.0[5].2009, S 6 AS 75/09 ER, Rdnr. 46, zitiert nach juris; ebenso: Thie, LPK-SGB II, 5. Auflage, § 7, Rdnr. 116; ausdrücklich offen gelassene LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.01.2008, L 26 B 60/08 AS ER, L 26 B 61/08 AS PKH, Rdnr. 7, zitiert nach juris). Insbesondere greift das Argument, dass durch Leistungen der Grundsicherung nicht eine Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene, sichergestellt werden dürfe, in dieser Konstellation nicht durch. Die Bestimmungen des BAföG werden hier gerade nicht zweckwidrig unterlaufen, sondern die Leistungsgewährung im Sinne des Gesetzgebers im Falle des 2 Abs. 1a BAföG nach § 7 Abs. 6 SGB II auf den Grundsicherungsträger übertragen. Nach dem SGB II gibt es auch keinen Grundsatz, dass Leistungen an erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht zu zahlen sind, wenn sie bereits längere Zeit vor Antragstellung – hier aus nachvollziehbaren sozialen Gründen – einen eigenen Haushalt begründet haben. Auch ein Wertungswiderspruch zwischen der Regelung des § 7 Abs. 6 SGB II und weiteren Regelungen des SGB II ist aus diesem Grunde nicht ersichtlich. Nach alledem sind der Kammer keine Gründe für eine einschränkende Auslegung gegen den Gesetzeswortlaut ersichtlich.“

Das Jobcenter Plön hat gegen den Beschluss des SG Kiel Beschwerde beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingelegt, welcher mit hiesigem Schriftsatz vom 15.10.2013 entgegen getreten wurde. Mit Beschluss vom 17.10.2013, L 6 AS 185/13 B ER, hat das SH LSG die Beschwerde des Jobcenters Plön zurückgewiesen und ergänzend nachfolgende Hinweise gegeben:

„Das Bundessozialgericht hat bereits im Jahr 2009 geklärt, dass ein Auszubildender, der nicht bei seinen Eltern wohnt, nicht aus diesem Grunde von Leistungen zur Si­cherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen ist (BSG, Urteil vom 21. Dezember 2009 – B 14 AS 61/08 R, zitiert nach juris Rn.13 ff.). Es ist zwar zutreffend, dass der Personenkreis, dem der Antragstellers angehört, nach der ge­setzgeberischen Wertung im BAföG von Leistungen zur Ausbildungsförderung aus­geschlossen werden soll, wenn er nicht bei seinen Eltern wohnt, obwohl er von der Wohnung seiner Eltern aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstätte errei­chen könnte. Dies führt jedoch – zumal entgegen dem Wortlaut des Gesetzes – nicht zu einem vergleichbaren Leistungsausschluss im Grundsicherungsrecht, zumal im SGB II jedenfalls seit dem 1. April 2006 auch spezifische Regelungen geschaffen worden sind, die denkbare finanzielle Anreize für junge Hilfebedürftige, während ei­nes Schulbesuchs aus dem Haushalt der Eltern auszuziehen, beseitigt haben. Dazu gehören die Leistungsabsenkungen sowohl bei den Regelbedarfen als auch bei den Kosten der Unterkunft. Im vorliegenden Verfahren bestehen allerdings keine An­haltspunkte für eine solche Leistungskürzung, da der Antragsteller gemäß der Bescheinigung des Jugend- und Sozialdienstes des Kreises ____________ im Alter von 16 Jahren völlig unabhängig von der vorliegenden Ausbildung Mitte 2007 u.a. wegen des Entzugs des Sorgerechts für die Mutter in eine Pflegefamilie gegeben worden ist. Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Amt für Ausbildungsförderung insbesondere im Widerspruchsbescheid vom 9. September 2013 zur Versagung von Leistungen nach dem BAföG auf die besondere soziale Si­tuation des Antragstellers hingewiesen hat, die im Förderungssystem des BAföG nicht berücksichtigt werden könne. Allerdings hätten die Jobcenter im Rahmen des SGB II die Möglichkeit, soziale Gesichtspunkte – wie sie vorliegend durch den Ju­gend- und Sozialdienst des Kreises ___________ bestätigt worden seien – bei der Gewährung von Leistungen zu berücksichtigen, weshalb sich der Antragstel­ler mit dem zuständigen Jobcenter in Verbindung setzen solle. Hintergrund der – auch nach Auffassung des Senats zutreffenden – Ausführungen des Amtes für Aus­bildungsförderung ist, dass die in § 2 Abs. 1a Satz 2 BAföG vorgesehene Rechtsver­ordnung der Bundesregierung über die Gewährung von Ausbildungsförderung auch in den Fällen, in denen die Verweisung des Auszubildenden auf die Wohnung der Eltern aus schwerwiegenden sozialen Gründen unzumutbar ist, nach wie vor nicht ver­abschiedet ist und daher allein die räumliche Entfernung zwischen Wohn- und Ausbildungsort als Entscheidungsgrundlage nach dem BAföG dienen kann (vgl. etwa Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. März 2013 – 12 A 2601/11, zitiert nach juris Rn. 32 f.).

Auch dieser Gesichtspunkt spricht für eine Leistungsberechtigung des Antragstellers nach dem SGB II durch das System der Grundsicherung, das, anders als das BAföG mit seinen insgesamt pauschalierten und nicht durchgehend bedarfsdeckenden Leis­tungen, die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen hat (vgl. such BSG, a.a.0., Rn. 19).

Da die Beschwerde in der Sache zurückzuweisen ist, kann offenbleiben, ob durch die zwischenzeitliche Bewilligung von vorläufigen Leistungen mit Bescheid des Antrag­gegners vom 15. Oktober 2013 auf der Grundlage von § 43 Abs.1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) ohne Hinweis auf das vorliegende Eilverfahren nicht ein eigen­ständiger Rechtsgrund für den Leistungsanspruch des Antragstellers geschaffen worden ist, der das Rechtsschutzbedürfnis des Antragsgegners für die Beschwerde entfallen lässt.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Grundsicherung muss Eigenanteil der Zahnbehandlung übernehmen

Sozialgericht Itzehoe Photo Wikipedia

Sozialgericht Itzehoe
Photo Wikipedia

Das Sozialgericht Itzehoe hat den Kreis Pinneberg verurteilt, einem Bezieher von Leistungen der Grundsicherung im Alter die Kosten für seinen Eigenanteil zur Zahnbehandlung zu zahlen.

Der 76jährige Kläger ist bei der Central Krankenversicherung im Standard-Tarif privat krankenversichert. Die Kosten eines erforderlich gewordenen Zahnersatzes waren im Tarif der Central nicht im vollen Umfange erstattungsfähig, so dass der spätere Kläger bei dem Grundsicherungsträger die Übernahme seines Eigenanteils beantragte. Der Kreis Pinneberg lehnte dies ab.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Itzehoe, denn der privat versicherte Kläger habe einen Anspruch auf zahnärztliche Behandlung im Umfang des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Da der Kläger einen Zahnersatz gewählt habe, dessen Kosten die GKV vollständig hätte übernehmen müssen, waren die unzureichenden Leistungen der privaten Krankenversicherung (PKV) vom Grundsicherungsträger auf die Höhe der GKV-Leistungen aufzustocken. Andernfalls, so argumentierte das Gericht, könne nämlich keine Gleichbehandlung bei der Befriedigung der Bedarfe zwischen behandlungsbedürftigen Grundsicherungsempfängern, die in der GKV versichert sind, und denjenigen, die in der PKV krankenversichert sind, hergestellt werden.

(SG Itzehoe, Urteil vom 19.12.2012, S 15 SO 123/11)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2013

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Prämienzahlungen für hohe Sanktionierungsquoten

Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Die Berliner Zeitung berichtete schon am 10.09.2013, dass die Geschäftsführer von Jobcentern Prämienzahlungen von bis zu 4.000 € im Jahr für besonders hohe Sanktionierungsquoten erhalten. Der Bericht findet sich hier, ein weiterer hier.


Krankenkassen erlassen Beitragsschulden – Antragsfrist 31.12.2013!

Gerd Altmann / pixelio.de

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Das „Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung“ trat am 1. August 2013 in Kraft. Durch das Gesetz werden Versicherten in bestimmten Fällen die Beitragsschulden erlassen. In der gesetzlichen Krankenversicherung werden die Säumniszuschläge von 5 Prozent auf 1 Prozent reduziert. In der privaten Krankenversicherung wird ein Notlagentarif für säumige Beitragszahler eingeführt. Den Rest des Beitrags lesen »


Stadt Kiel lässt Mietobergrenzen neu berechnen

Wappen KielAuf Antrag der Ratsfraktion DIE LINKE teilte Stadtrat Möller in der heutigen Ratsversammlung mit, dass das Institut F+B Forschung und Beratung GmbH, das seit dem Jahre 2008 auch den Kieler Mietspiegel erstellt, mit der Erarbeitung eines sog. „schlüssigen Konzeptes“ zur gerichtsfesten Bestimmung der Kieler Mietobergrenzen beauftragt worden ist. Das Konzept wird nach seiner Erstellung im Sozialausschuss der Landeshauptstadt Kiel vorgestellt werden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Eigenbeteiligung an den Schülerbeförderungskosten nur 5 €

Günter Havlena  / pixelio.de

(c) Günter Havlena / pixelio.de

Der zuständige Leistungsträger (zu den Zuständigkeiten in Kiel mehr hier) übernimmt unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten für Schülermonatsfahrkarten. Weil man diese nicht nur für den Schulweg, sondern auch für andere Fahrten etwa in der Freizeit nutzen kann, wurde von vielen Leistungsträgern ein „zumutbarer Eigenanteil“ angerechnet. In Kiel betrug dieser für Schüler bis 17 Jahren 10 € und ab 18 Jahren 15 € monatlich (vgl. die Arbeitshinweise der Stadt Kiel). Ab 01.08.2013 werden bundesweit einheitlich pauschal 5 € angerechnet (§ 28 Abs. 4 Satz 2 SGB II n.F.). Im begründeten Einzelfall kann ein anderer Betrag festgesetzt werden.

Für den Zeitraum vor dem 01.08.2013 hat die 30. Kammer am SG Kiel mit Urteil vom 06.08.2013, S 30 AS 1532/11 entschieden, dass der von der Stadt Kiel je nach Alter des Schülers auf 10 € bzw. 15 € festgesetzte Eigenbeitrag zu hoch bemessen war und eine Kostenbeteiligung von lediglich 5 € für rechtmäßig erachtet. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt:

„Nach einer Wortlautauslegung und auch nach einer Auslegung nach Sinn und Zweck der Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II ist davon auszugehen, dass die Berücksichtigung einer Eigenbeteiligung der Leistungsberechtigten an sich nicht zu beanstanden ist. § 28 Abs. 4 SGB II formuliert, dass ein Anspruch besteht, soweit es der leistungsberechtigten Person nicht zugemutet werden kann, die Aufwendungen aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Dass der Gesetzgeber diese Formulierung wählte, spricht dagegen, dass er eine Regelung derge­stalt treffen wollte, dass Rechtsfolge nur entweder die volle Übernahme der Beförderungs­kosten oder gar keine Übernahme der Beförderungskosten sein könne. Für den Fall, dass entweder gar kein Anspruch bestehe oder nur eine Übernahme der kompletten Beförderungskosten hätte erfolgen sollen, hätte er nicht die Formulierung „soweit“ sondern eine Be­dingungsformulierung wie „falls“ oder „wenn“ wählen können. Die Formulierung „soweit“ er­möglicht zumindest nach dem Wortlaut auch eine anteilige Kostenbeteiligung des Leistungs­berechtigten Diese Auslegung der Norm wird durch die Novellierung der Regelung § 28 Abs. 4 SGB II mit Gültigkeit ab dem 01.08.2013 gestützt. Ab dem 01.08.2013 ist der Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II ein Satz 2 eingefügt. Dieser wird lauten, dass als zumutbare Eigen­leistungen in der Regel ein Betrag in Höhe von 5,00 EUR monatlich anzusetzen ist. Ohne Umformulierung der Norm im Übrigen wird also eine zumutbare Eigenleistung der Höhe nach bestimmt. Der Gesetzgeber unterstreicht durch die Änderung, dass die Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II (ab dem 01.08.2013: § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB II) auch einen Anspruch auf eine partielle Kostenübernahme unter Berücksichtigung einer Eigenbeteiligung regelt.

Eine Auslegung nach Sinn und Zweck der Leistungen nach § 28 Abs. 4 SGB II in Relation zu dem Regelbedarf nach § 20 SGB II ermöglicht ebenfalls eine Anrechnung. Unstreitig profi­tiert ein Leistungsberechtigter auch über den Schulweg hinaus davon, wenn er ein Monatsti­cket erhält, mit dem er auch zu anderen Zeiten und zu anderen Zwecken innerhalb eines bestimmten Bezirkes mobil ist. Insofern gibt es eine partielle Doppeldeckung des Bedarfes an Mobilität. Unstreitig finden sich die Kosten für die Mobilität im Übrigen in dem Regelbedarf wieder. Nach § 20 Abs. 5 SGB II i.V.m. § 6 Abs. 1, Nr. 3 (Jugendliche vom Beginn des 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sind im Jahr 2011 in der Abteilung 7 (Verkehr) Kos­ten in Höhe von monatlich 12,62 EUR regelbedarfsrelevant. Die Kammer hatte nunmehr zu klären, in welcher Höhe eine Eigenbeteiligung angemessen ,ist, um auf der einen Seite eine partielle Doppeldeckung des Bedarfes an Mobilität zu vermeiden, und auf der anderen Seite der Pauschalierung des Systems des Regelbedarfes gerecht zu werden. Anknüpfungspunkt für die Festlegung der Höhe der Eigenbeteiligung ist der unbestimmte Rechtsbegriff der „Zumutbarkeit“, der in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Ein Betrag in Höhe von monatlich 10,00 EUR ist bei einem Regelbetragsanteil von monatlich 12,62 EUR zu hoch bemessen sein. Dies folgt insbesondere aus dem Gesichtspunkt, dass das System der Pauschalierung des Regelbedarfes den Leistungsberechtigten eine Dispositionsmöglich­keit einräumt. Es muss sichergestellt werden, dass Leistungsberechtigte nicht nahezu gänz­lich ihrer Dispositionsbefugnis enthoben werden. Dies ist bei einer Eigenbeteiligung in Höhe von monatlich 10,00 EUR jedoch der Fall. Mit monatlich 2,62 EUR verbliebe den Kläger ein zu geringer Betrag für alle Verkehrsausgaben jenseits von Busfahrten im Stadtgebiet Kiel — wie zum Beispiel Kosten für Fernfahrten oder aber auch Kosten für das Vorhalten eines Fahrrades — um noch von einer Dispositionsmöglichkeit sprechen zu können. Insofern war der Betrag der Eigenbeteiligung niedriger festzusetzen. Zur genauen Bestimmung der Hohe hielt es die Kammer für angezeigt, auf die gesetzgeberische Entscheidung, die mit Wirkung ab dem 01.08.2013 in Kraft tritt, abzustellen. Ab dem 01.08.2013 ist der Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II ein Satz 2 eingefügt. Dieser wird lauten, dass als zumutbare Eigenleistungen in der Regel ein Betrag in Höhe von 5,00 EUR monatlich anzusetzen ist. Im Gesetzesentwurf des Bundesrates ist zur Begründung ausgeführt:

In der Praxis erweist sich der Verwaltungsaufwand für die Ermittlung des von den Schülerinnen und Schülern zumutbar zu tragenden Eigenanteils an der Schülerbeför­derung als außergewöhnlich kompliziert. Ausgangspunkt für die Ermittlung der Höhe der Eigenbeteiligung sind die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 nach § 28 SGB XII (EVS 2008), dort die regelbedarfsrelevanten Verbrauchs­ausgaben nach der Abteilung 7 (Verkehr). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die korrespondierenden Anteile der Regelleistung auch die Mobilitätsbedarfe befriedigen sollen, die neben den Aufwendungen für den Weg zur Schule bestehen (persönliche Kontakte, Besuche von Angehörigen, Wahrnehmung von Freizeitangeboten). Die Schwierigkeit bei der Ermittlung des zumutbaren Eigenanteils bei der Schülerbeförderung nach § 28 Absatz 4 SGB II liegt darin, dass zum einen zu berücksichtigen ist, ob nur die Kosten für die Schülerbeförderung entstehen oder das Angebot des Perso­nennahverkehrs nur eine Fahrkarte vorsieht, die auch für andere Zwecke verwendet werden kann. Im zweitgenannten Fall kommt es weiter darauf an, wie weit das da­durch erschlossene Mobilitätsfeld reicht. Neben diesen objektiven Gegebenheiten kommt aber auch noch die subjektive Bedarfslage zum Tragen, nämlich die Frage, in welchem Umfang die Leistungsberechtigten davon nicht abgedeckte Mobilitätsbedar­fe haben. Da es an normativen Vorgaben fehlt und auch die EVS 2008 hier nicht weiter hilft, ist es ein Gebot der verwaltungspraktischen Handhabbarkeit, für den Regel­fall einen Wert ansetzen zu können, der eine gleichmäßige Handhabung sichert und dem Kriterium der Zumutbarkeit in angemessenem, aber auch ausreichendem Maße Rechnung trägt. Aus der Erfahrung der Verwaltungspraxis der kommunalen Träger ergibt sich dabei ein Durchschnittswert von 5 Euro monatlich, der regelmäßig als zu­mutbar gelten kann und bei der Rechtsanwendung zu Grunde zu legen ist. Dem Ge­sichtspunkt besonderer örtlicher oder persönlicher Verhältnisse wird dadurch Rech­nung getragen, dass in Fallen, die von der Regel abweichen, eine andere Festset­zung des Eigenanteils möglich.“ (BT-Drs. 17/12036, S. 7 f)

Der Betrag in Höhe von 5,00 EUR monatlich ist im Einzelfall des Klägers zumutbar. Dem Kläger ist durch den Erwerb der Monatskarte der Preisstufe II eine Mobilität praktisch im gesamten Stadtgebiet der Landeshauptstadt Kiel ermöglicht. Besonderheiten im Mobilitätsbe­darf zeigten sich im Fall des Klägers nicht. Der Betrag ist Hohe von monatlich 5,00 EUR ist daher angemessen, um auf der einen Seite die durch das Monatsticket entstehende Mobilität des Klägers über die Schülerbeförderung hinaus zu berücksichtigen und auf der anderen Seite eine gewisse Dispositionsbefugnis, die das System des pauschalierten Regelbedarfes gewähren soll, zu erhalten.“

Hinweise für Betroffene

Eltern, deren Kinder bis zum 01.08.2013 10 € bzw. 15 € monatlich zu den Schülerbeförderungskosten zuzahlen mussten, können noch bis zum 31.12.2013 eine Überprüfungsantrag für den Zeitraum 01.01.2012 bis 31.07.2013 stellen und für diesen Zeitraum von 19 Monaten eine Nachzahlung von 190 € bzw. 95 € einfordern.

Anderer Ansicht:

SG Kassel, Urteil vom 03.08.2012, S 10 AS 958/11: Eine Reduzierung der erstattungsfähigen Kosten der Schülerbeförderung um einen im Regelsatz enthaltenen Teilbetrag scheidet so lange aus, bis der Gesetzgeber einen solchen konkreten Absatzbetrag festgelegt hat.

LSG Westfalen, Beschluss vom 10.10.2012, L 12 AS 172/12: Die Anrechnung der im Regelbedarf angesetzten Verbrauchsausgaben für Verkehr auf einen etwaigen Anspruch gem. § 28 Abs. 4 SGB II ist rechtmäßig.

SG Chemnitz, Urteil vom 30.03.2012, S 22 AS 5853/11: Das Gericht geht dabei nach § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. 287 der Zivilprozessordnung (ZPO) davon aus, dass bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres 50 v. H. und ab Beginn des 15. Lebensjahres 75 v.H. der nach § 6 RBEG bedarfsrelevanten Anteile der Gruppe 7 (Verkehr) als zumutbarer Eigenanteil nach § 28 Absatz 4 SGB II bei auch privat zu nutzender Monatskarte zu berücksichtigen sind.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hausverwaltung des Kieler Grundeigentümervereins GmbH macht Kasse

Immer wieder muss der Kieler Mieterverein sich mit unzulässigen Praktiken im Umfeld der Wohnungsvermittlung auseinandersetzen. So ist es eine beliebte Masche vieler Vermieter und Hausverwaltungen, sogenannte „Vertragsausfertigungsgebühren“ zu verlangen, wenn Mieter eine Wohnung anmieten. Dabei ist diese Form der Gewinnmaximierung kraft Gesetzes unzulässig.

Sie stellt nämlich einen Verstoß gegen das Wohnungsvermittlungsgesetz dar und ist deswegen nichtig. § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes schließt derartige Gebühren aus, wenn der Mietvertrag über Wohnräume abgeschlossen wird, deren Eigentümer, Verwalter, Mieter oder Vermieter der Wohnungsvermittler ist. Das Gesetz verbietet sogar Vergütungen für Nebenleistungen wie Einschreibgebühren, Schreibgebühren oder Auslagenerstattungen. Diese Rechtslage ist durch etliche Gerichtsentscheidungen bestätigt worden (z. B. LG Hamburg 307 S 144/08 vom 05.03.2009 und AG Hamburg 23a C 286/99 vom 09.11.1999).

Jetzt ist die Hausverwaltung des Kieler Grundeigentümervereins – die gewerblich unterwegs ist – ins Visier des Mietervereins geraten. Dem Mieterverein liegt die Fotokopie eines Formulars der Hausverwaltung vor, in dem Mieter sich verpflichten sollen, in Abhängigkeit von der Größe des Objektes „Aufwendungen mit einer einmaligen Kostenpauschale“ zwischen 25 € und 250 € zu bezahlen. Bei Haus und Grund darf man voraussetzen, dass die Rechtslage bekannt ist. Und tatsächlich weiß eine betroffene Mieterin zu berichten, dass die Hausverwaltung die zu Unrecht gezahlten Gebühren sofort zurückbezahlt hat, nachdem sie anwaltlich dazu aufgefordert worden war. Deswegen bezeichnet der Mieterverein diese Form der Geldbeschaffung als besonders kritikwürdig.

Der Kieler Mieterverein fordert aus diesem Grunde die Hausverwaltung des Kieler Grundeigentümervereins auf, diese Form des Abkassierens sofort einzustellen und zu Unrecht vereinnahmte Mieterwechselgebühren freiwillig zurückzuzahlen. Betroffenen Mietern rät der Kieler Mieterverein, diese Gebühren zurückzufordern. Nach der Erfahrung des Mietervereins geschieht dies wegen der eindeutigen Rechtslage jedenfalls bei unverjährten Rückforderungsansprüchen in der Regel komplikationslos.

Verantwortlich: Jochen Kiersch, Kiel

Quelle: www.kieler-mieterverein.de

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