Das ist der Titel eines Spiegel Artikels, einem Interview mit zwei Sterbebegleitern. Ein paar Zitate daraus:
Ich treffe immer wieder auf Menschen, die wirklich in Bedrängnis sind, Schuldgefühle haben, wütend und verzweifelt sind. Aber nicht wegen ihres Jobs, des Business oder weil sie eine Karrierechance verpasst haben. Es geht immer um die Beziehungen, die sie nicht gelebt haben. (…) Viele Menschen hadern an ihrem Lebensende, weil sie sich um ihre Zeit und Chancen betrogen fühlen. (…) Am Ende geht es immer um die Fragen: Habe ich gute Beziehungen gehabt? Wurde ich geliebt und habe ich meine Liebe genug gezeigt? Es geht niemals um das Materielle.
Ich denke es liegt auf der Hand, dass die Gefahr, dass Pädo-/Hebephile sich am Ende ihres Lebens um ihre Chancen auf eine erfüllende wechselseitige Beziehung betrogen fühlen, besonders groß ist.
Es ist im Leben oft so, dass man das, was fehlt und stets unerreichbar scheint, besonders schmerzlich vermisst wird. Für Pädo-/Hebephile ist ein menschliches Grundbedürfnis (Sexualität) und ein wichtiges menschliches Beziehungsspektrum sozial geächtet und weitgehend kriminalisiert.
In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur „Unter Kontrolle. Wie Pädophile mit ihrer Neigung leben“ (ab Zeitstempel 21:28) erklärte Dr. Christoph Joseph Ahlers, Sexualtherapeut und Mitbegründer von „Kein Täter werden“ :
Was die Betroffenen als eigentlichen tiefen Schmerz erleben und was sie betrauern ist der Umstand, dass sie die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse durch intimen Körperkontakt, durch Hautkontakt, niemals erleben können. Das heißt, das Gefühl, das wir alle suchen, wenn wir uns in eine partnerschaftliche Sexualbeziehung begeben, jemand, der uns anfasst, den wir anfassen, der uns drückt, der uns hält, der uns küsst, der in uns sein will, in dem wir sein wollen, diese Verschmelzung im Sexuellen, die geht ja weit über Erregung und Fortpflanzung hinaus.
Im Buch „Herausforderung Pädophilie – Beratung, Selbsthlfe, Prävention“ von Claudia Schwarze (Leiterin der Psychotherapeutischen Fachambulanz in Nürnberg) und Dr. Gernot Hahn (Leiter der Forensischen Ambulanz im Klinikum Erlangen) heißt es (1. Auflage, Seite 64):
Wer sich gerade erst mit der eigenen pädophilen Ausrichtung auseinandersetzt, den Gedanken zulässt, dass sie nun einmal da ist, der wird wahrscheinlich im Inneren doch noch die leise Frage haben, ob das wirklich einen lebenslangen Verzicht auf Nähe und Sexualität mit einem Kind bedeuten muss. Oder ob es nicht doch Wege oder Ausnahmen gibt, die eigenen Bedürfnisse auszuleben, ohne dass es dem Kind schadet. Dies Ambivalenz zwischen den Sehnsüchten einerseits und den Werten, anderen keinen Schaden zuzufügen, andererseits, ist normal. Die meisten Betroffenen werden mehr als einmal in ihrem Leben mit diesem Hin-und-her-Schwanken konfrontiert. Auch hier gilt es, eine akzeptierende Haltung einzunehmen. Beide, sich widersprechende Wünsche und Ziele sind nun einmal da, es gibt ein „Einerseits“ und ein „Andererseits“. Auch hier gilt es, diesen inneren Konflikt nicht beiseite zuschieben, sondern sich aktiv mit ihm auseinanderzusetzen.
Ich denke, dass teilweise die Perspektive darauf verloren geht, was genau nicht (legal) möglich und was in der letzten Konsequenz das eigentlich wesentliche ist. Es geht am Ende eben nicht um die Frage „Habe ich genug Sex gehabt?“, sondern, um die Frage: „Wurde ich geliebt und habe ich meine Liebe genug gezeigt?“
Sex ist zweifelsohne wichtig und erscheint wahrscheinlich nochmal deutlich wichtiger, wenn man nie Sex (mit einer anderen, begehrten Person) hatte. Aber geliebt werden und Liebe zeigen, kann man auch ohne Sex. Sicher ist es vorzuziehen, auch Sex erfahren zu dürfen, aber die Hürden hierfür sind mal mindestens hoch und für jemanden, der im engeren Sinn pädophil und nicht „nur“ hebephil ist, nochmal deutlich höher.
Da ich selbst homohebephil bin, liegt ein Aufgeben und Abschließen mit gelebter Sexualität und die Akzeptanz eines lebenslangen Verzichts für mich aus meiner Sicht nicht nahe. Es gibt ja eine (auch legale) Chance, so klein sie auch scheinen mag.
Ich fühlte mich bei den obigen Zitaten der Sterbebegleiter an zwei meiner früheren Artikel erinnert.
In einem ging es unter anderem um das biblische Gleichnis von den anvertrauten Talenten Silbergeld. Aus meiner Sicht ist die Quintessenz daraus: nicht jeder bekommt die selben Voraussetzungen und Möglichkeiten mit, aber man ist in der persönlichen Pflicht, die Möglichkeiten, die man bekommt, bestmöglich zu nutzen. Eines meiner „Talente“, ist meine Hingezogenheit zu Jungen. Die Gesellschaft erwartet von mir, dass ich dieses Talent vergeude und vergrabe. Aber was würde mir derjenige sagen, der mir das Talent anvertraut hat, wenn ich es nicht nutze?
Im anderen Artikel habe ich den Text „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka aus meiner besonderen Perspektive interpretiert. Die Schlussfolgerung dazu: Es gibt kein erfülltes Leben ohne Herausforderungen. Wer sich vom erstbesten Hindernis abschrecken lässt, geht daran zugrunde und verpasst das Leben. Wer ein erfülltes Leben führen möchte, sollte sich besser auf den Weg machen und sich nicht vom erstbesten Türsteher abschrecken lassen.
Bei pädophilen Männern wird diskutiert, dass soziale Kontakte mit Kindern eine Risikosituation für sexuellen Missbrauch darstellen. Außerdem wird davon ausgegangen, dass pädophile Männer, die solche Kontakte suchen, eher Überzeugungen hegen, die sexuellen Kontakt mit Kindern legitimieren. Allerdings können soziale Kontakte auch falsche Überzeugungen verringern. Wir haben diese konkurrierenden Ansichten in einer anonymen Internetumfrage mit einer nicht forensischen, nicht klinischen Stichprobe von 104 selbst als pädophil eingestuften Männern getestet. Die Ergebnisse zeigten, dass sowohl ein erhöhter sozialer als auch körperlicher Kontakt signifikant mit weniger legitimierenden Überzeugungen gegenüber Sex mit Kindern verbunden war, selbst wenn frühere Psychotherapie, Bildungsniveau, soziale Erwünschtheit und Alter berücksichtigt wurden.
In diesem Sinne: tut etwas dafür, dass ihr gute Beziehungen aufbaut und eure Liebe zeigen könnt. Dann kommt auch Liebe zurück.
Oder wie es die Beatles ausdrücken würden: „And in the end the love you take is equal to the love you make” (deutsch: Und am Ende entspricht die Liebe, die du bekommst, der Liebe, die du gibst.)
Es muss im Übrigen auch nicht absolut zwingend ein Junge (oder Mädchen) sein. Auch Beziehungen zu anderen Menschen oder auch Tieren können das Leben bereichern. Hierzu verweise ich auf den Gastbeitrag eines BLs (Jungenliebhabers), der „auf den Hund“ gekommen ist.
Verfahren mit geringem Unrechtsgehalt können nicht mehr eingestellt werden
die Verfahren werden nicht von Einzelrichtern, sondern von Schöffengerichten bearbeitet. Es werden also drei Personen auf der Richterbank benötigt, statt einer.
eines Verbrechens Angeklagte haben immer Anspruch auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers
Eine der Folgen ist die Überlastung des Systems. Dazu wird im Spiegel der leitende Oberstaatsanwalt Florian Kienle aus Mosbach zitiert:
Wenn im Fall der 22-jährigen die gleiche Ermittlerarbeit betrieben werde, wie in gravierenden Fällen, dann schließe er die Gefahr nicht aus, dass die Verfolgung echter Pädophiler darunter leide.
Der Spiegel lässt das unkommentiert stehen.
Im gleichen Artikel kommt ein Richter zu Wort, der eine Richtervorlage beim Verfassungsgericht eingereicht hat, weil er das Gesetz für verfassungswidrig hält:
Nach Ansicht des Richters handelte die Mutter im von ihm vorgelegten Fall nicht aus pädosexueller Motivation, sondern aus Verärgerung und zur Warnung.
Auch das lässt der Spiegel so stehen.
Auf tagesschau.de erschien wiederum heute ein Artikel, mit dem unter der Überschrift „Datenspeicherung gegen die Dunkelziffer“ für die (in allen bisherigen Anläufen vor dem Verfassungsgericht gescheiterten) Vorratsdatenspeicherung geworben wird.
Dabei wird der Präsident des Bundeskriminalamts Holger Münch zitiert:
Ermittlungen zu Verbrechen aber können nicht aus Geringfügigkeit eingestellt werden. So gelangen etwa auch Klassenchats in das Raster der Fahnder, bemängelt BKA-Chef Münch.
Eine andere Einstufung würde der Polizei und der Justiz ein differenziertes Vorgehen ermöglichen, meint Münch. Es stehe dabei die Frage im Raum, hinter welchem Hinweis tatsächlich eine pädophile Tat zu sehen sei. „Und wo wurde ein Inhalt nur geteilt, etwa aus kindlicher Naivität oder aus elterlicher Sorge?“
Wir haben also
die Verfolgung „echter Pädophiler“ als Ziel eines leitenden Oberstaatsanwalts
eine „pädosexuelle Motivation“ als Kennzeichen von Strafwürdigkeit aus der Sicht eines Richters
„pädophile Taten“ als neuen Straftatbestand aus der Sicht des Präsidenten des Bundeskriminalamts.
Wie soll ein Mensch, der eine auf ein kindliches Körperschema gerichtete sexuelle Orientierung hat, das interpretieren? Die Aussagen stellen sich als Komponenten eines umfassenden, gegen Pädophile gerichteten Feindstrafrechts dar, das in den Köpfen bereits angekommen ist, sich aber auch seinen Weg in die Paragraphen bahnt. Ein Beispiel dafür ist aus meiner Sicht die Kriminalisierung des Besitzes von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild, also letztlich die Kriminalisierung der Selbstbefriedigung von Pädophilen mit einem dafür vorgesehenen Hilfsmittel.
Für mich bewegen sich die obigen Zitate und die Medienberichterstattung auf dem Niveau von Volksverhetzung. Nicht nur kommt der Abscheu und der Verfolgungswille gegen Pädophile als solche zum Ausdruck, der Leser muss auch den Eindruck gewinnen, dass „echte Pädophile“ grundsätzlich Verbrecher gegen Kinder sind.
Strafgesetzbuch (StGB) – § 130 Volksverhetzung
(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Leider sehe ich zur Zeit keine realistische Chance einer effektiver Rechtsverfolgung gegen diese Art der Hetze.
Wie die Regierung in Den Haag am Freitag mitteilte, betrifft die Neuregelung eine »kleine Gruppe« von pro Jahr fünf bis zehn Kindern unter zwölf Jahren, »bei denen die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichen, um ihr Leiden zu lindern«. (…) Bereits jetzt können Kinder, die älter als zwölf Jahre sind, in den Niederlanden Sterbehilfe beantragen. Bis zum Alter von 16 Jahren ist dafür die Zustimmung der Eltern erforderlich. (…) Mit den Änderungen für Kinder zwischen einem und zwölf Jahren ziehen die Niederlande nun mit Belgien gleich: Das Nachbarland verabschiedete 2014 als weltweit erstes Land ein Gesetz, das Sterbehilfe bei Kleinkindern erlaubt – allerdings nur mit Zustimmung des Kindes.
Die Fähigkeit zur Zustimmung zum eigenen Tod wird Kindern also zugetraut und unter bestimmten Bedingungen auch zugebilligt.
Im Gegensatz dazu wird Kindern und Jugendlichen unterhalb einem bestimmtem Alter (in Deutschland Personen unter 14, in der Niederlande Personen unter 16) unter keinen wie auch immer gearteten Umständen zugetraut oder zugebilligt, ihre Zustimmung zu einer sexuellen Handlung mit einer Person über einem bestimmten Alter zu geben.
Für mich zeigt sich hier ein grobes Missverhältnis.
Wer einer Person die hochpersönliche Entscheidung über die Beendigung des eigenen Lebens zubilligt, eine Entscheidung, die die schwerwiegendsten denkbaren Konsequenzen überhaupt hat, kann derselben Person nicht legitim die hochpersönliche Entscheidung, mit wem sie Sex haben will, verbieten.
Falsche, ideologisch bestimmte Narrative
Wer die Narrative der „Kinderschützer“ glaubt, könnte natürlich einwenden, dass Kinder nie und unter keinen Umständen jemals Sex mit Erwachsenen haben wollen. Prof. Klaus Michael Beier vom Projekt „Kein Täter werden“ behauptete z.B. 2007 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung „Kein Kind möchte Sex mit Erwachsenen haben.“
Das ist allerdings lediglich eine moralistische Theorie, die nichts mit Wissenschaft und erst recht nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Einige Belege aus dem wirklichen Leben …
Das war vor 12 Jahren inzwischen bin ich längst erwachsen ich fühle mich nicht als Missbrauchsopfer das war alles einvernehmlich
Bin mit meinem Ex von damals noch immer befreundet weder lasse ich zu, dass er verknackt wird noch lasse ich mich als bi zwangsouten
Wie finde ich raus wer die alte Geschichte ohne mich zu fragen angezeigt hat damit ich den zur Rede stellen kann?
Ich würde eher alles abstreiten als private Details in einer Verhandlung mit Zuschauern zu erzählen
#2 – Gad Beck (schwuler Holocaust-Überlebender) über seine erste Liebe im Alter von 12 Jahren im Dokumentarfilm § 175:
Für mich fing plötzlich der Sport an im Mittelpunkt meines Lebens zu stehen. Es war ein zweiter Magnet, war ein blonder, jüdischer blonder Sportlehrer da. Na sowas! Ganz schlank und ganz ganz sportlich und schön. Und er nahm mich mit in die Dusche „jetzt dusch dich“ und ich duschte mich und er duschte sich – und ich sprang ihn an. Das ist genau das Gegenteil von dem, was man den bösen Lehrern nachsagt, die Päderasten sein sollen. Ich sprang ihn an. Ich stürzte nach Hause zu meiner Mutter und sagte „Mutti, ich habe heute meinen ersten Mann gehabt.
Mit zwölf hat er nach dem Duschen seinen Sportlehrer überrumpelt. Ihn überkam die Lust, er gab ihr nach und schmiegte sich an den jungen Lehrer, der die Einladung schweigend annahm. Zu Hause erzählte er der Mutter, was Schönes geschehen war. Gad Beck, 74 Jahre alt, erinnert sich heute belustigt an sein naives Geständnis. Die Mutter nahm’s gelassen. Ob wohl die Seppl-Puppe im Bett des Sprößlings schuld war, überlegte sie noch, dann war die Sache erledigt. Es ging tolerant zu im Hause Beck.
Der Besuch bei meinem Onkel hat mich viel über meine eigene Sexualität nachdenken lassen. Ich bin schwul und habe schon mit 12 oder 13 Jahren begonnen, mich für Männer zu interessieren. Was hätte ich getan, wenn der Bekannte meines Stiefvaters, dessen Oberarme ich mir gerne anschaute, oder der Vater einer Freundin, an dessen Brustbehaarung ich dachte, wenn ich mich selbst befriedigte, Sex mit mir hätte haben wollen? Ich glaube nicht, dass ich Nein gesagt hätte.
Als ich dreizehn war und die Sexualität entdeckte, war ich ständig auf der Suche nach jemandem, mit dem ich ins Bett gehen konnte. Und irgendwann habe ich das gefunden. Er war vierzig Jahre alt und es war großartig. Das war so wichtig für mich.
#5 – Der schwule 86-jährige klinische Psychologe Harold Kooden in einem Interview:
Mein Name ist Harold Kooden, und ich wurde in Chicago geboren. Wir zogen nach Kalifornien, nach North Hollywood, Kalifornien.
Als ich etwa elf Jahre alt war, entdeckte ich zufällig in einem der Klos im örtlichen Park ein paar Männer, die dort Dinge zu tun schienen, die mich wirklich interessierten. Also fing ich an, dorthin zu gehen, ich fuhr mit dem Fahrrad zu den Klos und lernte verschiedene Männer kennen, und ich wusste nur, dass man immer nur auf ein Klo geht, um jemanden kennenzulernen. Damals hatte ich noch nicht einmal einen Namen dafür, es war einfach etwas, das ich gerne tat und gerne mit mir machen ließ.
Mit vierzehn Jahren war ich in der 10. Klasse der High School. Eines Abends war ich mit meinem Bruder und meiner Schwester und ihrem Verlobten unterwegs. Ich erinnere mich, dass ich den ganzen Tag über sehr geil war. Als wir nach Hause kamen, schwang ich mich so schnell wie möglich auf mein Fahrrad und fuhr los, etwa eine Meile weit, in den Park. Ich sah einen Mann, der in der Nähe stand, und ging in den Park. Ich hatte mein Fahrrad stehen lassen. Ich ging weiter, und nach etwa fünf Minuten war er mir gefolgt und fing an, mit mir zu reden. Wir gingen weiter und unterhielten uns, und dann schlug er vor, dass wir uns auf eine Parkbank setzen sollten. Das war jetzt mitten im Park, so dass es ziemlich abgelegen war. Er fing an, mit mir zu reden und mir viele Fragen zu stellen, z. B. wie lange ich das schon mache, und dieses Gespräch ging weiter und weiter, und wenn er nicht attraktiv gewesen wäre, wäre ich aufgestanden und einfach weggegangen. Also beschloss ich, dass es für mich an der Zeit war, erwachsener zu werden und die Dinge sozusagen selbst in die Hand zu nehmen. Also griff ich zu ihm hinüber und betatschte ihn. Daraufhin hat er mich verhaftet und gesagt, er sei von der Sitte und ich sei jetzt verhaftet. Wir wurden auf die Polizeiwache gebracht, und damit begann das Verhör, denn sie wollten viele Informationen, denn sie hatten hier ein vierzehnjähriges Kind, und wenn ich ihnen die Namen von Leuten hätte nennen können, wäre das ein echtes Kopfgeld für sie gewesen.
Nachdem meine Mutter mich auf der Polizeiwache abgeholt hatte und wir nach Hause fuhren, sagte sie: „Wenn du so etwas noch einmal machst, bringe ich mich um.“
Die Reaktion der Mutter von Harold Kooden steht übrigens im krassen Gegensatz zur Reaktion der Mutter und Familie von Gad Beck, der über sein eigenes Outing in einem Interview berichtete:
Ich komme nach Hause: „Mutti, ich habe meinen ersten Mann gehabt.“ Mutter blieb sitzen mit offenem Mund und ging sofort außer Haus. Später hab ich das herausbekommen, sie ging zu ihren Schwestern. Nun musste die Familie sich doch beraten. Kommt zurück – und das ist das wunderschöne oder das große Glück, das mich getroffen hat mit dieser Familie – sagt: Junge, wir sind dran schuld. Dein Vater hat vor zwei Jahren von der Leipziger Spielwarenmesse dir einen Seppl mitgebracht, eine Männerpuppe! Und die haben wir dir ins Bett gelegt. Du bist ja zwei Jahre schon mit einem Mann im Bett gelegen!“ Sie haben die Schuld auf sich genommen. Und die ganze Familie wiederum suchte nun wiederum „Gott haben wir ein interessantes Mitglied in der Familie, endlich mal was anderes. Und die Tanten kamen dann noch „Hach, hast du wieder einen schönen Freund. Der neulich war nicht so schön, muss ich dir sagen.“ Also die spielten das Spiel gleich mit. Ich bin heut der Meinung für alle die, die so empfinden: outen, outen, outen, wenn es geht in der Zeit der Familie. Die Familie steht hinter einem wie ein Koloss! Problemlos. Für mich gab’s dann keine Probleme mehr.
#6 – Der DSDS Gewinner Mark Medlock im Interview mit hinnerk, dem Schwulen Stadtmagazin seiner Heimatstadt Hamburg:
Hinnerk: Verrätst du uns, wie dein Coming-Out gelaufen ist ?
Mark: Mit acht habe ich mir einen etwa 32-Jährigen im Schwimmbad geschnappt. Der hatte einen knackigen Arsch, war gut gebaut und ich bin voll auf ihn los, habe da mein kleines Spiel mit ihm abgezogen.Mit 16 habe ich zum ersten Mal einen Mann geküsst und dabei drei Mal den Kerzenständer umgekickt. Und kurz bevor meine Mutter gestorben ist, bin dann zu meinen Eltern gegangen und habe gesagt: „Papa, du wolltest sowieso immer ein Mädchen haben – und dein Mädchen hat jetzt einen Schwanz. Lebt damit, ich weiß, dass ihr mich liebt“. Mein Vater wollte eigentlich, dass ich das nicht in die Welt hinaus trage, aber ich habe es trotzdem getan. Ich kann mich dadurch nur stärken, die Leute sollen mich so respektieren, wie ich bin.
#7 – Aus der Berichterstattung über einen Kriminalfall:
„Es war eine Liebesbeziehung. Aber eine ungewöhnliche“, sagte Richterin Alexandra Sykulla. Der Angeklagte starrte beschämt zu Boden. (…) Vor Gericht gestand Daniel B., sprach aber von einer Liebesbeziehung, die auf Initiative des [zu Beginn 13-jährigen] Jungen entstand. „Sexuellen Kontakt gab es erst, als der Junge 14 Jahre alt war“, ließ der Ex-Politiker durch seine Anwältin Susanne Renner (39) erklären. Tim S. [das „Opfer“] bestätigte diese Darstellung unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
#8 – Jorge Gonzales, Laufsteg-Coach bei „Germany’s next Topmodel“ im Interview mit dem Focus:
Dass er dem männlichen Geschlecht zugeneigt ist, wusste der Kubaner dafür umso früher: „Ich war fünf, als ich zum ersten Mal in die High Heels meiner Mutter stieg. Zur gleichen Zeit entdeckte ich, dass ich andere Interessen hatte als die anderen Jungs. Ich beschäftigte mich lieber mit den Kleidern meiner Cousinen, als Fußball zu spielen. Als ich neun war, flüsterte meine Oma mir zu: Egal was die anderen sagen, du bist gut so, wie du bist.“
Die erste große Liebe ließ da nicht lange auf sich warten: „Mit dreizehn hatte ich meinen ersten richtigen Freund. Er war 21, ein Spanier, der auf Kuba gearbeitet hat. Ich schwindelte ihm vor, ich sei 16, was er mir abnahm. Mit ihm hatte ich mein erstes Mal.“
[Dieses Beispiel wurde aufgrund eines Hinweis von Stefan B in den Kommentaren nachträglich ergänzt.]
Laut „Prof. „Kein Kind möchte Sex mit Erwachsenen haben.“ Beier gibt es diese Menschen nicht. Die Wirklichkeit spielt für ihn keine Rolle. Dafür kann es zwei Ursachen geben. Die Grundlage ist dabei die gleiche:
Die in der Welt vorhandenen Informationen übersteigen die menschlichen Verabeitungskapazitäten. Entsprechend werden sie bereits von den Sinnesorganen und auch vom Gehirn massiv gefiltert und verändert. Der subjektiv wichtige Teil der Wahrnehmungen bleibt im Gedächtnis. Mit der Zeit werden Muster erkannt und aus diesen Regeln abgeleitet. Es entsteht eine mentale Repräsentationen der individuell relevanten Ausschnitte der Welt. Die erlernten Schemata prägen die Wahrnehmung und ihre Deutung vor. Wir sehen die Welt in den Bilder, mentalen Repräsentationen und Konzepten, die wir über lange Zeit verinnerlicht haben. Was nicht in die verinnerlichten gedanklichen Muster passt, wird zunehmend nicht mehr gesehen. Die (ohne bewusste Anstrengung) wahrnehmbare und denkbare Realität wird reduziert. Die Reduzierung erleichtert Orientierung und Handeln und ist zugleich identitätsbildend. Das ist oft nützlich, kann aber auch gefährlich werden.
Ein Sektenanhänger, ein Trump-Fan oder ein Putin-Freund ist nicht notwendigerweise dumm, er hat aber erlernte Vorstellungen von der Welt, die ihn die Welt so sehen und verstehen lassen, wie er sie sieht. Ein Angriff auf diese eingeschränkte Wahrnehmung und das dadurch aufrecht erhaltene Weltbild fühlt sich für ihn dann leicht auch wie ein Angriff auf seine Identität bzw. auf ihn selbst als Person an. Trotzdem müssen falsche Wahrnehmungen und Narrative klar benannt und möglichst sachlich und nachvollziehbar sichtbar gemacht werden, damit eine Chance besteht, die Fehlwahrnehmungen und Fehlvorstellungen aufzulösen.
Der Glaube „Kein Kind möchte Sex mit Erwachsenen haben.“ hat etwas sektenhaftes. Er steht nachweislich im Gegensatz zur Wirklichkeit, ist für „Kinderschützer“ aber zugleich auch identitätsstiftend und eine der Grundlagen ihres Weltbildes. Sie haben es in den späten 80er und 90er Jahren geschafft, den Blick der Öffentlichkeit auf die Wirklichkeit so zu verengen und zu formen, dass in der allgemeinen Wahrnehmung heute jede sexuelle Handlung mit einem Kind sexuelle Gewalt ist, fürsorgliches Verhalten verliebter Pädos als hinterlistige, bösartige Manipulation gilt und sich niemand vorstellen mag, dass es Kinder geben könnte, die Sex mit Erwachsenen haben möchten. Darüber zu diskutieren unterliegt einem Tabu und wird mit der gesellschaftlichen Ächtung als „Pädophilenversteher“ bedroht.
Es ist möglich, dass Prof. Baier tatsächlich nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit zu erkennen, weil seine Wahrnehmung zu sehr verengt ist, dass die Wirklichkeit in diesem Fall einfach nicht mehr zu ihm durchdringt. Es ist aber auch möglich und scheint mir überwiegend wahrscheinlich, dass er funktional einer der Sektenführer ist. Dass er die Realität zwar erkannt hat, aber etwas anderes predigt, weil es ihm aus eigennütziger Berechnung (sein Ansehen basiert auf der Wahrnehmung als Präventionspapst) oder aus gut gemeintem Vorsatz (Kinder als Gruppe stärker zu schützen, indem er keine Ambiguitäten zulässt) sinnvoll oder nützlich erscheint.
Die allgemeine Wahrnehmungsverzerrung ist wahrscheinlich nur schwer zu beseitigen. Sie ist identitätsstiftend und durch Tabus geschützt. Aber sie ist schädlich. Und deshalb bleibt einem nichts anderes übrig, als beständig das, was weiß ist, als weiß zu benennen und das, was schwarz ist, als schwarz zu benennen.
Wer immer wieder vor Augen gehalten bekommt, was ist, hat immer wieder neue Chancen es zu erkennen. Zwar nicht bei allen aber doch bei vielen Menschen kann das zu einem Umdenken beitragen. Wenn genug Menschen anders denken, werden die Fehlrepräsentationen vermehrt und schließlich auch öffentlich hinterfragt. Dann fangen sie an zu zerbröseln. Der selbsterhaltende Teufelskreis der Projektion und Weitergabe der Fehlrepräsentation zerbricht und die Wahrnehmung der Welt ändert sich.
Im Februar und März erschienen Artikel in zwei deutschen Leitmedien, die jeweils ein Schlaglicht auf einen spezifischen Aspekt des gesamtgesellschaftlichen Versagen im Kinderschutz werfen.
Fehlallokation von Aufmerksamkeit und Ressourcen – wer nicht aus dem richtigen Grund leidet, wird allein gelassen.
Laut einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Studie, an der White beteiligt war, ist emotionale Gewalt die häufigste Form der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. „Unsere beiden wichtigsten Erkenntnisse sind, dass emotionale Misshandlung nicht nur am öftesten vorkam in unserer Stichprobe, sondern auch die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder hatte. (…) UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass emotionale Gewalt oder Vernachlässigung die verbreitetste Form ist und jedes dritte Kind weltweit davon betroffen ist. (…) Angesichts der Studienergebnisse wünscht sich White vor allem eins: mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Das gelte einerseits für die breite Öffentlichkeit: Denn während Schläge und sexueller Missbrauch sehr oft thematisiert werden und es zahlreiche Hilfsangebote gibt, findet psychische oder emotionale Gewalt wenig öffentliche Beachtung, etwa in Medienberichten oder Beratungsstellen für Eltern.
Weil man es zu leicht überliest, nochmal herausgestellt: emotionale Gewalt kam am häufigsten vor und hatte die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder.
Mit emotionaler Gewalt sind Dinge gemeint wie Demütigungen, Herabsetzungen, Erniedrigungen durch Worte, Einschüchterung, ständiges Anschreien oder Angstmachen, Drohungen, Liebesentzug, offene Verachtung, Isolierung oder emotionale Kälte.
Medial findet emotionale Gewalt gegen Kinder aber so gut wie gar nicht statt. Im Strafgesetzbuch schon gar nicht. Fast alles an Aufmerksamkeit und Ressourcen wird vom „totalen Krieg“ gegen „sexuelle Gewalt“ gegen Kinder gefressen.
In Hinblick auf die Häufigkeit wird im Artikel dieses Schaubild präsentiert, das verdeutlicht, dass viele Betroffene auch Opfer verschiedener Missbrauchs- und Misshandungsformen gleichzeitig sind:
Geteilt via tagesschau.de
Etwas problematisch an dem Schaubild ist, dass sexuelle und körperliche Gewalt zusammengefasst sind. Wenn man in die (auch im Tagesschau-de Artikel verlinkte Studie) schaut findet man dieses Schaubild:
Von allen Betroffenen waren also 81% Opfer von emotionaler Gewalt, 64 % von Vernachlässigung und 42.2 % von Sexueller und körperlicher Gewalt. Die Anteile zu sexueller und körperlicher Gewalt sind in der Tabelle 1 der Studie weiter aufgeschlüsselt. Sexuelle Gewalt kam danach bei 13.4 % der Fälle vor, körperliche Gewalt bei 35 %.
Die 13.4 % der Fälle erhalten fast 100% der Aufmerksamkeit. Sexueller Kindesmissbrauch wird inzwischen regelmäßig in den Medien zur Pandemie und Gesundheitskatastrophe erklärt, inklusive der gebetsmühlenartigen Behauptungen wie „immer mehr“, „immer jünger“, „immer brutaler“. Tatsächlich sind die Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch aber lt. Kriminalstatistik seit Jahrzehnten im wesentlich unverändert bis leicht rückläufig.
Damit ist der erste Artikel oberflächlich gesehen ausgewertet. Die Haupterkenntnis ist, dass die 81% der Opfer von Misshandlung, die am meisten unter den Taten leiden, vergessen und allein gelassen werden. Soweit der Erkenntnishorizont der Tagesschau. Die Forderung ist: mehr Bewusstsein schaffen. Das ist natürlich zu unterstützen. Nicht wirklich erkannt ist aber, dass die 81% nicht zuletzt deshalb allein gelassen werden, weil man völlig (und in ungesunder Weise) auf die 13.4% Prozent fixiert ist.
Natürlich könnte man sich wünschen, dass zu den 100% Aufmerksamkeit für Opfer von „sexueller Gewalt“ noch 100% Prozent Aufmerksamkeit für Opfer emotionalen Missbrauchs hinzukommen könnten. Aber Aufmerksamkeit und auch Geld sind knappe Güter. Mehr als 100% gibt es nicht, bzw. lässt sich in der Realität nicht durchhalten. Wenn man möglichst viel erreichen will, muss man die Mittel, die vorhanden sind, ausgewogen und der objektiven Notwendigkeit entsprechend verteilen. Heute geschieht dies nicht.
Ein weiterer Aspekt, der im Grunde auch langsam bereits zum Thema des zweiten Artikels überleitet, ist, dass das tatsächliche Problem „sexueller Gewalt“ in Wirklichkeit kleiner ist, als die 13.4 % Opferanteil suggerieren. Laut der inzwischen durch Lobbyisten weltweit durchgesetzten Definition ist mit „sexueller Gewalt“ jede sexuelle Handlung an oder mit einem Kind gemeint. Die Meinung und das subjektive Erleben des Kindes ist dabei völlig unerheblich und interessiert den „Kinderschutz“ nicht. Dabei ist sie eigentlich entscheidend, wenn es wirklich um das Kindeswohl geht.
Eine für die Bevölkerung repräsentative (!) nationale dänische Studie hatte zum Ergebnis, dass sich bei Fällen eines sexuellen Kontakts mit einer Altersdifferenz von mehr als 5 Jahren 35 % der betroffenen Jungen „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht fühlte, 65 % fühlte sich nicht missbraucht. Bei den Mädchen fühlten sich 39.5 % „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht, 60.5 % fühlten sich nicht missbraucht. Die Ergebnisse für Dänemark dürften auf Deutschland und andere europäische Länder übertragbar sein.
Diesen Kindern muss nicht etwa dringend beigebracht werden, dass sie ganz furchtbar geschädigt wurden, ihre Seele nun eigentlich tot ist und sie realistischerweise jede Hoffnung auf ihr Lebensglück fahren lassen sollten. Tut man es doch, dann ist das nichts anderes, als eine (bisher leider kaum erkannte) Sonderform von emotionalem Kindesmissbrauch.
Um dies zu erkennen, muss man keineswegs der Meinung sein, dass es auch akzeptable sexuelle Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern geben kann, sondern einfach nur ein objektives Interesse am Wohlergehen der Kinder haben und den möglicherweise vorhandenen eigenen subjektiven Schrecken oder Ekel im Interesse der Kinder zurückstellen. Hierzu ein kurzes Zitat von Fr. Prof. Dr. Michaela Pfundmair (lehrt Sozialpsychologie an der LMU München) aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
Als beste Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen hat sich in der Forschung unter anderem herauskristallisiert, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen, Optimismus beizubehalten, wichtige Bindungen aufrechtzuerhalten – aber auch so etwas wie die externale Attribution der Schuld, also sich klar zu machen, dass man selbst nicht für das Geschehene verantwortlich ist. Natürlich sind auch Psychotherapien eine Möglichkeit. Vielleicht aber haben viele der Betroffenen keine „seelische Erschütterung“ erfahren. Dann sollte man das auch nicht weiter aufbauschen. (…) Tatsächlich kann Missbrauch in der Kindheit das Risiko für eine Vielzahl psychischer Störungen erhöhen – aber: die Zusammenhänge sind im Allgemeinen schwach bis mäßig ausgeprägt. Das heißt, Missbrauch ist nur ein unspezifischer Risikofaktor. Der Anteil symptomfrei bleibender Betroffener wird auf etwa 40 Prozent geschätzt.
Wer sich nicht missbraucht fühlt oder durch einen Missbrauch keine seelische Erschütterung erlebt hat, bleibt in der Regel symptomfrei. Indoktriniert man jemandem, um ihm vor Augen zu führen, wie schrecklich er geschädigt wurde, so hat das massive negative Konsequenzen für den Betroffenen. Um diese Art von Opfer-Indoktrination und ihre Konsequenzen für die dadurch Geschädigten geht es im zweiten Artikel.
Opfer-Indoktrination
Der Spiegel-Artikel „Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt – Im Wahn der Therapeuten“ thematisiert dabei allerdings ausschließlich die Behandlung angeblicher ritueller Gewalt. Sichtbar wird deshalb im Grunde nur die Spitze eines Eisbergs: ein kleiner Teilbereich des großen Feldes (sexueller) Missbrauch, bei dem der Missbrauch mit dem Thema Missbrauch und der dadurch angerichtete Schaden besonders leicht zu erkennen ist – aber trotzdem bisher weitgehend ignoriert wurde.
Auszüge aus dem Artikel zum individuellen Schicksal einer Betroffenen:
Im Frühjahr 2018 versucht Malin Weber, ihr Leben in den Griff zu bekommen, nicht zum ersten Mal. Sie ist zu der Zeit 27 Jahre alt und will eine schwierige Trennung verarbeiten. Ihre Kindheit sei schwierig gewesen. Ohrfeigen vom jähzornigen Stiefvater. Mit elf, sagt sie, habe der Vater eines Freundes sie missbraucht. In der fünften Klasse begann sie stark zu stottern. Das Gymnasium habe sie ohne Abschluss verlassen.
Später kommt sie in therapeutischen Wohngruppen unter, in Gastfamilien, psychiatrischen Kliniken. Weber sagt, sie habe sich selbst verletzt, sei depressiv gewesen, zeitweise suizidgefährdet. Sie lebt von Hartz IV. 2015 heiratet sie, doch ihr Mann habe getrunken und sei gewalttätig geworden. Nach drei Jahren ist die Ehe am Ende.
Davon will sich Weber im Gezeiten Haus nahe Köln lösen, einer Privatklinik mit Schwerpunkt Traditionelle Chinesische Medizin. Sie leidet unter Schlafstörungen, isst wenig, wirkt abwesend. Das größte Handicap ist ihr Stottern. Unter Stress bringt sie kaum ein Wort heraus. Weber erinnert sich: »Die Therapeutin dort meinte, hinter meinen Symptomen müsse noch mehr stecken.« Mit der Verdachtsdiagnose »Dissoziative Identitätsstörung« verweist man sie an eine angebliche Traumaexpertin. (…)
Im Juni 2018 betritt Malin Weber zum ersten Mal die Praxis von Jutta Stegemann in Münster. Nach eigener Auskunft arbeitet die approbierte psychologische Psychotherapeutin seit 20 Jahren mit »Überlebenden ritueller Gewalt«. Stegemann führt auch die entsprechende Beratungsstelle beim Bistum Münster.
Barsch und autoritär habe Jutta Stegemann auf sie gewirkt, sagt Weber. Ihre traumatische Trennung sei »schnell gar kein Thema mehr« gewesen. »Es ging nur um den Satanismus.« Vor dem Familiengericht wird Weber sagen, sie hätte durch ihre Therapeutin »zum ersten Mal davon erfahren, was passiert sein soll«. Gemeint ist der angebliche satanische Missbrauch.
In der seriösen Traumatherapie geht es darum, Klienten zu stabilisieren und sie gegen Erinnerungsschübe zu wappnen. Ihre Therapeutin hingegen, so schildert es Weber, habe von ihr verlangt, wieder und wieder Bilder des vermeintlichen Missbrauchs in sich aufsteigen zu lassen, an den sie keine Erinnerung gehabt habe.
Mit bunten Steinen soll sie ihre »Innenpersönlichkeiten« aufstellen und ihnen Namen geben. Davon hat Weber noch ein Foto. Als »Erinnerung« notiert sie: ein Mädchen, das von einer Hohepriesterin zum Altar geführt wird, »ich musste folgen«, Glockenklänge, ein Messer, Blut spritzt – genau wie in einem Buch beschrieben, das sie auf Stegemanns Anweisung durchgearbeitet habe. Die Therapeutin habe das als »Durchbruch« gefeiert.
Stegemann habe ihr erklärt, sie sei in den kultischen Kreis hineingeboren worden und verfüge über Geheimwissen. Ihr schweres Stottern resultiere aus einem Redeverbot durch die Kult-Obersten, Logopädie sei sinnlos. Ohne dass sie sich dessen bewusst sei, werde sie bis in die Gegenwart gefoltert und missbraucht. Um ihre hierfür geeigneten »Persönlichkeitsanteile nach vorne zu holen«, benutzten die Täter etwa Musik aus einem Autofenster. Es könne passieren, dass sie sich dann in das Auto setze und zu Ritualen abtransportiert werde.
Um sich dagegen wehren zu können, habe Stegemann gesagt, müsse Weber alle ihre »Innenpersönlichkeiten« miteinander versöhnen. Therapiedauer: bis zu zehn Jahren.
Der SPIEGEL hat Jutta Stegemann zu einem Gespräch getroffen. Drei Stunden lang doziert sie über »Mind-Control« und »Innenpersönlichkeiten«, erwähnt dabei den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux, den Campingplatz in Lügde. Folgt man Stegemann, stecken hinter allem satanistische Täterkreise. Sie spricht von einem Chirurgen, der Chips aus den Körpern der Opfer entferne – mit denen ihre Missbraucher sie orteten.
Fragt man die Therapeutin nach ihrer ehemaligen Klientin Malin Weber, muss man ihre Antwort so verstehen, als hätten die Täter Weber auf Stegemann angesetzt, um sie zu stoppen – weil sie zu gute Arbeit leiste.
(…)
Im Rückblick ist das ihre bitterste Erkenntnis: Wie manipulierbar sie war und wie leichtgläubig. Wie sie nach einer gescheiterten Ehe Halt bei einer Therapeutin suchte und sich stattdessen von ihr in eine paranoide Scheinrealität ziehen ließ. In einen psychischen Abgrund, ohne Hoffnung auf ein eigenständiges Leben. Erzählen kann Malin Weber das heute nur, weil sie es schaffte, sich aus eigener Kraft aus diesem therapeutischen Wahngebilde zu befreien. Diese Stärke, das ahnt sie, besitzen viele andere nicht.
Noch immer kämpft sie gegen innere Bilder an, die in ihr hochsteigen: dunkle Gestalten in Kutten, Messer, Blut – alles Scheinerinnerungen, entstanden in 83 Therapiesitzungen, bezahlt von ihrer Krankenkasse. Ohne sich dessen bewusst zu sein, so habe es ihre Therapeutin ihr suggeriert, stehe sie im Bann eines Satanskults. Ein Täterkreis, angeführt von ihrem Stiefvater, habe sie in ihrer frühen Kindheit mental programmiert, um sie ein Leben lang in Ritualen missbrauchen zu können. Quer durch die Republik spannte sich das Netzwerk von Satansjüngern, und noch immer hätten diese die Kontrolle über sie, davon war die Therapeutin überzeugt.
Um sich aus dem Kult lösen zu können, müsse Weber sich an alles erinnern, mit ihrer Hilfe.
Je länger die Therapie dauerte, sagt Malin Weber heute, desto schlechter habe sie sich gefühlt. Manchmal sei sie nach den Sitzungen in ihrer Wohnung zusammengebrochen. Zu der Zeit, sagt sie, habe sie selbst geglaubt, der Kult habe sie in seiner Gewalt.
Weber ging zu jener Zeit nicht mehr allein vor die Tür – aus Angst, sie könnte von den Tätern entführt werden. Auf Anweisung ihrer Therapeutin habe sie Kontakte zu Freunden und Familie abgebrochen. Sie schaltete ihr Handy aus, um nicht geortet zu werden. Zeitweise glaubte sie, mindestens acht Persönlichkeiten führten in ihr ein Eigenleben.
Heute weiß Malin Weber, dass sie tatsächlich schwer traumatisiert wurde – nicht durch satanistische Rituale, sondern durch die angebliche Traumatherapie.
(…)
Anfang 2020 kehrt Malin Weber aus einem Urlaub zurück, ungeplant schwanger. »Das stärkste Gefühl war Freude«, sagt sie. Aber auch Angst – vor der Reaktion ihrer Therapeutin. Als Jutta Stegemann von der Schwangerschaft erfährt, habe sie versucht, Weber weiszumachen, das Kind sei bei einer Massenvergewaltigung durch Kultanhänger entstanden. Das Ungeborene schwebe in höchster Gefahr. Mit dieser Sorge wendet sich Stegemann ans Jugendamt. Weber sagt: gegen ihren Willen.
Aus den Akten des Jugendamts Unna geht hervor, was die Therapeutin dort noch vorbringt: Ein anderes Kind Webers sei »vorgeburtlich geopfert« worden. Es sei nicht auszuschließen, dass Weber ihr Kind aufgrund der Programmierung den Tätern zum Missbrauch überlassen könne.
Das Jugendamt schaltet das Amtsgericht Unna ein. Zwei Wochen vor der Geburt des Kindes tagt das Gericht erstmals.
Der Betreuer, der Weber wegen ihres Stotterns zu Terminen bei Ämtern und Ärzten begleitet, bestätigt im Verfahren, sie sei seit Längerem »richtig stabil«. Aus den Schilderungen der Beteiligten ergibt sich: Weber nimmt alle gynäkologischen Vorsorgetermine wahr, hat sich um eine Hebamme gekümmert, geht zur Geburtsvorbereitung und – noch – zur Therapie bei Jutta Stegemann.
Weber gibt zu Protokoll, sie befinde sich seit 2010 im Ausstieg aus dem Satanskult. Sie traue sich jedoch zu, mit einer ambulanten Hilfe für ihr Kind zu sorgen. Und: Es sei ihre erste Schwangerschaft.
Weber legt dazu eine Bescheinigung ihrer Frauenärztin vor, wonach keine Spuren einer früheren Geburt feststellbar sind. Ein Widerspruch zur Behauptung Stegemanns über das geopferte Kind.
Unbeirrt trägt die Vertreterin des Jugendamts trotzdem vor, »nach Aussage von Frau Stegemann« könne man nicht wissen, wie die zahlreichen »Innenpersönlichkeiten« auf das Kind reagieren würden. Diese Sorge teilt die Richterin und entzieht Malin Weber bereits vor der Geburt vorläufig das Sorgerecht. Als ihre Tochter im September 2020 zur Welt kommt, muss Weber mit ihr in eine Mutter-Kind-Einrichtung ziehen.
Weber erinnert sich, weder die Richterin noch sonst irgendjemand habe nach Belegen für die Existenz der Satanisten gefragt. Das Protokoll bestätigt das. »Die haben das alle einfach geglaubt«, sagt Weber. (…)
Während Malin Weber noch mit ihrer Tochter in der Mutter-Kind-Einrichtung lebt, lässt Jutta Stegemann erst Termine ausfallen, dann reißt die Therapie ganz ab. Eine Rechnung weist den Termin am 8. April 2021 als letzte von 83 Sitzungen aus.
»Je weniger Therapie ich hatte, desto besser ging es mir«, sagt Weber. »Immer seltener kamen irgendwelche Bilder hoch. Irgendwann habe ich begriffen, dass alles nicht stimmte.«
Am 28. Juni 2021 entscheidet das Gericht über das Sorgerecht für ihr Kind. Laut Akten beschreibt eine Mitarbeiterin der Mutter-Kind-Einrichtung Weber als umsichtig, gut informiert, »eine ganz verliebte Mutter«. Nur einmal, als ihr die vom Gericht beauftragte Psychiaterin noch vor dem Abschluss der Begutachtung eröffnet habe, sie sehe für sie keine Zukunft mit dem Kind, habe Malin Weber den ganzen Tag lang geweint.
Die Psychiaterin führt keine eigene Diagnostik durch. Was die Dissoziative Identitätsstörung betrifft, beruft sie sich auf die »Angaben der behandelnden Therapeutin Jutta Stegemann«. Die andere Gutachterin, eine Psychologin, fasst zusammen: »An der Liebe der Mutter zum Kind wird nicht gezweifelt.« Doch Stegemann zufolge sei Weber in »bis zu mehrere tausend Innenpersönlichkeiten« gespalten, auch solche, die weiterhin Kontakt zum Kult hielten. »Gemäß Stegemann« ein »unkalkulierbares Restrisiko«.
Vor Gericht trägt die Gutachterin vor, Weber habe »eine der schwersten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt«. Im Gutachten schreibt sie, der Persönlichkeitswechsel zeige sich nach Stegemanns Angaben unter anderem durch den »Wechsel der Augenfarbe«. Niemandem, auch nicht der Richterin, fällt auf, dass das physiologisch nicht möglich ist.
Dann kommt der Gerichtsbeschluss: Die Kindesmutter könne »hoch belastet durch den Ausstieg aus dem Kult« und »ständig auf der Hut vor potenziellen Übergriffen« ihrer Erziehungsverantwortung für das Kind nicht gerecht werden. Webers Tochter kommt in eine Pflegefamilie. (…)
Seit August 2021 läuft beim Oberlandesgericht Hamm Malin Webers Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts zum Sorgerecht. Im Mai 2022 hat sie bei der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen eine Beschwerde über ihre Therapeutin eingereicht, bislang ohne Antwort.
In der Zwischenzeit hat Weber den Führerschein gemacht. Sie strebt eine IT-Ausbildung an und geht regelmäßig zur Logopädie. Für Termine bei Ämtern und Ärzten braucht sie keine Begleitung mehr. Seit anderthalb Jahren hat sie einen festen Lebenspartner.
Das Oberlandesgericht Hamm hat eine neue Psychiaterin damit beauftragt, Malin Weber zu begutachten. Bis zur Verhandlung kann es noch Monate dauern. Bis dahin darf sie ihre Tochter nur alle drei Wochen sehen, maximal zwei Stunden, unter Aufsicht der Pflegemutter und einer Betreuerin.
Das völlig unnötige Elend, das sich in dem geschilderten Einzelschicksal manifierstiert, ist jenseits dessen, was man normalerweise für möglich halten würde. Die Behandlung von Frau Weber durch ihre Therapeutin, die ihr gegenüber eine besondere Vertrauensstellung innehatte, ist schlicht bösartig. Es ist aber wohl nicht mal ausgeschlossen, dass die Therapeutin sogar noch glaubt, was sie ihrer Patientin eingeredet hat. Sie ist wohl entweder kriminell oder eine gestörte Persönlichkeit, die nur noch bedingt zurechnungsfähig ist. Trotzdem muss sie bisher keine Konsequenzen fürchten. Sie wird weiter auf Menschen losgelassen und fügt mit Sicherheit auch anderen Patienten enormen Schaden zu.
Ein Ökosystem, das die Opfer-Indoktrination trägt
Sie wird dabei von einem Ökosystem geschützt und unterstützt. Im Artikel des Spiegel werden auch einige Personen und Organisationen benannt, die sich in besonderer Weise schuldig gemacht oder in der Auseinandersetzung mit dem Thema versagt haben. Der deutsche Staat, Wissenschaftler und Kinderschutzorganisationen wirken dabei mit, die Schädigung der Hilfesuchenden zu ermöglichen. Auszüge zum Gesamtphänomen aus dem Artikel – die Namen unrühmlich involvierter Personen und Organisationen habe ich durch Fettschrift im Text hervorgehoben:
Die Existenz von Geheimkulten, in denen im Verborgenen schwerste Verbrechen begangen werden, ist seit Jahrhunderten Stoff von Verschwörungserzählungen – im Mittelalter mit antisemitischen Zügen: Juden, hieß es, würden das Blut von Christenkindern trinken. Heute geht es, wie in Webers Fall, eher um Satansanhänger, die angeblich in schwarzen Messen ihre Opfer foltern, deren Blut trinken und sie manipulieren.
In dem auch auf Deutsch erschienenen Fachbuch einer kanadischen Psychologin mit dem Titel »Jenseits des Vorstellbaren« beschreiben Betroffene detailliert regelmäßige Menschenopfer an satanischen Feiertagen. Ein angebliches ehemaliges Mitglied bezeugt, im Kult vergewaltige ein »Mann im Teufelsgewand« Kinder im Alter zwischen 12 und 18 Monaten. Mädchen würden erstmals im Alter zwischen 11 und 13 Jahren geschwängert, ihr »erstgeborener männlicher Säugling« werde »in seinen ersten Lebenswochen nach Opfermanier getötet«. Es gibt keinen Beleg für derartige Verbrechen.
Über die angeblichen Täterkreise heißt es in einer Broschüre des Fachkreises »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« beim Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2018, mancherorts seien »Familien generationsübergreifend eingebunden«. Oft wird auch darauf hingewiesen, dass die Täterinnen und Täter eine gehobene Stellung in der Gesellschaft hätten: Beamte, Lehrer, Richter, Politiker.
In den Medien finden vermeintliche Betroffene Gehör: 2020 spricht eine Frau in einem Video von »Ze.tt«, dem Onlinemagazin der »Zeit«, über Ekeltraining durch Kultanhänger und Kindstötungen, im Jahr darauf brachte der Westdeutsche Rundfunk eine Radiosendung über »Kinder, die in Sekten ausgebeutet werden«. Zuletzt erschien in der »taz« eine Reportage über rituelle Gewalt. Überprüfbare Angaben, die auf kultische Netzwerke schließen lassen, fehlen in allen Beiträgen.
Kein Grund zu zweifeln bei denjenigen, die solche Erzählungen weitertragen: Das zeige nur, dass die Vertuschung rituellen Missbrauchs auch von Ärzten, Ermittlern und der Justiz betrieben werde. Und der Rest der Gesellschaft verschließe die Augen vor ritueller Gewalt – zu schrecklich sei die Vorstellung solcher Exzesse.
Kann das sein?
Wohl nie verfolgte die Gesellschaft so entschlossen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs wie heute. Fortlaufend decken Ermittler erschütternde Fälle organisierter sexueller Gewalt auf, in denen Täterinnen und Täter strategisch vorgehen, Kinder für den Missbrauch weiterreichen. Staufen, Lügde, Münster, Wermelskirchen – Medien berichten detailreich über solche Tatkomplexe. Es gibt Zeugen, Spuren, Aufnahmen, manchmal auch Geständnisse.
Was es in diesen Fällen nicht gibt: Hinweise auf kultische Hintergründe.
(…) In den Niederlanden liegt seit Ende 2022 der Abschlussbericht einer Untersuchungskommission zum Thema »Rituelle Gewalt« vor. Ergebnis: Trotz etlicher Opferberichte gebe es im Land keinen Nachweis für die Existenz satanistischen Missbrauchs. (…)
Folgt man Experten wie Bianca Liebrand von der Beratungsstelle Sekten-Info Nordrhein-Westfalen in Essen, liegt der Skandal beim Thema ritueller Missbrauch nicht im kollektiven Wegsehen, sondern in fehlgeleiteten Hilfsangeboten. Jedes Jahr, so Liebrand, meldeten sich bei der Sekten-Info etwa 20 Menschen, die in einer Therapie erstmals erfahren haben wollen, Opfer ritueller Gewalt geworden zu sein. »Nach der Therapie sind sie noch destabilisierter als zuvor«, sagt Liebrand. »Wüsste man von einem Arzt, dass er mit falschen Operationsmethoden Menschen gefährdet, gäbe es einen Aufschrei.«
Und es gibt weitere Opfer: die zu Unrecht Beschuldigten. Hilfe finden sie beim Verein False Memory Deutschland, übersetzt: »Falsche Erinnerung«. Gründerin Heide-Marie Cammans berät jene, die von einem erwachsenen Familienmitglied aus dem Nichts des kultischen Missbrauchs beschuldigt wurden – oft, nachdem sie aus anderen Gründen therapeutische Hilfe suchten. »Was in solchen Therapien geschieht, bringt unendliches Leid über die Familien«, sagt Cammans, die auch Malin Weber unterstützt.
Mehr als 600 Fälle, in denen induzierte Erinnerungen eine Rolle spielen, kenne sie mittlerweile, sagt Cammans. Sehr selten stecke eine psychische Krankheit oder Autosuggestion hinter der falschen Erinnerung. Meist sei sie durch eine Therapie erzeugt.
Arbeit mit »Überlebenden« sogenannter ritueller Gewalt beschäftigt eine Szene von Therapeuten, darunter Heilpraktiker und Familienaufsteller. Sie behandeln vermeintliche Folgen schwerster Leidenserfahrungen – die es so nach allem Ermessen nie gegeben hat – oft so lange, bis die Klienten selbst überzeugt sind, extreme körperliche und sexuelle Gewalt in einem Kult erlebt zu haben. Dabei handelt es sich nicht um einen durchweg dubiosen Zirkel.
Involviert sind renommierte Vertreter ihres Fachs, allen voran die Traumatherapeutin Michaela Huber. Sie tritt schon seit mehr als 20 Jahren als Kennerin okkulter Sektengewalt auf – und hat in dieser Rolle vermutlich Hunderte Therapeuten geschult.
Ihr vermeintliches Insiderwissen verbreiten diese Fachkräfte in Opferschutzvereinen, Universitätskliniken, Bistümern. Beratungsstellen wurden geschaffen, Bücher veröffentlicht, Fortbildungen und Fachtagungen veranstaltet. Auch das Bistum Münster befeuert – trotz massiver Kritik aus anderen Bistümern und aus der evangelischen Kirche – Legenden um den rituellen Missbrauch. Etwa mit dem Aufklärungsvideo »Im Namen des Teufels: Rituelle Gewalt in satanistischen Sekten« aus dem Jahr 2016.
Um auf höchster Ebene für das Thema zu sensibilisieren, sprachen 2017 Expertinnen für rituelle Gewalt vor der »Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs« über das Leid der Betroffenen – mit Erfolg. Der damalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung richtete ein Hilfetelefon für Opfer ritueller Gewalt ein, Forschungsgelder flossen.
Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des satanischen Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Aussteigerinterviews geben oder Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.
Dabei ist vieles, was in der Szene als Tatsache verbreitet wird, offensichtlicher Unsinn. Fragt man nach bei Polizei und Staatsanwaltschaften, kann sich niemand an die Aufdeckung kultischer Täternetzwerke erinnern. Manche Betroffene bezichtigen ihre ganze Familie des satanistischen Missbrauchs. Doch auch Vertreter der Szene können keinen Fall nennen, in dem das nachweislich geschah. Geht es um Verbrechen kultischer Täterkreise, fehlten in den Gewaltschilderungen angeblich Betroffener stets nachprüfbare Indizien wie Angaben zu Tatorten, Namen, Verletzungsmustern.
Die Bremer Kriminologin Petra Hasselmann ist dem Phänomen nachgegangen. Dafür sprach sie mit zahlreichen Menschen, die sich als »Überlebende« ritueller Gewalt bezeichnen. Diese setzten sich nicht mit der Frage nach der Glaubhaftigkeit ihrer Erzählungen auseinander, so Hasselmanns Resümee, sondern machten rituelle Gewalt zur »Glaubensfrage«, an der sich Freund und Feind scheiden. Wer Betroffenen nicht glaube, stehe aus Sicht der Szene auf der Täterseite.
Doch wer blind glaubt, unterstützt, dass Hilfesuchende wie Malin Weber auf andere Art zu Opfern werden. (…)
An einem Tag im Oktober hat das Trauma Institut Mainz zu einer Tagung geladen: »Dissoziative Identitätsstörung – Diagnose und Therapie«. Gekommen sind drei Mitarbeiter des Opferhilfevereins Weißer Ring und sieben Psychotherapeuten. Die Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz erkennt das Seminar als Fortbildung an.
Brigitte Bosse leitet das Institut, sie arbeitet seit 30 Jahren mit Opfern sexueller Gewalt. Die ärztliche Psychotherapeutin sitzt in einem Gremium der Deutschen Bischofskonferenz, ist gefragte Gesprächspartnerin an Universitäten und in Ministerien, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung hörte sie als Expertin.
An diesem Oktobertag kommt sie kurz vor der Mittagspause auf die »Dissoziative Identitätsstörung infolge ritualisierter Gewalt« zu sprechen. Die Seminarteilnehmer lernen, es sei Tätern möglich, die Persönlichkeit eines Opfers bewusst in »Innenmenschen« aufzuspalten, die jeweils verschiedene Aufgaben hätten – etwa »Verfolger«, »Beschützer« oder »innere Berichterstatter«, die den Tätern melden, wenn das Opfer beabsichtige, zur Polizei gehen.
Bosse bittet eine Frau nach vorn. Sie stellt sich als Betroffene ritueller Gewalt vor. Sie erzählt unter anderem, sie erinnere sich, wie sie als Säugling, gerade drei Monate alt, den erigierten Penis ihres Vaters gehalten habe. Dabei schließen Gedächtnisforscher ein so frühes Erinnerungsvermögen übereinstimmend aus. Auch die angeblichen Psychotechniken der Kulte sind für Fachleute nicht nachvollziehbar.
In der Szene verweist man hingegen auf das Werk der kanadischen Psychologin Alison Miller. In ihrem Buch »Jenseits des Vorstellbaren« beschreibt sie, ein Säugling lasse sich programmieren, etwa indem man ihm Nadeln in die Fußsohlen steche und Elektroden in Körperöffnungen einführe. Nach leichten Schocks, so Miller, heule das Kind auf. Danach blieben »zwischen fünfzehn Sekunden und einer Minute«, in der eine Trainerin »der neuen kindlichen Innenperson einen Namen und ein magisches Symbol zuweisen kann«.
Das Deutsche Ärzteblatt, die offizielle Fachzeitschrift der Bundesärztekammer, lobte im Jahr 2014 das »eindrückliche und sehr kenntnisreiche Buch«.
Auch in Mainz werden Millers Bücher empfohlen. Kein Teilnehmer hinterfragt offen die Behauptung, in Deutschland könnten Satanisten unbehelligt morden. Oder wie es sein könne, dass Täterkreise aus ansonsten unauffälligen Anwälten, Ärzten und Politikern über Gehirnwäsche-Techniken verfügten, die Geheimdienste seit Jahrzehnten zu erlangen versuchen.
Auf Nachfragen schwächt Bosse nach dem Seminar per E-Mail ihre Aussagen ab, schickt überarbeitete Folien, um ein »missverständliches Bild« zu vermeiden. Begriffe wie »Programmierung« hat sie gelöscht. (…)
Auch in Deutschland haben sich Wissenschaftler mit der Verschwörungserzählung befasst, jedoch auf andere Weise. Am renommierten Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf entstanden in einer Forschungsgruppe um den Sexualwissenschaftler und forensischen Psychiater Peer Briken mehrere Arbeiten zum Thema organisierte und rituelle Gewalt: über Täter, Psychotechniken, Hindernisse bei der Aufdeckung der Taten.
Die Ergebnisse entsprechen wenig überraschend dem, was in der Szene als Tatsachenwissen verbreitet wird: Zu Wort kommen Personen, die sich selbst als Betroffene definieren, und Therapeuten und Sozialarbeiter, die mit »Überlebenden« arbeiten. Was diese angeben, wird an keiner Stelle hinterfragt.
Briken sagt, Anstoß zu den Untersuchungen hätten Berichte Betroffener vor der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gegeben. Briken war selbst Mitglied der Kommission. »Wir haben gesehen, dass bei den Betroffenen großes Leid vorhanden ist. Wir haben von Menschen gehört, die nicht mehr arbeitsfähig sind, die sich suizidieren im Zusammenhang mit organisierter Gewalt. Darüber haben wir bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse.«
Im Bericht der Schweizer Kommission heißt es, wer den Aussagen angeblicher Opfer ungeprüft Glauben schenke, leiste schädlichen Therapien Vorschub und lasse Betroffenen keine Chance, ihrer Parallelwelt zu entkommen. Deshalb fordern die Autoren »Realitätschecks« ein.
Fragt man Peer Briken danach, sagt er: »Das war bei dieser Untersuchung nicht unser Anliegen und wäre mit dem methodischen Vorgehen auch unmöglich gewesen.« Man habe an keiner Stelle behauptet, Fakten zu präsentieren. Er selbst habe keine wissenschaftliche Evidenz für Techniken wie Mind-Control oder die gezielte Aufspaltung der Persönlichkeit. Und wenn die Ergebnisse seiner Forschungsgruppe dennoch als Beleg für die Existenz ritueller Gewalt gelesen werden? »Dass Forschungsergebnisse missbraucht werden, lässt sich leider nicht verhindern.« (…)
In Deutschland sind Familien- und Justizministerium stolz, das Missbrauchsthema an höchster Stelle angesiedelt zu haben, in Gestalt des Amts des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Hier sollen die Versäumnisse der Vergangenheit kompetent und integer aufgearbeitet werden.
Seit April 2022 ist die Journalistin Kerstin Claus die neue Missbrauchsbeauftragte des Bundes. Im Dezember sitzt sie in einem Konferenzraum in Berlin und sagt: Weil den Opfern sexueller Gewalt so lange und so häufig nicht geglaubt worden sei, nehme das Amt des Missbrauchsbeauftragten die gegenteilige Haltung ein – »Parteilichkeit für die Anliegen von Betroffenen«. Claus sagt: »Wir setzen uns für Schutz und Hilfe ein.«
Claus sagt, sie habe die Medienberichte in der Schweiz verfolgt. »Mit Sorge« schaue sie »auf die in konkreten Fällen festgestellten Behandlungsfehler«.
Doch auch auf dem offiziellen Hilfeportal der Missbrauchsbeauftragten war bis vor Kurzem von einer Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit »in mehrere Identitäten« durch »planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt« und von »Mind-Control-Methoden« zu lesen. Gefördert vom Bundesfamilienministerium ging im November 2022 die Website wissen-schafft-hilfe.org online. Untermauert von Forschungsergebnissen aus Hamburg war dort von »Programmierung« und von »Teil-Persönlichkeiten« die Rede, denen »bestimmte Sexual- oder Gewaltpraktiken antrainiert werden« könnten. Auch in Broschüren, die sich an Opfer ritueller Gewalt richten und vom Amt der Missbrauchsbeauftragten gefördert wurden, wird die Mind-Control-Theorie verbreitet.
Fragt man Claus, ob sie all das glaube, windet sie sich: »Einen Begriff wie Mind-Control würde ich nicht nutzen«, sagt sie. Aber sie halte es für unangemessen, »Erfahrungen von Betroffenen undifferenziert als Verschwörungstheorie einzuordnen«. Schließlich berichteten diese von gezielter psychischer Manipulation.
Der SPIEGEL hat einen der Autoren des Schweizer Untersuchungsberichts um eine Bewertung der Aussagen zu ritueller Gewalt gebeten, die auf Internetseiten der Missbrauchsbeauftragten auffindbar waren oder noch sind. Werner Strik, ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern, sagt, Informationen, die unter dem Dach der UBSKM vermittelt würden, erweckten unweigerlich den Anschein besonderer Seriosität. Doch was dort etwa über »Mind-Control« zu lesen sei, entbehre »jeglicher wissenschaftlicher Grundlage«.
Im Dezember in Berlin sagt Claus: »Der Ansatz meines Amtes ist nicht, grundsätzlich infrage zu stellen, sondern Bedarfe zu hören und sich für passende Angebote einzusetzen.« Wenige Tage nach ihrem Gespräch mit dem SPIEGEL ist der Begriff »Mind-Control« auf dem Hilfeportal nicht mehr zu finden. Auf der Webseite wissen-schafft-hilfe.org heißt es, diese sei zurzeit im Wartungsmodus. Ein UBSKM-Sprecher nennt als Grund einen »Serverwechsel«.
Die Erkenntnis des Spiegel-Artikels begrenzt sich auf das Thema ritueller Missbrauch. Aber das Grundproblem von Strukturen, die für hilfesuchende Patienten und unschuldig Beschuldigte schädlich sind, gibt es nicht nur bei rituellem Missbrauch, sondern auch bei sexuellem Missbrauch von Kindern.
Das analoge Problem im Bereich sexueller Missbrauch von Kindern
Sexueller Missbrauch gilt als so zerstörerisch, dass es für jedes Problem und jedes persönliche Versagen, jeden ausgebliebenen Erfolg, mit dem man hadert, mit einem Schlag eine vermeintlich überzeugende Erklärung gibt, die von persönlicher Verantwortung entlastet, Aufmerksamkeit und soziale Unterstützung sichert, einen verbesserten Zugang zu Behandlungsresourcen verspricht und zu Schadensersatz-, Anerkennungs- oder Ausgleichszahlungen führen kann.
Tatsächlich bleiben 40% der Betroffenen symptomlos. Sexuelle Handlungen sind für Kinder nicht per se giftig und auch tatsächliche sexuelle Übergriffe und Missbrauchstaten töten noch lange keine Kinderseelen ab.
Die Rede von „Seelenmord“ ist für Betroffene von sexuellem Missbrauch ebenso schädlich wie die Terminologie „Überlebende“, ein Begriff der ursprünglich für Überlebende von Konzentrationslagern reserviert war, von denen tatsächlich nur einige wenige einzelne je hundert oder tausend überlebt haben. Der Normalfall einer Internierung im Konzentrationslager war, dass man danach tot war. Der Normalfall, wenn man einen sexuellen Missbrauch erlitten hat, ist, dass man danach noch am Leben ist. Wenn es sich als einer der besten Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen herauskristallisiert hat, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen und Optimismus beizubehalten, ist die Selbstkonzeption als „Überlebender“ kaum sinnvoll.
Wesentlich für eine Schädigung durch gleich welche Misshandlungsform ist der Schweregrad, die Intensität und die Dauerhaftigkeit der Belastung. Wer ständig angeschrien, schikaniert und herabgesetzt wird, hat dadurch eine furchtbare Belastung, die in der Regel auch nachwirkt. Wer ständig verprügelt wird ebenso. Wer ständig missbraucht wird auch. Wer als Kind irgendwann einmal angeschrien wurde oder irgendwann einmal eine Ohrfeige eingefangen hat, weil die Eltern die Nerven verloren haben, hat allein deshalb noch lange kein Trauma oder Behandlungsbedarf. Ebenso wenig ist das der Fall, wenn man als Kind irgendwann einmal aus sexuellen Motiven am Penis berührt wurde.
Wenn etwas aus eigener Perspektive im Grunde eher Unbedeutendes von Dritten auf monströse Dimensionen aufgeblasen wird und im Kopf des Betroffenen nachträglich diese monströse Dimensionen annimmt, ist das für den Betroffenen weit schädlicher als die ursprüngliche Handlung.
Wenn jemand wegen psychischer Probleme Hilfe sucht und der Therapeut mit der Ursachenforschung sofort aufhört, wenn irgend etwas Sexuelles in der kindlichen Vergangenheit entdeckt wird, dann ist die wahrscheinliche Folge eine Fehlbehandlung mit ausbleibendem Therapieerfolg, vielleicht aber sogar eine unbeabsichtigte Schädigung des Patienten indem ein zusätzliches Trauma erzeugt wird, das vorher schlicht nicht vorhanden war.
Neben „normal guten“ Therapeuten, die sich durch den Zeitgeist zum Schaden ihres Patienten auf eine falsche Fährte führen lassen, gibt es aber auch „Spezialisten“, die sehr an die Therapeuten von „rituellem Missbrauch“ erinnern.
Etwas abgewandelt:
Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.
Wenn eine Therapie dazu führt, dass es dem Patienten schlechter geht statt besser, ist das ein klares Warnsignal. Vielen Patienten ergeht es so. Sie werden dann damit beruhigt, dass er normal sei, dass es ihnen „vorübergehend“ erst mal schlechter gehe.
Wenn man jemandem erst mühselig beibringen muss (wie es bei 65% der betroffenen dänischen Jungen aus Sicht mancher „Kinderschützer“ wohl nötig wäre), dass er geschädigt wurde, ist das aus meiner Sicht eine offensichtliche Fehlbehandlung.
Eine Besonderheit gibt es noch, wenn es um pädophile Täterstrukturen geht: Die sexuelle Gewalt ist dort eingebunden in ein Fürsorgeverhalten. Da geht es oft um Kinder, die vorher schon einen großen Mangel an elterlicher Zuwendung erlebt haben. Dann kommt zum Beispiel ein Stiefvater und gibt dem Kind, was es eigentlich braucht: Liebe, Zuwendung und Zeit. Danach hat der Täter leichtes Spiel, das Kind zu manipulieren und seine Wahrnehmung zu beeinflussen. Er zeigt ihm einen Film mit einem Kind, das einen Mann befriedigt, und sagt ihm, das dürfe es auch mal machen, das sei aber ein Geheimnis. Das Kind ist völlig verwirrt, zweifelt an der eigenen Wahrnehmung. Es wird immer weiter desensibilisiert. Und schließlich geht die Initiative sogar vom Kind aus, um den Wünschen und Erwartungen des Täters zu entsprechen. Das verstärkt am Ende die Schuldgefühle des Kindes.
Die Behandlung sieht so aus:
Wir helfen dem Kind, eine Sprache zu finden, wie schrecklich es ist. (…) Damit sich ein Kind nicht mehr im Spiegel des Täters oder der Täterin definiert, benötigt es äußere und innere Distanz. Dafür braucht es Bedingungen, sich aus pathologischen Abhängigkeitsbeziehungen zu befreien.
Die Erwartung, dass das Kind einen sexuellen Kontakt furchtbar oder traumatisierend findet, ist aber eine Erwachsenen-Erwartung, die in das Kind hineingelegt wird.
Die klinischen Psychologen S. Burkhardt & A. Rotatori schreiben im Buch „Treatment and Prevention of Childhood Sexual Abuse: A Child-Generated Model“ hierzu:
Aufgrund der moralisch verwerflichen Natur des sexuellen Kindesmissbrauchs haben die Forscher die verständliche Tendenz, die Ängste, Ekel und Schrecken in das kindliche Opfer zu projizieren. (…) In dieser Erwachsenenposition wird die Sicht des Kindes kaum wahrgenommen.
Das Trauma entsteht, wenn dem Kind beigebracht wird, dass es – insbesondere sein Vertrauen – missbraucht wurde. Es wird zum Spiegel der Ängste, des Ekels und Schreckens des Erwachsenen, der ihn behandelt.
Selektive Blindheit
Der ehemalige FBI-Beamte Kenneth V. Lanning ist forensischer Kriminologie mit Spezialschwerpunkt Kindesmissbrauch. Zitat aus der von ihm verfassten, 2010 erschienenen fünften Edition von „Child Molesters: A Behavioral Analysis – For Professionals Investigating the Sexual Exploitation of Children“:
Diese Täter verführen Kinder auf die gleiche Weise wie Erwachsene einander verführen. Diese Technik ist kein großes Geheimnis. Zwischen zwei Erwachsenen oder zwei Teenagern wird sie gewöhnlich als Dating bezeichnet. Früher nannte man es Hofieren. Der Hauptunterschied liegt jedoch in der Diskrepanz zwischen der erwachsenen Autorität des Kindermissbrauchers und der Verletzlichkeit des kindlichen Opfers. (…) Da die Opfer von Beziehungsmissbrauch in der Regel behutsam verführt wurden und sich oft nicht bewusst sind, dass sie Opfer sind, kehren sie wiederholt und freiwillig zum Täter zurück. (..) Manche Opfer sind einfach bereit, Sex gegen Aufmerksamkeit, Zuneigung und Geschenke einzutauschen und glauben nicht, dass sie Opfer sind. Der Sex selbst kann sogar genossen werden. Der Täter behandelt sie vielleicht besser, als sie sonst jemals von jemandem behandelt wurden.
Dass es sich stets nur um Missbrauch handeln kann, ist in solchen Fällen eine dogmatische, ideologische Entscheidung aus „prinzipiellen“ Gründen, die mit den subjektiven und objektiven Interessen der Kinder nichts zu tun haben. Man sieht nicht, was man nicht sehen will.
Gerade weil ich aus prinzipiellen Gründen genital-sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als Herrschaftsverhältnis ablehne, habe ich Schwierigkeiten, Erfahrungen einzuordnen, die für das Gegenteil einer Herrschaftssbeziehung zu stehen scheinen.
Günter Amendt, Nur die Sau rauslassen? in: konkret. Sexualität, H. 2 (1980), S. 23–30, hier S. 23.
Man darf selbstverständlich parteilich für die Anliegen von Betroffenen sein. Es darf einen aber nicht blind machen. Vor allem muss man die Deutungshoheit bei den Betroffenen belassen und sollte ihnen nichts von außen aufstülpen.
Zum Schluss komme ich wieder zurück zu den Opfern emotionaler Gewalt und anderer Gewaltformen. Diese profitieren besonders von Personen, die ihnen einen Ausgleich bieten können. Jemand, der zugewandt ist und sich kümmert ist ein wichtiger prognostischer Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sich ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird:
„One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.
Liebe, Zuwendung und Zeit, Fürsorgeverhalten, Sex, der genossen wird, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Geschenke. Das hört sich für mich nach etwas an, von dem man profitieren kann.
Ist die Prognose eines Kindes, das mit Belastungsfaktoren wie emotionaler Misshandlung, Vernachlässigung und/oder körperlichen Gewalterfahrungen zu kämpfen hat und zusätzlich „sexuelle Gewalt“ im Sinne von Fürsorgeverhalten, Liebe, Zuwendung, gutem Sex, Aufmerksamkeit und Zuneigung erfährt, besser oder schlechter als die eines Kindes, das nur emotionale Misshandlung, Vernachlässigung und/oder körperlichen Gewalterfahrungen erlebt?
Ist die „Sexuelle Gewalt“ in diesem Sinne wirklich eine Belastung oder ist die Beziehung zu einem zugewandten Menschen, mit dem man zugleich auch positive sexuelle Erlebnisse hat, etwas, das einem gut tut, das einen stärker macht und das externe Belastungssituation bewältigen hilft?
Es gibt inzwischen viele Studien zu belastenden Kindheitserfahrungen (ACE Studies – Adverse Childhood Experiences) in denen die späteren Folgen von Erfahrungen wie körperlicher Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Misshandlung, körperliche Vernachlässigung, emotionale Vernachlässigung, Kontakt mit häuslicher Gewalt, Suchtmittelmissbrauch im Haushalt, psychische Erkrankungen im Haushalt, Trennung oder Scheidung der Eltern, inhaftierte Haushaltsmitglieder usw. als Belastungsfaktoren von Kindern untersucht werden. Wie auch im Fall der Studie, die im Artikel von Tagesschau.de vorgestellt wurde, wirkt sich in der Regel emotionaler Missbrauch am negativsten aus. Sexueller Missbrauch liegt im Mittelfeld der Belastungsfaktoren.
In der Schublade „Sexueller Missbrauch“ liegen dabei aber stets alle sexuellen Kontakte, egal ob gewollt oder ungewollt, vom Kind als Missbrauch empfunden oder nicht. Würde man hier differenzieren und zwischen willentlich gewollten und ungewollten Kontakten unterscheiden, dann wäre zu erwarten, dass die Fälle mit ungewolltem Kontakt auf der Schädlichkeitsskala der Belastungsfaktoren relativ gesehen nach oben rutschen. Bei gewollten, also nicht als Missbrauch empfundenen Kontakten wäre das Gegenteil zu erwarten. Ich halte es sogar für durchaus möglich, dass sich herausstellen könnte, dass es sich tatsächlich gar nicht um belastende Kindheitserfahrungen handelt, sondern um stärkende (PACE – Positive Childhood Experience).
Der Wille, Studien so zu gestalten, dass sie diese Fragen klären können, fehlt. Man will es anscheinend lieber gar nicht so genau wissen. Das Kindeswohl ist nicht mehr ganz so wichtig, wenn es sich falsch anfühlt, eine bestimmte Fragestellung zu untersuchen. Womit wir wieder beim systematischen Versagen wären.
Kurz nachdem am 5. Januar 2022 mit dem Grünen-Politiker Sven Lehmann erstmals ein Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ernannt wurde, habe ich ihn angeschrieben.
ich wende mich an Sie in Ihrer Rolle als Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.
Ich möchte Sie darum bitten, ihr Augenmerk auch auf eine Gruppe zu richten, die nicht zur Queer-Bewegung gehört, die aber sehr große Probleme mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hat. Gemeint ist die Gruppe hebephiler und pädophiler Menschen.
Es geht mir dabei in keiner Weise darum, Rechte auf Kosten anderer einfordern zu wollen. Die eigene sexuelle Selbstbestimmung endet immer da, wo die sexuelle Selbstbestimmung eines anderen Menschen beginnt. Das eigentliche Problem von Pädophilen und Hebephilen ist aber nicht, dass sie auf gelebte Sexualität mit einem Menschen ihrer sexuellen Präferenz verzichten müssen, sondern der blanke Hass aufgrund der Neigung an sich.
Mein Schreiben ging insgesamt über fast acht A4 Seiten – natürlich viel zu lang, weil ich es leider nicht anders hinbekomme, aber auch sehr gut belegt und so gut erklärt, wie ich es eben vermag. Beantwortet wurde es nicht.
Ich weiß auch, dass andere Aktivisten wie die Gruppe, die den Blog „Kinder im Herzen“ (KiH) veröffentlicht, Herrn Lehmann angeschrieben haben. Sie haben es geschafft sich dabei auf etwa zwei A4 Seiten zu beschränken. Aber auch sie haben trotz mehrfacher Nachfragen keine Antwort erhalten.
Vor einigen Tagen wurde nun das Werk des Beauftragten, der Aktionsplan „Queer leben“ für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt der Bundesregierung vorgestellt. Er wird als „deutliches Signal für die Anerkennung von Vielfalt“ gefeiert. Einleitend heißt es:
Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben. Damit dies auch für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie andere queere Menschen (LSBTIQ*) möglich ist, sieht sich die Bundesregierung in der Verantwortung für eine aktive Politik gegen Diskriminierung und für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Um Queerfeindlichkeit entgegenzuwirken, verabschiedet die Bundesregierung folgenden bundesweiten Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Er enthält Empfehlungen für Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern (Rechtliche Anerkennung, Teilhabe, Sicherheit, Gesundheit, Stärkung von Beratungs- und Communitystrukturen, Internationales).
Danach wird auf 14 Seiten das politische Programm der kommenden Jahre dargelegt. Zur Situation von Pädophilien und Hebephilen findet sich: nichts.
Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben. Außer sie sind pädophil oder hebephil. Da tut man lieber nichts dafür, dass das Versprechen an alle Menschen für diese Menschen Realität wird. Es erinnert an die „Farm der Tiere“ von George Orwell:
Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen.
Ein queerer Aktivist wie Jens Lehmann kann sich nicht auf Unwissenheit berufen. Er weiß, um was es geht, in einer milden Ausprägung auch aus eigener Anschauung. Was er nicht wissen kann, wurde ihm von verschiedenen Seiten erklärt. Es war ihm keine Antwort wert.
Zu ihrem eigenen Wohl werden von den LGBTQ+ Aktivisten alle Menschen unter dem Regenbogen versammelt, von wo aus sie dann die Akzeptanz und Solidarität für sich einfordern, die sie selbst anderen wider besseren Wissens verweigern.
Das Ganze ist erbärmlich und ermüdend.
Aktuell empört sich Deutschland über das Verbot der „One Love“ Kapitänsbinde bei der Fifa Weltmeisterschaft in Katar. Ich kann die Empörung nicht mitfühlen.
Das eigentliche Problem ist für mich ohnehin nicht, dass die sieben nationalen europäischen Verbände letztlich einen Rückzieher gemacht haben und die LGBTQ+ Kapitänsbinde nicht tragen werden, sondern dass es in ganz Europa überhaupt nur einen einzigen aktiven Profifußballer gibt, der sich getraut hat, sich als schwul zu outen: der 17-jährige Jake Daniel vom FC Blackpool in England hat sich im Mai 2022 geoutet.
Solange es in den Profiligen von Deutschland, Wales, Belgien, Dänemark, der Niederlande und der Schweiz keine gelebte Kultur gibt, die es einem Profispieler erlaubt hat, sich zu outen, wirkt es für mich heuchlerisch sich (im vermeintlich krassen Gegensatz zur Fifa) als ach so aufgeklärt und inklusiv präsentieren zu wollen. Gut scheinen wollen reicht nicht!
Im Spiegel erschien heute ein Interview mit Nas Mohamed aus Katar („Den Menschen ist nicht bewußt, welchr Hass uns uns in Katar entgegenschlägt“). Mohamed flüchtete sich 2015 in die USA, wo ihm seit 2017 aufgrund seiner sexuellen Orientierung Asyl gewährt wird. Er hat sich im Mai 2022 als erster Bürger von Katar als schwul geoutet.
Mein wenig mitfühlender erster Gedanke dazu war: Na und?
Es macht sich auch niemand bewusst, welcher Hass Menschen wie mir in Deutschland entgegenschlägt. Wohin könnte ich vor der Verfolgung wegen meiner sexuellen Orientierung flüchten? In welchem Land wäre es denkbar, dass ich mich outen könnte, ohne deshalb mit Belästigungen, Drohungen und körperlichen Angriffen rechnen zu müssen?
Wenn ich die Einzelheiten der geschilderten Verfolgungssituation in Katar objektiv bewerte, muss ich einräumen, dass sie über das, was man als Pädophiler oder Hebephiler in Deutschland erlebt, hinausgehen. Aber Nas Mohamed kann seit fünf Jahren unbehelligt in den USA leben und lieben. Das macht ihn aus meiner Sicht zu einem Privilegierten. Und auch die in Katar und vergleichbaren Staaten tatsächlich noch Verfolgten haben diese Perspektive. Für Menschen wie mich gibt es eine analoge Perspektive nicht.
Diejenigen, die selbst Diskriminierung oder sogar Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus erster Hand erfahren haben, kümmert meine Not nicht. Warum soll mich dann ihre Not kümmern?
Ich war als Jugendlicher und Heranwachsender einige Jahre suizidgefährdet.
Ursächlich waren Probleme, die im Zusammenhang mit meiner sexuellen Neigung standen, wie ein Verliebtsein aus der Ferne und ohne Hoffnung, die Ächtung von Pädophilie in der Gesellschaft und die Angst, die Menschen zu verlieren, die mich lieben, wenn sie erfahren, wer ich wirklich bin.
Ich habe in diesen Jahren keine Hilfe gesucht. Es wäre gut gewesen, wenn es damals Angebote für mich gegeben hätte, aber auch wenn es sie gegeben hätte, hätte ich die Angebote vermutlich nicht genutzt, wenn der Zugang nur mit der Auslieferung meiner Identität – und damit meines Schicksals – an einen Dritten möglich gewesen wäre.
Ich habe allerdings einmal einen Kontaktaufnahmeversuch gestartet. Damals war ich bereits nicht mehr suizidal, sondern „nur noch“ depressiv. Ich hatte die Adresse einer Beratungsstelle in einem Buch gefunden. Dort stand auch die zugehörige Telefonnummer, aber anrufen kam für mich nicht in Frage. Die Gefahr einer Identifizierbarkeit mit unkalkulierbaren Folgen war mir bei einem Anruf einfach zu groß. Also bin ich hingefahren. Die Beratungsstelle war in einer etwas weiter entfernten Großstadt. Als ich nach mehreren Stunden dort angekommen bin, musste ich feststellen, dass sie zu war. Sie war regulär (ohne Terminvereinbarung) nur zwei Tage in der Woche für ein paar Stunden geöffnet. Ich war am falschen Tag und zur falschen Uhrzeit dort. Ich bin also wieder nach Hause gefahren. Ich habe keinen zweiten Versuch unternommen. Etwas später habe ich dann allerdings Boychat entdeckt, eine englischsprachige Online-Community, die für mich als eine Art Selbsthilfegruppe funktioniert hat.
Mit der Neigung Pädophilie / Hebephilie sind sehr häufig erhebliche schädliche psychische Gesundheitswirkungen verbunden und entsprechend ist der Bedarf an psychologischer oder psychotherapeutischer Unterstützung riesig. Das Angebot ist demgegenüber völlig unzureichend.
Anfang Juli wurde ich von der Masterandin kontaktiert, die fragte, ob ich bereit wäre auf meinem Blog den Link zu einer wissenschaftlichen Studie zu teilen. Untersucht werden die Gründe für den Abbruch einer Psychotherapie bei Menschen mit Pädophilie und/oder Hebephilie.
Ich habe die Anfrage aufgrund meiner Vorurteile zunächst ignoriert, weil ich davon ausgegangen bin, dass es um Therapien im Sinne von „Kein Täter werden“ geht und sich die Studie auf die Psychotherapie zum Management von Pädophilen als Gefahr für Kinder konzentriert. So etwas wollte ich lieber nicht unterstützen, da es den Pädophilen und seiner Würde als Mensch nicht gerecht wird.
Durch eine Nachfrage der Wissenschaftlerin und einen Austausch mit ihr stellte sich dann allerdings heraus, dass ich vorschnell geurteilt hatte und es auch um allgemeine Psychotherapien geht, bei denen die Neigung thematisiert wurde und den Patienten z.B. im Umgang mit Stigmatisierung, Depressionen und suizidalen Gedanken geholfen werden soll.
Aufgrund dieser breiteren Ausrichtung haben sich meine Bedenken erledigt. Die Forschung kann vielleicht dazu beitragen, die therapeutischen Angebote zu verbessern. Das wäre sehr wichtig. Hier also der Aufruf zur Teilnahme an der Studie:
Sehr geehrte Besucher:innen dieses Blogs,
im Rahmen meiner Masterarbeit an der Technischen Universität Chemnitz suche ich Teilnehmer:innen für meine Studie, welche die individuellen Gründe für den Abbruch einer Psychotherapie bei Menschen, die sich als pädophil und/oder hebephil wahrnehmen, untersucht.
Dafür führe ich eine Online-Umfrage durch. Das Ziel ist es, individuelle Gründe und Umstände für einen Psychotherapieabbruch besser zu verstehen und Psychotherapieangebote auf die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen, um ihnen besser helfen zu können.
Teilnehmen können alle über 18-jährigen Personen, die sich selbst als pädophil und/oder hebephil einschätzen und die schon einmal eine Psychotherapie, in der ihre sexuelle Präferenz thematisiert wurde, vorzeitig abgebrochen haben. Auch teilnehmen können Personen, bei denen diese Psychotherapie durch den oder die Therapeut:in vorzeitig abgebrochen wurde.
Ihr individuelles Feedback zu den Gründen für Psychotherapieabbrüche ist für Forschung und Praxis höchst wertvoll und daher würde ich mich freuen, wenn Sie an der Umfrage teilnehmen würden. Über diesen Link gelangen Sie zu der selbstverständlich anonymen Umfrage:
Hier der aktuelle Newsletter der Seite „Gegen das Puppenverbot“:
Es soweit: unsere Verfassungsbeschwerden wurden fristgerecht beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht!
Warum die Mehrzahl? Vor Gericht kann man nur mit seinem vollen bürgerlichen Namen für seine Rechte eintreten. Für viele Betroffene ist das eine unüberwindliche Hürde. Die Angst vor den möglichen sozialen Folgen der Erkennbarkeit ist einfach zu groß. Trotzdem haben wir zwei Beschwerdeführer gefunden, die bereit waren, diese Hürde zu überspringen. Wir haben dadurch aus der jeweiligen Perspektive des Beschwerdeführers zwei inhaltlich eng verwandte Verfassungsbeschwerden auf den Weg bringen können. Dies zeigt dem Gericht einerseits, dass die Grundrechtsverletzung eine Vielzahl von Personen betrifft, es sichert den Verfahrensverlauf aber auch prozessual besser ab. Wir danken den Beschwerdeführern für ihren persönlichen Einsatz, ohne den eine Verfassungsbeschwerde nicht möglich gewesen wäre.
Um eine professionelle juristische Betreuung finanzieren zu können, waren wir auf Spenden angewiesen. Es ist ein fünfstelliger Betrag im unterem Bereich zusammengekommen, der vor allem von einer Einzelperson aufgebracht wurde, die anonym bleiben möchte. Geld zu sammeln alleine reicht nicht: Man muss es auch ausgeben können, was letztlich nur mit Abstrichen bei der Anonymität möglich ist. Auch hier hat uns eine Einzelperson weitergeholfen, die uns in die Lage versetzt hat, die notwendigen Zahlungen zu leisten.
Es gab auch viele weitere Anstrengungen, die für die Arbeit an der Verfassungsbeschwerde von Bedeutung waren, zum Beispiel der Kontakt mit Bürgerrechtsorganisationen und anderen Personen, die sich für Menschenrechte engagieren, die Beobachtung relevanter Veröffentlichungen in den Medien, die Suche nach einer kompetenten anwaltlichen Vertretung, die Recherche wissenschaftlicher Studien, Nachfragen bei Forschern, Anschreiben an Antidiskriminierungsstellen und vieles mehr. Es gab also unglaublich viel Arbeit hinter den Kulissen und viele, die dazu beigetragen haben und denen wir hiermit danken möchten.
Rückblickend haben wir uns vieles einfacher vorgestellt.
Wie es scheint, darf sich niemand für die Interessen und Menschenrechte der pädophilen und hebephilen Menschen in Deutschland einsetzen. Selbst deutsche Menschenrechtsorganisationen haben Angst vor dem Stigma „Pädophilenfreund“. Es gab kaum eine Bürgerrechtsorganisation, die uns überhaupt geantwortet hat. Hochoffiziell helfen wollte uns niemand, obwohl durchaus ein Bewusstsein für die Problematik geweckt werden konnte. Eine Organisation hat es einem ihrer Mitarbeiter erlaubt, uns auf privater Basis in einer Webkonferenz Tipps zur Vorgehensweise zu geben. Eine andere hat dazu beigetragen, dass das Thema „Puppenverbot“ im Grundrechte-Report 2022, einem gemeinsamen „alternativen Verfassungsschutzbericht“ von zehn Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, aufgegriffen wurde.
Fast noch schwieriger und zeitweise regelrecht zermürbend war die Suche nach einem Anwalt. Wir hätten uns nie vorstellen können, dass es so schwierig werden würde, die nötige professionelle juristische Unterstützung zu finden. Wir mussten mit großer Beharrlichkeit an sehr, sehr viele Türen klopfen. Es war uns dabei wichtig, keine faulen Kompromisse in Hinblick auf die Qualifikation zu machen. Mit der Lösung, die wir am Ende dann doch noch gefunden haben, sind wir sehr glücklich. Wir hätten uns keine bessere juristische Betreuung wünschen können.
Zwar glauben wir, hervorragende Argumente zusammengetragen und vorgebracht zu haben die uns gute Erfolgsaussichten bescheren, aber das bedeutet mitnichten, dass wir nun auch fest mit einem Erfolg der Verfassungsbeschwerden rechnen dürfen. Denn das glauben andere Beschwerdeführer sicherlich genauso und werden am Ende fast immer enttäuscht. Das Verfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber aus Respekt vor dem Prinzip der Gewaltenteilung generell viel Spielraum und schreitet im Grunde nur ein, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Die Erfolgsaussichten vor dem Verfassungsgericht sind grundsätzlich gering. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kann die Annahme einer Verfassungsbeschwerde ohne Angabe von Gründen ablehnen. Das BVerfG hat im letzten Jahr 5.352 Eingänge verzeichnet, wovon 95 Prozent Verfassungsbeschwerden waren. Lediglich 67 davon waren erfolgreich. Damit lag die Erfolgsquote nur bei 1,29 Prozent, was den zweitniedrigsten Wert nach 1997 mit 0,97 Prozent ausmacht. (Quelle der Zahlen LTO vom 23. Februar 2022).
Falls die Verfassungsbeschwerden durch Nicht-Annahme „erledigt“ werden, wissen wir in einigen Monaten Bescheid und können dann entscheiden, ob wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anrufen. Falls die Beschwerden zur Entscheidung angenommen werden sollten, ist mit einer Prozessdauer von mehreren Jahren zu rechnen. Für Betroffene ist das eine unfassbar lange Zeit. Selbst im günstigsten Fall werden sie noch auf Jahre unter einer brutalen und ungerechten Gesetzgebung leiden.
Trotzdem und völlig egal wie die Sache enden mag:
Wir haben ein Signal gesendet. Ein Signal an diejenigen, die meinen Menschenrechte mit Füßen treten zu können solange es die Menschenrechte von Pädophilen und Hebephilen sind. Wir leisten Widerstand und wehren uns! Und das ist zugleich auch unser Signal an alle Pädophilen und Hebephilen: So schwierig es auch sein mag, wir können zusammenstehen und uns wehren. Zusammen schaffen wir es! Wir sind dabei auch nicht völlig allein. Man muss sie suchen und dabei Ausdauer beweisen, aber es gibt sie: Andere Menschen, die sich des gewaltigen Stigmas rund um Pädophilie und den Kontakt mit Pädophilen bewusst sind und trotzdem bereit sind, sich für eine als gerecht erkannte Sache einsetzen.
Jeder Anfang ist schwer. Aber wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ schreibt: „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Mehr als ein Jahr haben wir intensiv auf diesen Tag hingearbeitet. Eine Arbeit voller Höhen und Tiefen. Wir haben eine Stufe bewältigt. Wir sind bereit für weitere.
Etwas Sorge macht die Entwicklung in Österreich. Dort arbeiten Gruppen daran, dass das „Kindersexpuppen-Verbot“ aus Deutschland übernommen wird. Wir werden jeden unterstützen, der gegen das drohende Verbot vorgeht. Ihr müsst nicht bei Null anfangen. Kontaktiert uns (team@gegen-das-puppenverbot.de). Wir stehen an Eurer Seite!
Auch darüber hinaus möchten wir alle ermutigen: Es ist schwierig aber nicht unmöglich etwas zu tun, sich zu wehren, sich Gehör zu verschaffen. Helft einander, habt Hoffnung und haltet durch, auch wenn es Fehlschläge und Enttäuschungen auf dem Weg gibt. Aus eigener Erfahrung: Wer sich auf den Weg macht kann auch irgendwann zurückschauen und stolz sein.
Der Film „Petite nature“ (Alternativtitel: „Softie“) ist autobiographisch und erzählt von der Kindheit des Regisseurs Samuel Theis, der 2014 in Cannes mit seinem Erstlingswerk „Party Girl“ die Goldene Kamera gewann.
Hier die besagte Filmbesprechung:
Der Zehnjährige, der seinen Lehrer verführte
Der französische Regisseur Samuel Theis macht die eigene Familie zum Thema – für seinen neuen Film musste er einen Buben finden, der heikle Szenen spielt.
Der Knabe zieht sich aus, Shirt, Hose, langsam und lasziv. Sein Lehrer, in dessen Wohnung sich die Szene abspielt, will ihn stoppen. Doch der Schüler lässt sich nicht abhalten. Er ist zehn Jahre alt.
Natürlich ist das eine heikle Szene. Das weiss auch Samuel Theis, der sie für seinen Film «Petite nature» erfunden hat. Erfunden? «Der Film basiert, wie alles, was ich tue, auf meinen eigenen Erinnerungen», sagt der 43-Jährige.
Die Mutter war das «Party Girl»
Samuel Theis wurde mit «Party Girl» bekannt. Im Zentrum des Films stand seine Mutter, die an der deutsch-französischen Grenze in einem Cabaret als Animierdame arbeitete und eines Tages beschloss, zu heiraten. Gespielt wurde sie nicht etwa von einer Schauspielerin, die richtige Mama trat selbst auf, genau wie die übrigen Mitglieder der Familie. Der Film wurde 2014 zum Überraschungserfolg in Cannes und gewann zahlreiche Preise.
Die Mutter kommt jetzt in «Petite nature» wieder vor. Allerdings in einer viel jüngeren Version, gespielt wird sie von Mélissa Olexa, die der Regisseur in einem Supermarkt entdeckt hat. Und das Alter Ego des Regisseurs heisst Johnny und ist zehn Jahre alt. Die Familie führt ein turbulentes Leben, sobald die Mama von einem Lover rausgeschmissen wird, zieht sie mit Sack und Pack, drei Kindern und zwei Goldfischen wieder um.
«Das alles ist von meiner Kindheit inspiriert. Aber ich habe mir mehr Freiheiten genommen als beim ersten Mal», sagt Samuel Theis. Er habe vermeiden wollen, einen nostalgischen Film über die 80er-Jahre zu drehen. «Petite nature» spielt im Nordwesten Frankreichs, in der heutigen Zeit. Dazu musste der Regisseur eine zeitgemässe Version seiner selbst finden. Aber nicht nur das. Gefragt waren auch Eltern, die einwilligten, ihren Sohn heikle Szenen spielen zu lassen.
Aliocha Reinert heisst der junge Mann mit dem Engelsgesicht. Er ist phänomenal: Manchmal noch ein Kleinkind, wenn er sich an die Mama kuschelt im Bett. Dann ein Pubertierender, wenn er einen Wutausbruch hat, weil sich die Familie keine richtige Cola leisten kann. Und plötzlich ein blonder Verführer, der imitiert, was er bei den Erwachsenen gesehen hat. Und so den Lehrer, gespielt von einem Profi, aus der Fassung bringt.
AC/DC waren dann doch zu teuer
Diese Geschichte ist ein Balanceakt, sie könnte immer die schlimmstmögliche Wendung nehmen. Aber sie bleibt wundersam fragil und nüchtern. Ohne je banal zu erscheinen.
Nur am Ende scheint sich der Regisseur einen kleinen Anflug von Nostalgie zu gönnen. Der Zehnjährige tanzt zu einem Rockklassiker. Aber Samuel Theis widerspricht: Er habe dem Knaben gesagt, er solle ein Stück mitbringen, zu dem er gern tanzen würde. Dieser sei zu seinem Erstaunen nicht mit aktueller Musik aufgekreuzt, sondern habe «Thunderstruck» mitgebracht.
Das habe sich die Filmproduktion nicht leisten können, Musik von AC/DC kostet 60’000 Euro pro Minute. Deshalb erklingt jetzt das etwas preiswertere «Child in Time» von Deep Purple. Ein perfekter Abschluss für einen packenden Film.
Samuel Theis scheint schwul oder bisexuell zu sein. Sein Film wird auch als schwuler Coming-of-age film besprochen. Es geht ihm mit dem Film aber nicht um sexuelles Erwachen, sondern um ein intellektuelles Erwachen. In einem Interview äußert er sich wie folgt (eigene Übersetzung):
Cineuropa: Was war Ihre Motivation für Softie : einen weiteren Film in Forbach, Ihrer Heimatstadt, über eine soziale Schicht zu drehen, die Sie bestens kennen, oder das Porträt eines Jungen an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend?
Samuel Theis: Dass dies in Forbach gedreht wird, war für mich klar, weil das Porträtieren dieses Kindes auch eine Möglichkeit ist, Erinnerungen an ein selbst erlebtes Erlebnis aufzufrischen und ein Alter darzustellen, das ich für das Kino hochinteressant finde, weil es wirklich die Schwelle zum Teenageralter ist. Fiilmaufnahmen in Frankreich mit einem Kind zu planen ist komplex, weil das Gesetz vorschreibt, dass wir nur vier Stunden pro Tag drehen dürfen. Aber ich wollte über dieses Alter sprechen und über die Erkenntnis, die ich mit 10 hatte, von der Gewalt meiner sozialen Herkunft und von dem tiefen inneren Wissen, dass ich mein Leben dort nicht verbringen würde, dass ich gehen würde und dass ich daher meiner Familie den Rücken kehren würde. In diesem Alter ist es eine Herausforderung, das zu verstehen! Dieser Film ist das Porträt eines Kindes, aber vor allem geht es um die Frage der Abkehr von der eigenen Klasse.
Die Figur des Johnny, mitten in einem Lebensabschnitt, in dem es um das Erwachen, das Verlangen und die Neugier geht, trifft mit seinem Lehrer einen Meister. Welche Art von Blick wollten Sie auf die Bildung werfen?
Er repräsentiert die Figur des Mentors. Wir alle haben Meister, eine Person, auf die wir projizieren wollen. Das geschieht immer dann, wenn der Erwachsene zuerst einen Blick auf das Kind wirft, den Blick von jemandem, der an uns glaubt, der unser Potenzial sieht und es zeigt. Diese Begegnungen sind entscheidend, vor allem auf dem Weg des sozialen Übertritts. Bildung als Institution ist bedenklich, denn ich weiß nicht, ob das, was wir Chancengleichheit nennen, tatsächlich existiert, aber für mich war es die Schule, die mich durchgebracht hat. Das Ganze ist ambivalent, komplex, nuanciert.
Dieses Verlangen, diese Neugierde, ist auch ein eher verschwommenes Verlangen nach Liebe, das seine Grenzen hat. Sie zögern in der Tat nicht, das recht heikle Thema des sexuellen Erwachens anzusprechen.
Einen Film über ein Kind zu machen, bedeutet, einen Film über Anfänge zu machen, und ich wollte mich nicht mit dem intellektuellen Erwachen begnügen. Ich stütze mich auf eine persönliche Erfahrung und ich glaube nicht, dass der Film die Sexualität mit 10 Jahren thematisiert, und natürlich ist es von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Das waren Umwälzungen in meinem Kopf, und es hat lange gedauert, bis ich sie entschlüsselt hatte. Mein Wunsch war es zu zeigen, dass das Begehren, was auch immer es sein mag, immer vielfältig ist, dass verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen miteinander kommunizieren. Denn woraus besteht unser sexuelles Begehren? Es ist nicht nur die Chemie zwischen zwei Menschen, es gibt auch eine intellektuelle Komponente und eine mentale Konstruktion. Ich habe oft Menschen begehrt, die mir helfen konnten, sozial aufzusteigen. Aber es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen in dem Film in diesen Fragen untadelig sind. Das Kind ist ein Entdecker, und in diesem Alter müssen wir nach unseren Grenzen suchen und experimentieren. Ein Kind geht immer zu weit. Vielleicht war es eine Möglichkeit, erzählerisch alle wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
Der sensible 10-jährige Johnny kümmert sich um seine kleine Schwester und wird von seiner alkoholkranken Mutter mal gelobt, mal geschlagen. Als ein neuer Lehrer die Klasse von Johnny übernimmt, erkennt dieser sein Potential und beginnt ihn zu fördern. Der Junge entwickelt jedoch zu ihm eine Zuneigung, die bald die Grenzen des Erlaubten sprengt. Ergreifend erzählt Regisseur Samuel Theis in seinem neuen Film «Petite nature» von der komplexen Erfahrungswelt eines empfindsamen und zugleich unglaublich mutigen Kindes. Ab dem 7. April läuft er in den Deutschschweizer Kinos. Hermann Kocher hat ihn bereits gesehen. Seine Filmbesprechung:
Der 10-jährige Blondschopf Johnny ragt heraus: Er scheint weder zu seiner taffen, aber zuweilen völlig überforderten Mutter Sonia, noch in die Sozialsiedlung im Nordosten Frankreichs zu passen, in die sie kürzlich umgezogen sind. Mit neugierigem Blick geht der sensible Junge durch die Welt und interessiert sich für Dinge weit über seinem Altershorizont. Als der neue Lehrer Jean die Klasse von Johnny übernimmt, erkennt endlich jemand dessen Potential und beginnt ihn zu fördern. Der Junge fühlt sich bei Jean allerdings so gut aufgehoben, dass seine Zuneigung die Grenzen des Erlaubten schon sehr bald sprengt.
Der Film beginnt mit einem Umzug: Zu Fuss macht sich die Familie des zehnjährigen Jonny «mit Sack und Pack» – im wahrsten Sinne des Wortes – auf den Weg zu einer neuen Wohnung. Vermutlich einmal mehr hat eine Beziehung der Mutter im Chaos geendet. Eine Unterkunft wird in einer Hochhaussiedlung am Rande der lothringischen Kleinstadt Forbach gefunden. Der sensible, mit seinen blonden langen Haaren engelhaft wirkende Johnny passt nicht in das dortige raue Klima. Genauso wenig findet er Halt und Anerkennung im sozial instabilen Milieu seiner Familie. Seine Mutter (der Vater ist abhanden gekommen) sendet widersprüchliche Signale aus. Einmal ist ihr Sohn eine Wucht und ihr Engel, ein anderes Mal schlägt sie ihn. Johnny muss wegen der alkoholischen Exzesse der Mutter Aufgaben übernehmen, die nicht für einen Zehnjährigen gedacht sind. Er betreut die kleine Schwester, macht der Mutter die Haare oder massiert ihr die Beine.
Johnnys Leben nimmt bereits am ersten Schultag am neuen Ort eine unerwartete Wende. Jean Adamsky, sein Lehrer, fragt die Kinder, wo sie sich in zwanzig Jahren sähen. Johnny ist perplex ob dieser Frage und stammelt nur, er werde sich dann wohl um seine kleine Schwester kümmern. Immer mehr gelingt es Jean, Johnny aus der Reserve zu locken. «Glaub an dich!», so lautet sein Appell. Er eröffnet ihm einen Weg zur Poesie, zur Kunst, lässt ihn an seinem privaten Leben teilhaben und zeigt ihm Perspektiven auf. Johnny, an der Grenze zur Pubertät, entwickelt dabei Gefühle für seinen Lehrer, die über eine stille Schwärmerei hinausgehen. Jean, der um seinen Job bangt, ist gezwungen, lautstark Grenzen zu ziehen. Und Johnny muss sich überlegen, was das für ihn und seine Zukunft bedeutet.
Regisseur Samuel Theis hat mit «Petite nature» nach seinem Erstlingswerk «Party girl» (2014) einen überzeugenden zweiten Film vorgelegt, der nach seinen Aussagen viele autobiographische Züge trägt. Die Erzählstruktur ist linear, und doch ist der Film vielschichtig.
Er kann gesehen werden als grossartig inszenierte, aufrüttelnde Milieustudie in einem sozial benachteiligten Umfeld. Der Regisseur hat in einem Interview den Aspekt «Gefühl der sozialen Scham» herausgestrichen, mit dem er selber lange gekämpft habe und das ihn vielleicht zum Filmemacher werden liess. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Film als Emanzipationsgeschichte, als Coming-of-age-Studie des heranwachsenden Johnny zu lesen. Johnny und der Prozess, den dieser durchläuft, werden von Aliocha Reinert mit einer Natürlichkeit und einem Einfühlungsvermögen verkörpert, die grosse Bewunderung hervorrufen. Der facettenreichen Persönlichkeit des Jugendlichen wird der Titel «Softie», unter dem der Film zum Teil lanciert wurde, nicht gerecht. Ein anderer Blick könnte auf die pädagogischen Leistungen Jeans gerichtet werden, einem begnadeten Lehrer, wie man sich wünscht, sie öfters erlebt zu haben.
Am meisten zu diskutieren wird jedoch wohl die Frage geben, was es für einen Lehrer bedeuten kann, mit dem sexuellen Erwachen von anvertrauten Jugendlichen umzugehen. Die im Rahmen von Missbrauchsfällen geführten emotionalen Erörterungen sind hier insofern brisant, als die Avancen nicht vom Lehrer, sondern vom Jugendlichen ausgehen. Ob es dabei um Sexualität im engeren Sinne geht oder einfach darum, auch den Körper dafür einzusetzen, um Zuneigung und Anerkennung zu gewinnen – wie Johnny es bei seiner Mutter erlebt –, ist offen. Für den Lehrer bleibt die Herausforderung, damit umzugehen, dass, wie er sagt, in jeder Klasse ein oder zwei Jugendliche sind, die ihn mehr berühren als andere. Wie viel Nähe, wie viel Distanz braucht es, damit emotionale, soziale oder intellektuelle Entwicklung geschehen kann? Jean gelingt es, die hier notwendigen Grenzen zu ziehen und vielleicht gerade so Johnny die Chance zu geben, sich aus Abhängigkeiten zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen.
Der 10-jährige Johnny wurde vom zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen 11-järigen (heute 14-jährigen) Aliocha Reinert gespielt. Hier ein paar Bilder und der Trailer:
Ich finde es extrem bemerkenswert – und ermutigend ! -, dass ein Film wie dieser heute existieren darf.
Ein Zehnjähriger, der seinen Lehrer verführt, passt so gar nicht zu den gängigen gesellschaftlichen Dogmen. Prof. Klaus Michael Beier vom Projekt „Kein Täter werden“ behauptete z.B. 2007 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung allen Ernstes „Kein Kind möchte Sex mit Erwachsenen haben.“ Das ist sachlich schlicht falsch und Wunschdenken, von jemandem, der es eigentlich besser wissen muss, ist es vielleicht sogar bewusste Täuschung. Über Wahrscheinlichkeiten kann ich keine Aussagen treffen aber die denklogische Unmöglichkeit, als die es gerne hingestellt wird, ist es mitnichten.
Obwohl es sich um ein sehr starkes Tabu handelt, blitzt die in der Realität anzutreffende Möglichkeit in öffentlichen Quellen manchmal auf, z.B. in einem TAZ Artikel („Mein pädophiler Onkel: Bestraft und nicht geläutert„), in dem der Autor ein hartes Urteil über seinen pädophilen Onkel fällt. Er berichtet aber auch:
Der Besuch bei meinem Onkel hat mich viel über meine eigene Sexualität nachdenken lassen. Ich bin schwul und habe schon mit 12 oder 13 Jahren begonnen, mich für Männer zu interessieren. Was hätte ich getan, wenn der Bekannte meines Stiefvaters, dessen Oberarme ich mir gerne anschaute, oder der Vater einer Freundin, an dessen Brustbehaarung ich dachte, wenn ich mich selbst befriedigte, Sex mit mir hätte haben wollen? Ich glaube nicht, dass ich Nein gesagt hätte.
Den Tabu-Status erkennt man auch deutlich an einigen Verbiegungen in der zuletzt zitierten Rezension. Das Kind, das seinen Lehrer verführt, löst dort so viel kognitive Dissonanz aus, dass es auf einmal zum Jugendlichen erklärt wird – weil der sexuelle Wunsch eines Kindes etwas Undenkbares, Unmögliches ist, ganz besonders dann, wenn er sich auf eine erwachsene Person richtet. Nochmal (verkürzt) die entsprechenden Stellen der Rezension bei LGBT Bern:
Der sensible 10-jährige Johnny kümmert sich um seine kleine Schwester und wird von seiner alkoholkranken Mutter mal gelobt, mal geschlagen. Als ein neuer Lehrer die Klasse von Johnny übernimmt, erkennt dieser sein Potential und beginnt ihn zu fördern. Der Junge entwickelt jedoch zu ihm eine Zuneigung, die bald die Grenzen des Erlaubten sprengt. Ergreifend erzählt Regisseur Samuel Theis in seinem neuen Film «Petite nature» von der komplexen Erfahrungswelt eines empfindsamen und zugleich unglaublich mutigen Kindes. (…) Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Film als Emanzipationsgeschichte, als Coming-of-age-Studie des heranwachsenden Johnny zu lesen. Johnny und der Prozess, den dieser durchläuft, werden von Aliocha Reinert mit einer Natürlichkeit und einem Einfühlungsvermögen verkörpert, die grosse Bewunderung hervorrufen. Der facettenreichen Persönlichkeit des Jugendlichen wird der Titel «Softie», unter dem der Film zum Teil lanciert wurde, nicht gerecht. Ein anderer Blick könnte auf die pädagogischen Leistungen Jeans gerichtet werden, einem begnadeten Lehrer, wie man sich wünscht, sie öfters erlebt zu haben. Am meisten zu diskutieren wird jedoch wohl die Frage geben, was es für einen Lehrer bedeuten kann, mit dem sexuellen Erwachen von anvertrauten Jugendlichen umzugehen.
Die Beschreibung eines 10-jährungen als „Jugendlichen“ ist verlogen aber hier wohl eher nicht im böswilligen Sinne einer Täuschungsabsicht, sondern als Ausdruck eines psychologisch bedingten, realitätsverzerrenden Passendmachens zum Weltbild. Es erinnert mich an die Darstellung von 13-jährigen als „junge Männer“ in manchen Boulevardzeitungen, wenn die Kinder ein Verbrechen begangen haben oder die Darstellung von 15/16-jährigen als Kinder, wenn sie Opfer einer Tat geworden sind. Wer den Wunsch nach Sexualität hat, muss – so das falsche, aber dogmatisch für wahr erklärte Bild, das man sich von der Wirklichkeit macht – mindestens Jugendlicher sein. Umgekehrt muss, wer Täter wird, mindestens Jugendlicher, wenn nicht erwachsen sein, denn Täter-sein passt nicht zur Idee kindlicher Unschuld.
Damit ist aber niemandem geholfen. Die Realität stellt uns vor Herausforderungen. Wie gehen wir mit Kindern um, die Täter werden? Wie gehen wir mit Kindern um, die sexuell aktiv sind und die sogar eine Anziehungen zu Erwachsenen haben können? Für Herausforderungen, die man partout nicht sehen will, kann man keine angemessenen Lösung finden, die den Situationen und den Menschen gerecht werden.
Es handelt sich um schädliche kognitive Verzerrungen, wenn man aufgrund eines kulturell-dogmatischen Filters nicht erkennt, dass Kinder auch aggressiv und rücksichtslos sein können und in diesem Sinne einem anderen Menschen gegenüber zum Täter werden können (z.B. Schummeln/Lügen/Betrügen; Wegnehmen/Stehlen; Schubsen/Treten/Beißen/Körperverletzung) oder dass sie sexuelle Wesen sind und sich auch Sexualität wünschen können. Wer die Realität leugnet, findet für reale Probleme schlechtere Lösungen.
Einer der Punkte, der mich am Filmprojekt besonders erstaunt hat, ist, dass nicht am autobiographisch korrekten Alter der Hauptperson herumgedoktert wurde. Basierend auf der Beschreibung wäre der Film bereits sehr gewagt, wenn die Hauptperson nicht 10, sondern 12 wäre. Normalerweise hätte ich eine Verfälschung des Alters auf mindestens 13, eher noch auf 14 Jahre erwartet, um die Geschichte akzeptabel zu machen. Es war dem Regisseur offensichtlich wichtig genug, eine authentische Geschichte zu erzählen und vermutlich hat ihm der Erfolg seines Erstlingswerks auch geholfen, den Mut für diese Authentizität zu finden.
Ebenso bemerkenswert ist für mich die Darstellung des Lehrers:
Er repräsentiert die Mentorfigur. Wir alle haben Meister, eine Person, auf die wir projizieren wollen. Das passiert immer dann, wenn der Erwachsene zuerst einen Blick auf das Kind wirft, den Blick von jemandem, der an uns glaubt, der unser Potenzial sieht und es offenbart. Diese Begegnungen sind entscheidend, besonders auf Reisen des sozialen Klassenabfalls. (…) Mein Wunsch war es zu zeigen, dass Verlangen, was auch immer es sein mag, immer vielfältig ist, dass verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen miteinander kommunizieren. Denn woraus besteht unser sexuelles Verlangen? Es ist nicht nur die Chemie zwischen zwei Menschen, es gibt auch eine intellektuelle Komponente und eine mentale Konstruktion. Ich habe mir oft Menschen gewünscht, die mir helfen könnten, sozial aufzusteigen. Aber es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen im Film in diesen Fragen tadellos sind.
Der Regisseur über seinen Film
Die Einordnung des Regisseurs verdeutlicht eine wichtige Antwort auf die Frage, wie vom Jungen gewollte sexuelle Beziehungen zu einem Mann überhaupt zustande kommen können.
Ich habe vor einiger Zeit eine interessante Passage aus einem Interview mit einem Päderasten gefunden, das 1996 entstand. Zu einer Veröffentlichung kam es nicht. Mutmaßlich lag es an den damals entdeckten Verbrechen von Marc Dutroux, der in den Medien fälschlich als pädophil dargestellt wurde aber tatsächlich nach einhelligem Befund von vier Gutachtern ein gewalttätiger, empfindungsloser, heterosexueller Psychopath war. Hier die relevante Passage:
Das hört sich ein bisschen an, als ob es richtige Freundschaften zwischen Männern und Knaben gibt. Reden Sie sich das nur ein, um Ihre Aktivitäten zu rechtfertigen?
Nein. Sehen Sie, Knaben verteilen ihre Sympathien recht egoistisch. Wenn ein Mann sich um sie bemüht, versucht ihnen zu gefallen, so merken sie das natürlich. Ihnen gefällt das Besondere an dieser Beziehung. Sie registrieren sehr genau den Vorteil der Unverbindlichkeit. Das heißt, dass er sich z.B. bei den Schulaufgaben helfen lassen kann, ohne Rechenschaft über den Erfolg ablegen zu müssen. Er merkt, dass der Mann ihn akzeptieren muss, wie er ist, dass er die Hauptperson ist und dass man sich jedes Mal über sein Erscheinen freut. Der Päderast kann den Jungen zwar in allen möglichen Dingen beraten und ihm einige Wege ebnen, er wird ihn aber nicht für ein Fehlverhalten strafen. All diese Dinge manchen diese „Extrawelt“ für den kleinen Mann durchaus schützenswert und er wird, solange er nicht das Gefühl vermittelt bekommt, dass der Sex eine Bezahlung für diese Annehmlichkeiten ist, keinem davon erzählen. Denn er weiß natürlich, dass die Außenwelt diese Beziehung niemals tolerieren würde. Kinder haben – im Gegensatz zu Erwachsenen – die Gabe, Beziehungen zu rationalisieren. Das heißt, dass der Wert einer Bindung zu einem anderen Menschen sich nicht durch das auszeichnet, was in der Erwachsenenwelt pauschal als Liebe definiert wird. Dieses Gefühl und die damit verbundene Außerkraftsetzung der objektiven Situationsbewertung ist Kindern fremd. Die Kriterien, die einen Jungen veranlassen, sich an einen Erwachsenen zu binden oder auch nicht, sind sehr praktischer Natur. Da sind Musik, der Sport, die Technik, die Bereitschaft zum Spielen, und auch ästhetische Gesichtspunkte wie Aussehen, Lebensart oder Aussprache. Dinge, die durchaus kritisch beleuchtet und berechnend in die Waagschale gelegt werden. Sie sind ständig damit beschäftigt, die Menschen ihres sozialen Umfelds miteinander zu vergleichen und für sich zu bewerten. Und soviel ist sicher: Eltern haben bei dieser Bewertung keinen Bonus zu erwarten, nur weil sie Eltern sind. Diese gehen in der Regel davon aus, dass sie von ihrem Kind aufgrund einer (um es salopp zu sagen) genetischen Programmierung geliebt werden, und die Erwartungshaltung ist entsprechend groß. Das funktioniert aber nur solange, wie das Kind keine Vergleichsmöglichkeiten hat. Die Bindung an eine andere Person kann aber durchaus fester und intensiver sein, wenn das Kind sein soziales Umfeld kennenlernt und der besagte Vergleichsmechanismus in Gang kommt. So etwas wie „Treue aus Tradition“ darf von Kindern nicht erwartet werden. Sie können eine Beziehung von einer Minute auf die andere abbrechen, ohne dass sie damit das geringste Problem haben. Und sie können durchaus mehrere Beziehungen gleichzeitig am Laufen halten. Aber wenn eine Beziehung gegen den Willen getrennt wird, sei es, dass es durch Scheidung den Vater verliert oder eine andere wichtige Bezugsperson nicht mehr erreichbar ist, dann ist das für das Kind die Katastrophe. Wenn die Person, an die sich der Junge bindet, ein pädophiler Päderast ist, so schaukelt sich die Intensität dieser Beziehung fast eigendynamisch hoch. Der Mann versucht, sich den Interessen des Knaben anzupassen, und dieser wiederum entdeckt immer neue positive Seiten an dem Erwachsenen. Ehe es zu ersten Annäherungen sexueller Natur kommt, vergehen meist Monate oder gar Jahre. Wenn es aber soweit ist, hat die Bindung längst den Status einer von beiden Seiten unterschiedlich erlebten, aber auch akzeptierten Bereitschaft zur körperlichen Nähe erreicht.
Es wird angenommen, dass die Sexualität der dominierende Faktor in den Beziehungen zu Knaben ist. Das ist falsch und entsteht aus der Ansicht, dass ein Päderast nichts als den Sex im Kopf hat, wenn er mit Knaben verkehrt. Diese Meinung wiederum ist ein Produkt der Unwissenheit und der falschen Informationen, wenn es um dieses Thema geht. Man hat einfach Angst davor, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, um über dieses Thema zu reden und falsche Vorstellungen grade zu rücken. Wenn ich sage alle, dann meine ich auch die Kinder. Man weiß genau, dass viele Knaben sich eindeutig für die Tolerierung dieser Beziehungen aussprechen würden, auch wenn Sex im Spiel ist. Aber dann wäre unsere ohnehin ratlose Gesellschaft noch unsicherer, weil sie dann entweder akzeptieren müsste, dass diese Freundschaften ein völlig normales menschliches Verhalten sind, oder sie müssten die Kinder für nicht zuständig, unmündig und nicht urteilsfähig befinden. (…) Wenn es Problem in der Schule gibt, reden sie mit mir und nicht mit ihren Eltern darüber. Sie merken, dass ich auf ihr Wesen eingehen kann, weil ich ihr Denken und Fühlen nachvollziehe. Aber nicht weil ich ein guter Psychologe bin, sondern weil mir diese Knaben etwas bedeuten. Weil ich sie als gleichwertig ansehe. Wie üben zusammen oder quatschen einfach über Gott und die Welt. (…) Ich versuche ihnen zu gefallen und sie quittieren es damit, dass sie es auch versuchen. Das merkt man an ihrem Benehmen mir gegenüber. Sie wissen, dass ich Frechheiten oder unehrliches Verhalten nie dulden würde , solange sie bei uns zu Gast sind. Jungen, die in der Schule oder zu Hause nichts als Schwierigkeiten machen, zeigen hier ganz andere Seiten.
Beim Regisseur, der ja einen wichtigen Abschnitt seiner Kindheit autobiographisch verfilmt hat, kam auch eine körperliche Anziehung hinzu, in der sich die homosexuelle Neigung, die bereits vorhanden war, manifestiert hat. Vor allem hat Samuel Theis, als er 10 war, in seinem Lehrer aber jemanden erkannt, der ihn weiter bringen kann. Er hatte auf einmal eine Vergleichsmöglichkeiten zu seiner Familiensituation. Und entschied, sich auf die Reise zu machen, um seine bisherige Welt zu verlassen und eine neue zu gewinnen, auch wenn er dafür seiner Familie den Rücken kehren muss. Dies ist das intellektuelle Erwachen, um das es ihm als Regisseur bei der Verfilmung dieses Abschnitts seines Lebens ging. Der Mann, an den er sich gebunden hat, war ein Mentor. Jemand, der dem Jungen etwas geben, ihn weiterbringen wollte und dazu auch in der Lage war.
Ein in meinem Blog schon oft in die Waagschale geworfenes Zitat:
(Ein ganz wichtiger prognostischer Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sein ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird ist) „One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.
Dies spiegelt sich im Blick des Regisseurs auf Mentoren:
Wir alle haben Meister, eine Person, auf die wir projizieren wollen. Das geschieht immer dann, wenn der Erwachsene zuerst einen Blick auf das Kind wirft, den Blick von jemandem, der an uns glaubt, der unser Potenzial sieht und es zeigt. Diese Begegnungen sind entscheidend, vor allem auf dem Weg des sozialen Übertritts.
Auch die sexuelle Komponente wird von Samuel Theis nicht dämonisiert:
Mein Wunsch war es zu zeigen, dass Verlangen, was auch immer es sein mag, immer vielfältig ist, dass verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen miteinander kommunizieren. Denn woraus besteht unser sexuelles Verlangen? Es ist nicht nur die Chemie zwischen zwei Menschen, es gibt auch eine intellektuelle Komponente und eine mentale Konstruktion. Ich habe mir oft Menschen gewünscht, die mir helfen könnten, sozial aufzusteigen.
Dann allerdings kommt dieser Satz des Regisseurs:
Aber es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen im Film in diesen Fragen tadellos sind.
Auch LGBT Bern greift diesen Aspekt in der Filmrezension auf:
Für den Lehrer bleibt die Herausforderung, damit umzugehen, dass, wie er sagt, in jeder Klasse ein oder zwei Jugendliche sind, die ihn mehr berühren als andere. Wie viel Nähe, wie viel Distanz braucht es, damit emotionale, soziale oder intellektuelle Entwicklung geschehen kann? Jean gelingt es, die hier notwendigen Grenzen zu ziehen und vielleicht gerade so Johnny die Chance zu geben, sich aus Abhängigkeiten zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen.
Es ist von „tadellos“ und „notwendigen Grenzen“ die Rede.
Demgegenüber wird auch eine Natürlichkeit der körperlichen Anziehung dargestellt, wenn davon gesprochen wird, dass in jeder Klasse „ein oder zwei Jugendliche sind, die (den Lehrer) mehr berühren als andere“. (bei LGBT Bern sind mit „Jugendlichen“ Kinder ab 10 gemeint).
Die „notwendigen“ Grenzen stellen sich mir als kulturell notwendig dar, nicht als notwendig im natürlichen Sinne. Der Film scheint einen sehr positiven Blick auf das Mentorenverhältnis zu haben und auch die körperliche Anziehung des Jungen zu seinem Mentor nicht zu verleugnen. Das einseitige, als notwendig gedachte Setzen einer Grenze durch den Mentor bleibt trotzdem Voraussetzung für dessen Tadellosigkeit. Ich finde das zweifelhaft. An der positiven Natur des Mentorenverhältnisses würde sich durch eine Verletzung der gesellschaftlichen Normen substantiell nichts ändern. Bei gegenseitiger körperlicher Anziehung würde das Band dadurch wahrscheinlich sogar stärker werden.
Warum ist dem Regisseur die Tadellosigkeit der Erwachsenen in seinem Film wichtig? Verlässt der Film in Hinblick auf die „Tadellosigkeit“ des Lehrers möglicherweise die autobiographische Basis? Wenn es einfach darum ginge, die tatsächliche Begebenheit zu erzählen müsste die Tadellosigkeit als solche nicht wichtig sein und man müsste auch nicht extra die Tadellosigkeit der Erwachsenen „im Film“ anführen, wenn es sie in dieser Eindeutigkeit auch beim tatsächlichen historischen Geschehen vorgelegen hätte.
Die Einlassung:
Ich stütze mich auf eine persönliche Erfahrung und ich glaube nicht, dass der Film die Sexualität mit 10 Jahren thematisiert, und natürlich ist es von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Das waren Umwälzungen in meinem Kopf, und es hat lange gedauert, bis ich sie entschlüsselt hatte.
hört sich für mich eher so an, als ob doch etwas vorgefallen sein könnte, dass jenseits der gesellschaftlich akzeptierten Grenzen lag und als Missbrauchserfahrung hätte umgedeutet werden können.
Das sehr positive Urteil des Regisseurs über Mentoren spricht für mich gegen eine negative Umdeutung. Falls es den von mir vermuteten Grenzübertritt gab, deutet für mich alles darauf hin, dass er auch in der Rückschau insgesamt neutral oder gar positiv besetzt ist.
War die Tadellosigkeit nötig, um den ohnehin kontroversen Film überhaupt drehen zu können? Oder dient die behauptete Tadellosigkeit dem Schutz seines ehemaligen Lehrers und Mentors vor Verfolgung?
Letztlich ist das alles komplett spekulativ. Es ist durchaus möglich und auch nicht unwahrscheinlich, dass es keine Grenzüberschreitung gab.
Die für wichtig befundene „Tadellosigkeit“ hat mir vor allem vor Augen geführt, wie sehr sich die Zeiten und Sitten ändern können: die klassisch-antike Rechtfertigung für das erotische Verhältnis von Männern zu Jungen war ein Mentorenverhältnis. Heute ist die Rechtfertigung eines Mentorenverhältnisses seine behauptete Asexualität und „Tadellosigkeit“.
Ich habe gerade erfahren, dass am 19. April der niederländische Anthropologe und Soziologe Gert Hekma überraschend verstorben ist. Er wurde 70 Jahre alt. Hekma unterrichtete von 1984 bis 2017 Schwulen- und Lesbenforschung an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Amsterdam. Er befasste sich dabei auch mit der Geschichte der (Homo-)Sexualität. Angeeckt ist er mit seinen Wortmeldungen zu Pädophilie und zu Sadomasochismus. Die niederländische Wikipedia beschreibt ihn als Teil der akademischen Gegenkultur.
Hekma ist der Sohn eines Notars und wuchs im niederländischen Bedum auf. Er war häufiger Besucher der DOK- Schwulendisco und Mitglied der radikalen „Roten Schwuchteln“ (niederländisch: „Rooie Flikkers“). Hekma ist Büchersammler, und hat einen Fetisch für Satin. Er ist ein Fan von Marquis de Sade. De Sade ist nicht nur einer seiner Lieblingsautoren und eine Quelle der Inspiration, Hekma ist auch fasziniert von De Sades Position zu Gewalt, und hat De Sade dazu benutzt, seinen Schülern eine andere Perspektive auf Sexualität und Gewalt zu vermitteln. Hekma setzt sich gegen Männlichkeit, Bevormundung und traditionelle Geschlechterrollen ein.
2007 erhielt er Morddrohungen, nachdem er die Idee unterstützt hatte, ein Boot für Jugendliche bei der Amsterdam Gay Pride einzubauen. Im Jahr 2014 war Hekma Mitbegründer einer Petition an den Obersten Gerichtshof der Niederlande , in der er den Obersten Gerichtshof der Niederlande aufforderte, die Pro-Pädophilie- Vereinigung Vereniging MARTIJN nicht zu verbieten. Seine Unterstützung von MARTIJN führte zu Morddrohungen und einem versuchten Einbruch. Hekma hat erklärt, dass er kein Pädophiler ist. Er und sein Lebensgefährte, Soziologe Mattias Duyves (1953), sind seit mehr als vierzig Jahren zusammen. Sie trafen sich 1977 und heirateten 2007. Beide setzen sich für sexuelle und Beziehungsfreiheit ein.
Hekma war eine für die niederländische Pädo-Szene wichtige Persönlichkeit. Obwohl und vielleicht auch weil er selbst nicht pädophil war. Dass er die niederländische Pädo-Szene / -Bewegung oft unterstützt und verteidigt hat, war das Ergebnis seiner den Menschen verpflichteten Moral im Gegensatz zu einer den Fesseln der Sittlichkeit verpflichteten Moral, für die es kein Problem ist, wenn dafür Menschen unter die Räder kommen.
Er war ein kluger Denker, der sich sowohl für Kinder und Jugendliche und ihr Recht auf Sexualität als auch für Pädophile eingesetzt hat. Jemand, der sich dem erheblichen Druck, den es in späteren Jahren auf ihn gab, nicht gebeugt hat, weil er den toxischen Moralismus hinter dem Druck erkannt hat und Solidarität für moralisch geboten hielt.
Auf der Seite Brongersma.info findet man 104 Artikel, wenn man seinen Namen als Suchparameter angibt. Es handelt sich vor allem um Artikel von ihm oder Interviews mit ihm, die im Laufe der Jahrzehnte veröffentlicht wurden und mit Pädosexualität zu tun haben.
Ich habe das erste mal etwas über Gert Hekma gelesen, als über das 2007 geplante Boot für Jugendliche auf der Amsterdam Gay Pride berichtet wurde. Das Projekt für das Boot entstand aus der Initiative eines 14-jährigen schwulen Jungen. Da das Schutzalter in der Niederlande seit 2002 bei 16 Jahren liegt, wollten viele das Projekt verhindern.
Niederländische schwule Jugendliche unter 16 Jahren haben letzte Woche einen wichtigen Sieg errungen, als der Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen schließlich seine Zustimmung zu einem speziellen Boot für diese Jugendlichen bei der jährlichen Canal Pride-Homosexuellenparade durch die berühmte Wasserstraße im Stadtzentrum gab, eine Veranstaltung, für die eine Genehmigung der Stadt erforderlich ist.
Der Bürgermeister von der Partij van de Arbeid (niederländische Arbeiterpartei) hatte der überregionalen Tageszeitung De Volkskrant zufolge zunächst die Genehmigung für das Jugendboot verweigert, weil er Bedenken hatte, „diese gefährdete Gruppe“ in die jährliche Prozession einzubeziehen. Nach einem Treffen mit Frank van Dalen, dem Vorsitzenden des COC Niederlande, der 1946 gegründeten ältesten LGBT-Gruppe der Welt, änderte Cohen jedoch seine Meinung.
Das spezielle „Homo Youngsters“-Boot bei der traditionell farbenfrohen und festlichen Canal Pride Bootsparade, die dieses Jahr am 4. August im Rahmen der dreitägigen Pride-Feierlichkeiten und -Veranstaltungen stattfindet, wird nach Angaben der nationalen niederländischen Nachrichtenagentur ANP Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren vorbehalten sein, wobei die Jugendlichen von ihren Eltern auf dem Boot begleitet werden.
Die Initiative für das Boot für minderjährige Jugendliche ging von dem 14-jährigen Danny Hoekzema aus, einem schwulen Jugendlichen, der auf seiner persönlichen Website für diese Idee warb.
„Mein Ziel ist es, mit diesem Boot mehr Aktivitäten für schwule und lesbische Jugendliche im ganzen Land zu schaffen“, sagte er in einem ausführlichen Interview, das per E-Mail geführt wurde, gegenüber Gay City News.
Danny sagte, er habe eine Lawine von Hunderten von E-Mails erhalten, die ihn unterstützen. „Dutzende von Teenagern in meinem Alter schicken mir Mails, in denen sie mir zustimmen, dass es nicht genug Aktivitäten speziell für unsere Altersgruppe gibt“, sagte er und fügte hinzu: „Etwa 30 von ihnen haben sich bereits gemeldet, um mit mir auf dem Teenie-Boot mitzufahren. Andere schreiben, dass sie meine Initiative unterstützen, aber sie trauen sich noch nicht, sich zu outen. Sie hoffen, dass sich die Dinge aufgrund der Aufmerksamkeit und des wachsenden Verständnisses für schwule Teenager ändern werden. Das wird ihnen helfen, sich zu outen. Eine Mutter eines 12-jährigen schwulen Teenagers schrieb mir, ihr Sohn habe sich aufgrund meiner Initiative geoutet. Beide werden im August an dem Boot teilnehmen.“
Danny erzählte diesem Reporter, dass er die volle Unterstützung seiner Eltern für sein Vorhaben hat. „Ich habe mich vor 21 Monaten geoutet, als ich 12 Jahre alt war. Jetzt bin ich gerade 14. Ich habe es meinen Eltern per Brief mitgeteilt, den ich auf ihr Kopfkissen im Schlafzimmer gelegt habe. Am nächsten Morgen haben sie mich um 8 Uhr geweckt. Dann haben wir ein richtig gutes Gespräch darüber geführt. Meine Mutter arbeitet als Verkaufsleiterin bei einer Zeitung und mein Vater ist Buchhalter. Sie haben sehr gut reagiert, als ich ihnen von meiner Initiative für das Jugendboot bei der Canal Parade erzählt habe. Sie unterstützen mich und werden mit mir auf dem Boot fahren. Ist das nicht großartig?“
Danny merkte an: „Alle möglichen Leute, die ihre Unterstützung zeigen wollen, schicken mir Mails. Zum Beispiel ältere schwule Männer, die sich an die Zeit erinnern, als sie in meinem Alter waren. Sie wussten auch, dass sie in meinem Alter schwul waren, aber sie waren einsam und kannten niemanden wie sich selbst. Und auch Heteros schicken mir Mails. Sie halten es für eine wirklich coole Idee und wollen mich ermutigen, sie weiterzuverfolgen. Der Bedarf an Aktivitäten für schwule und lesbische Teenager ist groß. Die Leute reden jetzt darüber – endlich. Ich bin sicher, dass das einen Unterschied macht.
Von den 30 anderen Jugendlichen unter 16 Jahren, die sich für das Teenie-Boot angemeldet haben, ist der jüngste 12 Jahre alt, so van Dalen vom COC, und das Durchschnittsalter liegt bei 14 Jahren. Als er erfuhr, dass so viele Jugendliche an der Pride-Parade durch die Grachten teilnehmen wollen, sagte der Bürgermeister sogar: „Wir brauchen ein größeres Boot“, so van Dalen über sein erfolgreiches Treffen mit Cohen.
Doch der Sieg für Danny und sein Boot kam erst nach einem Medienrummel um die Pädophilievorwürfe einer umstrittenen Figur in der Amsterdamer Schwulengemeinschaft, die zu einer Reihe von Morddrohungen gegen einen international bekannten schwulen Wissenschaftler führten.
Hintergrund des Feuersturms über Pädophilie ist ein anhaltender Kampf um die Kontrolle der Canal Pride-Veranstaltung. Von 1996 bis 2005 wurden die Canal Pride und die anderen Pride-Feiern von der Amsterdamer Gay Business Association (BGA) unter der Leitung von Siep de Haan organisiert. Doch die Unzufriedenheit mit de Haans Führung wuchs, und es gab Anschuldigungen wegen finanzieller Veruntreuung. (…) Diese Vorwürfe veranlassten die Stadtverwaltung, de Haans Gruppe im vergangenen Jahr die Genehmigung für die Pride-Veranstaltungen zu entziehen und sie einer neuen Trägerorganisation, Pro Gay, zu erteilen, an der die COC beteiligt ist.
Vor diesem Hintergrund hat de Haan – als er von den Plänen für das Boot der Minderjährigen erfuhr – vor einigen Wochen eine Kampagne gestartet, um das Sponsoring der Pride-Veranstaltungen durch Pro Gay und COC mit Anschuldigungen der Pädophilie zu untergraben, wie aus Artikeln in der niederländischen Presse und Berichten lokaler Schwulenaktivisten hervorgeht.
Dabei wählte er Gert Hekma aus, einen international bekannten schwulen Akademiker, der an der Universität von Amsterdam Schwulen- und Lesbenstudien unterrichtet. Seit de Haan seine Kampagne gestartet hat, wurde Hekma mehrfach mit dem Tod bedroht.
(…)
Während der Medienexplosion, so van Dalen, verlagerte sich die Debatte von sexuellem Verhalten zu jeglicher Diskussion über minderjährige homosexuelle Jugendliche.
„Der Ton war: ‚Wie kann ein 14-Jähriger wissen, ob er schwul ist oder nicht – er ist zu jung'“, sagte er mir.
Als dieser Reporter den jungen Erfinder der Idee des Jugendboots fragte, wie er auf solche Kritik reagieren würde, antwortete Danny: „Heterosexuelle Jugendliche werden nie über ihre Sexualität befragt. Das gilt auch für schwule und lesbische Teenager. Lesen Sie einfach ihre E-Mails an mich und die Mails älterer schwuler Männer, die sich an ihre Situation erinnern, als sie in unserem Alter waren. Sich jung zu outen, das ist das einzig Neue.“
Danny fährt fort: „Es gibt einfach nicht genug Aktivitäten und keine speziellen Orte für Jugendliche in meinem Alter. Diese Aktivitäten müssen organisiert werden. Nicht von Einzelpersonen, sondern von professionellen Organisationen. Deshalb bin ich so froh, dass COC Niederlande mich unterstützt. Es gibt viele professionelle Organisationen, die mit heterosexuellen Teenagern arbeiten. Niemand stellt jemals die Notwendigkeit oder die Absichten der Menschen und Organisationen in Frage, die diese Aktivitäten für sie anbieten. Es ist schlicht und einfach Homophobie, ihre Absichten in Frage zu stellen. Warum sollte es bei schwulen und lesbischen Teenagern anders sein? So sehe ich das.“
Ich denke der Fall zeigt, trotz des Erfolges immer noch eine gewisse Verkrampftheit.
Ist es wirklich nötig, dass ein 12-jähriger zum „Teenager“ erklärt wird, damit die Tatsache seine sexuelle Neigung, die er selbst für sich erkannt hat, auch von anderen anerkannt wird? Sind Kinder per Definition asexuell? Ist es wirklich angemessen unter 12-jährige auszuschließen? Was soll damit geschützt werden? Das eigene nicht-wahrhaben wollen? Der Sänger Ronan Parke (der als 12-jähriger Zweiter bei Britain’s Got Talent wurde) hat sich als 20-jähriger öffentlich geoutet. In seiner Familie tat er es mit 7 oder 8. Aus seinem Bericht:
Ja. Ich erinnere mich daran, wie ich ein Coming-out bei meinen Eltern versucht habe: Ich war jung – ich kann mich nicht mehr erinnern, wie alt ich war, so 7 oder 8 Jahre – und ich ging nach unten inns Wohnzimmer und stand vor dem Fernseher und nahm die Fernbedienung und sagte: „Mami, Papi, ich habe euch etwas zu sagen! Alles dramatisch[lacht] Und sie haben einfach gesagt: „Ja, ja, ja, wir wissen, du bist schwul“, und sie haben mir die Fernbedienung abgenommen und den Fernseher wieder eingeschaltet! Ich war wie[dramatisches Keuchen], „Was?“! Aber sie wussten es einfach immer. Und danach brauchte es auch kein Coming-Out vor meinen Freunden kommen. Aber ich habe mich immer als schwuler Mann identifiziert und war immer sehr stolz, es zu sagen.
Warum und mit welchem Recht hätte man dem 8-jährigen Ronan oder anderen Jungen wie ihm die Teilnahme an einer Pride-Parade verweigern sollen?
Nach Britain’s Got Talent gab es einige Musikveröffentlichungen mit dem 12/13-jährigen Ronan Parke für die auch Musikvideos veröffentlicht wurden. Ronan sang dort unplugged, nur von der Gitarre von Matthew “Mafro” Phelan begleitet. Wer die Videos ansieht, muss blind sein, um nicht zu sehen, wie Ronan den damals 25-jährigen Gitarristen anschmachtet.
Hekma hat sich auch für solche Jungen eingesetzt.
Von Hekma stammt eine kluge Analyse zur Problematik und den Ursachen der Diskriminierung generationsübergreifender Liebes- und Sexbeziehungen, ursprünglich erschienen in KOINOS, Ausgabe #52 (Winter 2006):
Sexualdemokratie und Ausgrenzung der Jungenliebhaber
Bis vor kurzem lebten wir in einem Sexualsystem, in dem die Lustbefriedigung vor allem zwischen sozial ungleichen Personen erfolgte: Mann und Frau, Alt und Jung, Arm und Reich, Sohn reicher Eltern und Dienstmädchen, Hurenbock und Hure, Butch und Femme, Tunte und Tülle (femininer Homosexueller und maskuliner Heterosexueller). Jetzt wechselt man zu einem anderen System, in dem der Aspekt der Gleichheit betont wird.
Es ist eine Wende, die in romantischen Idealen von Kameradschaft in der Ehe ihren Ursprung hatte und ihre Krönung in dem, was der englische Soziologe Anthony Giddens als ‘pure relations’ bezeichnet: sexuelle Beziehungen, die gleichwertig sind. Machtunterschiede im Bett, die ehedem einen erotischen Mehrwert hatten, sind durch Ideale der Sexualdemokratie ersetzt worden
Vor allem Schwule und Lesben profitieren von dieser weltweiten Wende, weil ihre Beziehungen heutzutage gleichartig und austauschbar sind. Heterosexuelle haben mit dem Problem zu kämpfen, dass es in ihren Beziehungen immer den Geschlechtsunterschied geben wird, was das Gleichheits- und Demokratiedenken erschwert.
Es gibt einige Gruppen, die unter der Gleichheitsethik sehr zu leiden haben. Sadomasochisten versuchen dem zu entkommen, indem sie anführen, dass die Rollen in ihren Beziehungen austauschbar sind und auf gegenseitiger Zustimmung beruhen. In dem Bereich der Prostitution wäre die einzig mögliche Lösung die, dass die klassische Rollen des ‘Mannes als Käufer’ und der ‘Frau als Anbieterin’ öfter mal getauscht würden. Aber das ist eher unwahrscheinlich.
Die beiden neuen großen Tabus für die Gleichheitsfundamentalisten sind Zoophilie und Pädophilie, weil aus deren Sicht diese Beziehungen grundsätzlich ungleich sind. Sie fußen auf einem Machtunterschied und stellen nach Ansicht der Verkündiger der erotischen Demokratie immer einen Missbrauch dar, zumal da die Objekte der Begierde angeblich stimm- und wehrlos sind.
Bei der Betrachtung homosexueller Beziehungen in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten erkennt man zwei vorherrschende Formen, die oft soziale Institutionen mit festen Regeln und Orten waren. Bei der ersten Form handelt es sich um die Beziehung zwischen einem femininen und passiven Mann einerseits und einem maskulinen und aktiven Typ andererseits, so wie in der Beziehung zwischen Tunte und Tülle (auf Englisch Queen und Trade).
Die andere Form ist die Beziehung zwischen einem Mann und einem Jungen. In diesem Blatt brauche ich die zahllosen Beispiele dafür wohl nicht anzuführen. Männer hatten zweifellos auch auf andere Art und Weise und in anderen Rollen Sex miteinander, aber Beispiele dafür sind weit seltener. Außerdem waren diese Beziehungsformen fast nie soziale Institutionen in der Art, wie es für die beiden anderen Formen kennzeichnend war.
Betrachtet man die Entwicklungen weltweit, so zeigt sich, dass in der westlichen Welt eine neue homosexuelle Beziehungsform entstanden ist: die des Homosexuellen oder Gay, des Mannes, der es mit einem Mann treibt, wobei beide eine maskuline Rolle übernehmen und in etwa gleichen Alters sind. Dieses Modell gibt es erst seit sehr kurzer Zeit, aber es verbreitet sich überall ganz rasch.
Diese ‘Erfindung’ auf dem Gebiet der Beziehungen ist dabei, der weltweite Standard für homosexuelles Verhalten zu werden. Dies findet nach einem halben Jahrhundert seine endgültige Bestätigung in der Schwulenehe. Daneben besteht aber weiterhin die homosexuelle Form, bei der einer der beiden Partner gleichsam das Geschlecht tauscht. Diese Form weckt verhältnismäßig wenig Widerstand. Weder die Gesellschaft noch die Schwulengemeinschaft empfinden solche Geschlechts-Inversionen als einen schweren Verstoß gegen die Ideale der Sexualdemokratie.
Ganz anders ergeht es den Jungenliebhabern. Wo immer sie als solche erkannt werden, wird ihnen arg zugesetzt. Sie sind sogar aus den Schwulenparaden – jene stolzen Umzüge sexueller ‘Vielfalt’ – verbannt worden. In entlegenen Gebieten mit einer traditionellen Kultur, etwa in Afghanistan, sind sie noch ganz Teil der Gemeinschaft (so sollen niederländische Soldaten in der afghanischen Provinz Uruzgan den ‘berüchtigten Päderasten’ Mohammed Normalverbraucher beschützen).
Wo immer sich die Modernisierung durchsetzt, wächst der Widerstand gegen den ‘Kindesmissbrauch’, der die Pädophilie angeblich ist. Den Kritikern der Jungenliebe steht ein breites Spektrum an Argumenten zur Auswahl. Für die Psychiatrie ist es eine Krankheit, für die meisten Religionen eine schwere Sünde, für sehr viele Leute von heute schlichtweg sexueller Missbrauch unschuldiger Kinder.
Früher gab Sex zwischen Jugendlichen und Erwachsenen höchstens Anlass zu einer unbestimmten Art von Besorgnis, heute besteht offensichtlich eine zwingende Notwendigkeit zum Eingreifen. Strafgesetze werden verschärft und weitreichender interpretiert, Altersgrenzen werden heraufgesetzt und ‘Täter’ fanatischer verfolgt. Im Zuge der Frauenemanzipation wenden sich Mütter mit größerem Erfolg gegen den sexuellen Habitus von Männern, die auf Jungen stehen. Es ist merkwürdig, dass wegen sexueller Praktiken, die zu anderer Zeit und an anderem Ort gerade die Grundlage für wichtige soziale Institutionen bildeten, hier und heute eine riesige und weltweite Panik ausbricht.
Es ist noch eine offene Frage, warum früher nahezu alle Kulturen den Sexualtrieb auf soziale Ungleichheit gründeten, während für eine neue sexuelle Weltkultur gerade Gleichheit der einzig akzeptable Motor der Lust ist. Wie auch immer, es ist eine weltweite Tendenz, gegen die Pädophile den Kürzeren ziehen.
Wir können nur hoffen, dass man den Wahnsinn einer dermaßen eindimensionalen Sicht der Sinnenfreude einsehen wird. Oder dass die Kinder, die in Sachen Sex an der kurzen Leine gehalten werden, sich massenhaft gegen die Vorstellung, sie wären unschuldig und asexuell, auflehnen werden. Das dürfte aber so leicht nicht passieren. Ich fürchte daher, dass wir einstweilen eine verkrampfte sexuelle Gleichheitsideologie am Hals haben werden, die niemand glücklicher machen wird.
Hekma spricht hier das an, was ich als Toxisches Gleichheitsdogma bezeichnen würde. Ungleichheit wird mit Missbrauch gleichgesetzt. Auf die tatsächliche Ausnutzung von Ungleichheit kommt es nicht mehr an.
Das betrifft Pädophile und Hebephile in besonderer Weise, aber durchaus auch ganz normale Heterosexuelle und Schwule. Wer eine Beziehung mit jemandem führt, demgegenüber er offiziell in einer Machtposition ist, muss damit rechnen, bei Entdeckung massiv Ärger zu bekommen, etwa zu einem Rückzug von Ämtern gezwungen zu werden oder gar (wenn sich das ganze im Arbeitsumfeld abgespielt hat) seinen Job zu verlieren.
Derartige Konsequenzen sind berechtigt, wenn eine Machtposition zum Schaden des anderen ausgenutzt wurde. Wenn es auf das Ausnutzen nicht ankommt und allein die Existenz von wahrgenommener Ungleichheit zu massiven Sanktionen führt wird die Idee der Gleichheit allerdings für alle Beteiligten toxisch.
Einer meiner Verwandten ist seit etlichen Jahren glücklich mit einer Frau verheiratet, deren Vorgesetzter er war, als die Beziehung begonnen hat. Sie haben die Beziehung damals einige Jahre lang geheim gehalten. Würde er heute in einem US-Konzern oder einem deutschen Medienunternehmen arbeiten, wäre er bei dieser Sachlage seinen Job los und hätte seinen Ruf nachhaltig beschädigt. Dies würde beiden Beziehungspartnern massiv schaden. Unter den heutigen Bedingungen würde es – aus Angst vor den möglichen Konsequenzen – vielleicht gar nicht mehr zu dieser Beziehung kommen. Den beiden wäre dann viel gemeinsames Glück entgangen.
Diese Form des Gleichheitszwangs ist letztlich das, was sie zu bekämpfen vorgibt: strukturelle Gewalt.
Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.
Johan Galtung,, Erfinder des Konzepts der strukturellen Gewalt
Die päderastische Beziehung der Antike hat ihren besonderen Wert und ihr gesellschaftliches Ansehen gerade aus der Ungleichheit der Beteiligten gezogen: aus einem Mentorenverhältnis, dass den Älteren verpflichtet hat, sich zu Gunsten des Jüngeren einzusetzen.
Hekma waren diese Dinge klar. Ihm ging es um eine von Ideologie befreite Gesellschaft, die es beliebigen Menschen erlaubt, miteinander glücklich zu sein.
Die Kriminalstatistik zeigt in den meisten Bereichen eine positive Entwicklung. Die erneut gestiegene Aufklärungsquote zeigt, dass sich die Stärkung der Polizei auszahlt. Wir sind ein sehr sicheres Land und ein starker Rechtsstaat. Doch das entsetzliche Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist für mich ein klarer Handlungsauftrag, hier mit aller Konsequenz vorzugehen. Für mich hat die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Verbreitung von abscheulichen Missbrauchs-Fotos und Videos über das Internet oberste Priorität. Wir werden das Bundeskriminalamt weiter stärken und den Ermittlungsdruck weiter erhöhen. Die Auswertung von Daten werden wir deutlich verbessern, auch durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Mein Ziel ist klar: Kein Täter darf sich sicher fühlen.
Die Zahlen der PKS werden mit etlichen Untertabellen auf den Seiten des Bundeskriminalamts frei zugänglich veröffentlicht. Man muss sich also nicht auf die Einordnung von Dritten verlassen, sondern kann sich recht umfassend selbst informieren.
Wie hat sich das Geschehen bei Hands-On Delikten verändert?
Ich habe mir angesichts der Berichterstattung die Frage gestellt, ob es im Mehrjahresvergleich tatsächlich eine Änderung bei den Fallzahlen vom Kindesmissbrauch (§ 176) gibt.
Es wurden in den letzten Jahren immer wieder Gesetze verändert und Tatbestände teils weiter gefasst. Das macht einen Vergleich schwierig. Hat sich das Geschehen verändert oder setzt die Strafbarkeit früher ein als dies in der Vergangenheit der Fall war? Ich halte es bei der Bewertung für hilfreich, sich auf Tatbestände zu konzentrieren, die langjährig unverändert definiert wurden.
Zwei aus meiner Sicht aussagekräftige Unterschlüssel in der PKS sind die Ziffern 131100 (Sexuelle Handlungen § 176 Abs. 1 und 2 StGB) und 131500 (Vollzug des Beischlafs mit einem Kind oder Vornahme einer ähnlichen sexuellen Handlung § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB).
Mit „Vollzug des Beischlafs und ähnliche Handlungen“ sind Vaginal-, Anal- und Oralverkehr gemeint. Sexuellen Handlungen mit physischem Kontakt unterhalb dieser Schwelle (also vor allem Petting / Masturbation) sind mit § 176 Abs. 1 und 2 StGB erfasst.
Die beiden Schlüssel bildeten also die sogenannten „Hands-on“ Delikte ab, Taten mit physischem Kontakt zu einem Kind und damit den Kern dessen, was man historisch gewachsen landläufig als Kindesmissbrauch bezeichnet hat. Andere Handlungen, die heute als Kindesmissbrauch gezählt werden (wie „Cybergrooming“) sind in dieser Betrachtung nicht enthalten.
Lt. der Zeitreihengrundtabelle (T01 Grundtabelle – Fälle ab 1987) ergibt sich für Ziffer 131100 (sexuelle Handlungen mit Kindern im Sinne Masturbation / Petting) folgendes Bild:
2000
6.952
2001
7.338
2002
7.930
2003
7.909
2004
7.894
2005
6.573
2006
5.905
2007
6.056
2008
5.683
2009
5.273
2010
5.559
2011
5.729
2012
5.771
2013
5.600
2014
5.230
2015
5.032
2016
5.251
2017
5.168
2018
5.357
2019
5.671
2020
5.685
2021
5.604
Langfristig kann man also eher von einem Rückgang sprechen. Hätte ich 20 Jahre als Zeitfenster gewählt (2002 bis 2021) wäre es sogar ein Rückgang um etwa 24 Prozent. Da 2002 ein Hochpunkt gewesen zu sein scheint, könnte man mir dann aber vielleicht eine willkürliche Auswahl des Betrachtungszeitraums unterstellen. In jedem Fall ist festzustellen, dass die Zahlen seit 2008 im Grunde unverändert sind. Die Bewegungen der Fallzahlen, mal etwas nach oben, mal etwas nach unten, stellen sich mir als zufällige Schwankungsbreite dar.
Für Ziffer 131500 (Oralverkehr, Analverkehr, Vaginalverkehr) sieht die Zeitreihe so aus:
2000
1.050
2001
1.321
2002
1.606
2003
1.554
2004
1.589
2005
1.435
2006
1.279
2007
1.243
2008
1.015
2009
926
2010
1.037
2011
1.134
2012
1.069
2013
1.083
2014
1.017
2015
880
2016
831
2017
826
2018
930
2019
1.035
2020
1.173
2021
1.172
Langfristig gesehen hat sich nicht viel getan. Die Zahlen liegen seit 2008 bei etwa 1.000 Fällen pro Jahr.
Was sind die möglichen Schlussfolgerungen?
Aus den Zahlen für die Kerndelikte könnte man folgern: alles was man seit 2008 unternommen hat, um Kindesmissbrauch zu verhindern, war im Grunde wirkungslos. Die Frage ist, welche Schlussfolgerung man dann daraus ableitet.
Einerseits könnte man dann auf den Gedanken kommen, die offensichtlich erfolglose Maßnahmen wieder zurück zu nehmen oder jedenfalls die Strategie zu verändern, die bisher gefahren wurde und die sich meiner Wahrnehmung nach vor allem in immer schärferer Polemik, immer weiter gefassten Tatbeständen, verstärkten Unterdrückungsbemühungen gegenüber pädophilen und hebephilen Subkulturen und Ausdrucksmöglichkeiten und in immer höheren Strafrahmen Ausdruck findet.
Andererseits könnte man sich natürlich auch auf den Standpunkt stellen, dass eben noch viel radikalere Eingriffe erforderlich sind, um das gesteckte Ziel zu erreichen.
Der ehemalige „Unabhängige Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ Johannes-Wilhelm Rörig meinte dazu im Jahr 2020: „Die Fallzahlen sind unverändert hoch. Die Bekämpfung sexuellen Missbrauchs, dem tausende Kinder jährlich in Familien, Einrichtungen und vor laufenden Kameras ausgesetzt sind, muss in Deutschland endlich als nationale Aufgabe verstanden werden.“ Lt Rörig brauche es einen Pakt gegen Missbrauch, für ein gemeinsames großes Ziel: Maximale Reduzierung der Zahl der Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Dieser Pakt brauche die uneingeschränkte Unterstützung von allen.
Für mich hörte sich wie die Ausrufung des „Totalen Kriegs“ an.
Wenn man im Prinzip das richtige Mittel gewählt hätte, wäre eigentlich zumindest ein gewisser Rückgang zu erwarten gewesen. Diesen gab es aber nicht. Es gibt keinen logisch nachvollziehbaren Grund, dass mehr von einer wirkungslosen Strategie auf einmal großartige Ergebnisse liefert.
Wir sorgen für eine vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik. Dies werden wir mit einer unabhängigen interdisziplinären Bundesakademie begleiten. Die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte müssen stets gut begründet und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden. Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren. Deshalb erstellen wir eine Überwachungsgesamtrechnung und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen. Jede zukünftige Gesetzgebung muss diesen Grundsätzen genügen. Dafür schaffen wir ein unabhängiges Expertengremium (Freiheitskommission), das bei zukünftigen Sicherheitsgesetzgebungsvorhaben berät und Freiheitseinschränkungen evaluiert.
Wenn man sich die Kriminalpolitik der letzten Jahrzehnte in Hinblick auf den Erfolg bei der Prävention von Kindesmissbrauch anschaut, muss man eigentlich zum Ergebnis kommen, dass sie nachgewiesenermaßen nicht funktioniert hat. Wer evidenzbasiert handeln will, müsste also anders handeln als in der Vergangenheit.
Wie hat sich das Geschehen bei Hands-Off Delikten verändert?
Zurück zur Datenlage, diesmal zu Delikten, die nicht zum Kernbereich der klassisch als Kindesmissbrauch verstandenen Taten gehören.
Extrem zugenommen haben die Fälle beim Cybergrooming und bei bei Verbreitung und Besitz von Kinderpornographie.
Schlüssel 131400 „Einwirken auf Kinder gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB“:
2000
979
2001
1.325
2002
1.171
2003
1.034
2004
1.009
2005
946
2006
903
2007
872
2008
875
2009
913
2010
941
2011
934
2012
1.406
2013
1.464
2014
1.907
2015
1.958
2016
2.028
2017
2.121
2018
2.439
2019
3.264
2020
3.839
2021
4.464
Einen Anstieg kann man etwa ab 2012 feststellen.
Da im Bereich Kinderpornographie die Schlüssel verändert wurden, reicht die vergleichbare Statistik hier nicht so weit zurück. Hier die Entwicklung zu 143200 (Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornographischer Schriften § 184b StGB):
2016
5.687
2017
6.512
2018
7.449
2019
12.262
2020
18.761
2021
39.171
In beiden Fällen (Cybergrooming, Kinderpornographie) handelt es sich um sogenannte Hands-Off Delikte. Dass die Fallzahlen hier stark steigen kann unterschiedliche Ursachen haben.
Ein Effekt kann die zunehmende Durchdringung unserer Welt durch das Digitale sein, dass also z.B. der Anstieg beim Cybergrooming mit dem Anstieg der Nutzung von Social Media korreliert.
2012 lag der Umsatz von Apple mit iPhones bei 46 Milliarden US-Dollar, 2021 waren es 191,97 Milliarden US-Dollar. 2012 lag der Umsatz von FaceBook bei 5,09 Milliarden US-Dollar. 2021 waren es 117,93 Milliarden US-Dollar. Die Ausnutzung korreliert letztlich mit der Nutzung. Der Anstieg des Missbrauchs der Nutzungsmöglichkeit ist ein Nebeneffekt des Anstiegs der Nutzung. Das Problem wäre bei einem Totalverbot aller sozialer Netzwerke weitestgehend gelöst, so wie auch das Problem verbaler Beleidigungen gelöst wäre, wenn niemand mehr sprechen würde. Die totale und nachhaltige Problemlösungsoption ist leider nicht wirklich praktikabel.
Damit ist auch klar, dass es extrem schwierig ist, diese Art des Fehlverhaltens einzudämmen. Solange sich das Leben und die Sozialkontakte sich weiter ins Digitale verlagern, dürften die Zahlen weiter ansteigen.
Ein zweiter Faktor bei den ansteigenden Zahlen dürfe eine Verschiebung von Fällen aus dem Dunkelfeld (unentdeckte Fälle) ins Hellfeld (Fälle der Kriminalstatistik) sein. Innenministerin Faeser ist nicht die erste Innenministerin, die hohe Fallzahlen als Handlungsauftrag begreift und mehr Ermittlungsdruck ausüben will. Mehr Ermittlungen führen zu mehr entdeckten Fällen. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Kriminalstatistik lediglich Verdachtsfälle führt, in denen ermittelt wurde. Sie liefert kein Abbild der tatsächlichen Kriminalität. Es gibt Fälle, die nie ins Visier von Ermittlungen geraten (Dunkelfeld), es gibt aber auch Fälle, bei denen Ermittlungen eingestellt wurden, weil der Verdacht sich nicht erhärtet hat oder bei denen vor Gericht ein Freispruch herauskommt. Diese falsch-positiven Fälle landen dennoch in der PKS. Es gibt vermutlich wirklich mehr Fälle im Bereich der Hands-Off-Delikte, aber vermutlich lange nicht so viele zusätzliche neue Fälle, wie die Statistik anzudeuten scheint.
Keine Korrelation zwischen Hands-On und Hands-Off Delikten
Vor allem gibt es aber auch eine Diskrepanz der Entwicklung zwischen Hands-On-Delikten und Hands-Off-Delikten. Bei Hands-Off-Delikten gibt es eine hohe Dynamik der Fallzahlen, die bei Hands-On-Delikten völlig fehlt. Das legt nahe, dass Hands-Off-Delikte keine bedeutenden Risikofaktoren für Hands-On-Delikte sind.
Für mich ist das nicht sehr überraschend. Der Konsum von Kinderpornographie führt nicht zu mehr Missbrauch von Kindern. Es gibt z.B. eine Schweizer Studie zur Delinquenz von Konsumenten von Kinderpornografie, die zum Ergebnis kommt, dass der Konsum von Kinderpornografie alleine keinen Risikofaktor für spätere physische Sexualdelikte darstellt. Eine andere Studie hat festgestellt, dass es in der Tschechischen Republik während einer Zeit, in der der Besitz von Kinderpornografie nicht verboten war, zu einem signifikanten Rückgang der sexuellen Kindesmissbrauchsdelikte kam (siehe Diamond M (2009) Pornography, public acceptance and sex related crime: a review. Int J Law Psychiatry 32(5):304–314; Diamond M, Jozifkova E, Weiss P (2011) Pornography and sex crimes in the Czech Republic. Arch Sex Behav 40(5):1037–1043).
Wer sind die Täter?
Ein anderer Aspekt, der mich im Zusammenhang mit der PKS interessiert hat, ist die Verteilung der Tatverdächtigen über die Altersklassen. Entsprechende Werte findet man in dem Untertabellen T20 (Tatverdächtige insgesamt nach Alter und Geschlecht). Leider gibt es die Tabelle nicht in jedem Jahr. Ich habe mir die Daten der Jahre 2014, 2015, 2019, 2020, 2021 angeschaut.
Ein interessanter Befund war, dass sich die Altersstruktur bei „Verbreitung von Kinderpornografie § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB“ ändert. 2015 waren 82 Prozent der Tatverdächtigen Erwachsene über 20 Jahren. Aktuell waren nur noch 51 Prozent der Tatverdächtigen Erwachsene.
Schaut man auf die Entwicklung bei Kindern (Personen unter 14 Jahren), dann hat sich die Zahl der Tatverdächtigen von 2015 (144 tatverdächtige Kinder) bis 2021 (2.374 tatverdächtige Kinder) versechzehnfacht.
Kindern kann zumindest im engeren Sinne strafrechtlich nicht viel passieren, da sie noch nicht strafmündig sind. Anders ist es bei Jugendlichen. Dort stieg die Zahl der Tatverdächtigen im Zeitraum 2015 bis 2021 von zuvor 205 auf nun 3.740 an und hat sich damit verachtzehnfacht. Die Zahl der erwachsenen Tatverdächtigen hat sich im gleichen Zeitraum „nur“ vervierfacht (von 1.875 auf 7.670).
Die 49 Prozent der Nicht-Erwachsenen Tatverdächtigen verteilen sich auf Kinder (16 Prozent), Jugendliche (25 Prozent) und Heranwachsende (8 Prozent). Es dürfte jedem klar sein, dass es in der Bevölkerung viel mehr Erwachsene als Kinder und Jugendliche gibt. Trotzdem stellen sie 41 Prozent der Tatverdächtigen, Tendenz steigend. Der Besitz von Kinderpornographie ist vor allem Kinder- und Jugendlichen-Kriminalität.
Wenn die Bekämpfung dieser Delikte oberste Priorität hat und weiter intensiviert wird, werden die Folgen vor allem tatverdächtige Kinder und Jugendliche treffen. Kinder vor Missbrauch schützen kann man mit den Maßnahmen dagegen nicht, da es keine feststellbare Korrelation zwischen dem Konsum von Abbildungen und sexuellen Handlungen mit Kindern gibt.
Es gibt durchaus Gründe, Kinderpornographie zu verbieten – sie stellt, wenn reale Personen abgebildet sind, fast immer eine schwere Verletzung von Persönlichkeitsrechten dar. Eine extreme Skandalisierung und die Bekämpfung als Straftat schadet Kindern aber eher, als dass sie Ihnen nutzen würde.
Man darf sicherlich davon ausgehen, dass es für ein Kind eine traumatische Erfahrung ist, mit dem Besitz oder bei der Verbreitung von Kinderpornographie erwischt zu werden. Das dürfte auch für von der Hausdurchsuchung und dem nachfolgenden Verfahren mitbetroffenen Eltern gelten. Im Jahr 2021 machten 2.374 tatverdächtige Kinder und 3.740 tatverdächtige Jugendliche diese traumatische Erfahrung. Das sind 6.114 Minderjährige mit (etwa) 6.114 Elternpaaren also zusammen über 18.000 Personen.
Dem standen 2021 insgesamt 7.670 erwachsene Tatverdächtige gegenüber, denen der eigentliche Volkszorn gilt. Und auch die sind in erster Linie „nur“ fehlgeleitete Personen: Menschen mit teieiophiler (auf erwachsene gerichtete) Neigung, für die kinderpornographische Dateien lediglich (teils auch ungewollter) „Beifang“ sind und pädophile / hebephile Personen, für die es um eine Möglichkeit der Ersatzbefriedigung geht und die oft glauben, dadurch besser mit der sexuellen Enthaltsamkeit im realen Leben klar zu kommen.
Verbreitung von Kinderpornographie unter Kindern
Es gibt auch einen Schüssel „Verbreitung pornografischer Schriften (Erzeugnisse) §§ 184, 184a, 184b, 184c, 184d, 184e StGB“. Hierzu gibt es 5.509 tatverdächtige Kinder und 12.560 tatverdächtige Jugendliche. Eine Teilmenge dessen ist die „Verbreitung von Kinderpornografie § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB“. Hier gibt es 2.374 tatverdächtige Kinder und 3.740 tatverdächtige Jugendliche.
Wenn Kinder sich wegen „Verbreitung pornografischer Schriften“ strafbar machen, handelt es sich also zu 43 Prozent um Kinderpornographie. Bei Jugendlichen sind es 30 Prozent.
Ist das für irgend jemanden verwunderlich?
Unter normalen Erwachsenen gibt es ein sehr hohes Interesse an Pornographie. Ein Artikel der Stuttgarter Zeitung vom Januar 2020 berichtet, dass 9 von 10 Männern regelmäßig Pornos anschauen. Für Norwegen und Schweden werden an anderer Stelle Werte um 96% bei Männern und 73% bei Frauen berichtet.
Es sollte nicht sonderlich überraschen, wenn auch Kinder in der Pubertät Interesse an Pornographie haben. Es scheitert, wenn überhaupt, vermutlich vor allem am Wissen um die Verfügbarkeit.
Eigentlich ist die Empfänglichkeit und Offenheit gegenüber Pornographie normaler Bestandteil der menschlichen Sexualität. Das gilt auch für Kinder. Wenn Kinder überdurchschnittlich häufig Pornographie besitzen, die andere Kinder darstellt, ist das schon dadurch leicht erklärbar, dass sie selbst Kinder sind und sich sexuell eben unter anderem für Gleichaltrige interessieren. Werden Kinder damit erwischt werden, droht ein Verfahren, dass leicht zum Trauma werden kann und Sexualität in die Nähe von Verbrechen und Strafe rückt.
Würden Kinder (fast) ausschließlich Erwachsenen-Pornographie konsumieren, dann würde das darauf hindeuten, dass Kinder vor allem ein sexuelles Interesse an erwachsenen Sexualpartnern haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Kinderschutzorganisationen gibt, für die diese logische Schlussfolgerung akzeptabel wäre.
Wer akzeptiert, dass Kinder und Jugendliche nicht asexuelle Wesen sind, dürfte bei genauerer Überlegung also eigentlich nicht entsetzt sein, wenn sich Kinder und Jugendliche unter anderem für Kinder- und Jugendpornographie interessieren.
Wenn ein Kind damit erwischt wird, ist das kein Marker für die völlige Verrohung des Kindes, sondern ein gut erklärbarer Regelverstoß von jemandem, der sich mit den spezifischen Regel auf diesem Gebiet noch nicht so gut auskennt und der für die enthemmende Wirkung des Sexualtriebs besonders anfällig ist. Jeder, der ein bisschen ehrlich ist, sollte aus eigener Erfahrung wissen, dass die Pubertät einer der sexuell aktivsten Lebensabschnitte eines durchschnittlichen Menschen ist. Der Sexualtrieb ist in diesem Alter besonders stark und entsprechend tendenziell auch schwerer zu beherrschen.
Dazu passend ein Wert aus der PKS 2021, der auch mich etwas überrascht hat: Es gibt einen extrem hohen Kinderanteil bei „Herstellung mit Verbreitungsabsicht von Kinderpornografie § 184b Abs. 1 Nr. 4 StGB“. Hier gab es 2021 insgesamt 276 Tatverdächtige. 62 Prozent der Tatverdächtigen waren Kinder, 11 Prozent waren Jugendliche. Nur ein Viertel der Tatverdächtigen waren Erwachsene (Personen über 20 Jahre).
Das Dunkelfeld
Laut der JAMES Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) aus dem Jahr 2020 haben von den Schweizer Jugendlichen 27 Prozent der befragten Mädchen schon einmal Pornofilme auf dem Handy oder am Computer angeschaut. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) der befragten Jungen gab an, bereits einmal Pornovideos oder -bilder angeschaut zu haben.
Bei den 12/13-Jährigen hatten sich 9 Prozent Pornofilme auf dem Handy oder dem Computer angeschaut, 11 Prozent gaben an bereits erotische / aufreizende Fotos / Videos von anderen aufs Handy oder den Computer bekommen, 1 Prozent gab an erotische / aufreizende Fotos / Videos von sich selbst über das Handy oder den Computer verschickt zu haben, 2 Prozent haben bereits Pornofilme über das Handy oder den Computer verschickt.
Bei den 14/15-Jährigen hatten 31 Prozent Pornofilme angeschaut, 29 Prozent hatten welchen zugeschickt bekommen, 3 Prozent hatten erotische / aufreizende Fotos / Videos von sich selbst verschickt, 5 Prozent hatten Pornofilme verschickt.
Bei den 16/17-Jährigen hatten 51 Prozent Pornofilme angeschaut, 48 Prozent welchen zugeschickt bekommen, 16 Prozent erotische / aufreizende Fotos / Videos von sich selbst verschickt und 8 Prozent hatten Pornofilme verschickt.
Was bedeutet das alles in Hinblick auf die Prävalenz von Kinderpornographie unter Kindern und Jugendlichen?
Nehmen wir an, dass es sich bei 43 Prozent der bei Kindern anzutreffenden Pornographie auch um Kinderpornographie handelt, dann sind etwa 5 Prozent der 12/13-jährigen Kinder im Besitz von Kinderpornographie (gewesen). Wenn 30 Prozent der bei Jugendlichen anzutreffenden Pornographie auch Kinderpornographie ist, dann hätten 9 Prozent der 14/15-Jährigen und 15 Prozent der 16/17-Jährigen schon einmal Kinderpornographie besessen.
2010 gab es in Deutschland 677.947 Geburten. Fünf Prozent davon sind 33.897. Das ist in etwa die Dunkelziffer der heute 12-jährgen Kinderporno-Besitzer, die die Politik erhellen will.
Ich komme hochgerechnet auf 189.000 12 bis 15-Jährige Täter (5 Prozent der ca. 1,35 Millionen 12/13-jährigen = 67.500 und 9 Prozent der ca. 1,35 Millionen 14/15-jährigen = 121.500). Nimmt man die ziemlich direkt mitbetroffenen Eltern dazu kommt man auf 567.000 Betroffene einer Intensivierung der strafrechtlichen Verfolgung. Es wachsen auch ständig neue Kinder in das Alter hinein, in dem es eine erhöhte Anzahl tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher gibt.
Für den Besitz gibt es in Deutschland aktuell 1 bis 5 Jahre Freiheitsstrafe, für die Verbreitung 1 bis zu 10 Jahre. Da Kinder nicht strafmündig sind und für Jugendliche das Jugendstrafrecht gilt, dürfte da in der Regel niemand in den Knast gehen. Erziehungsmaßnahmen, die ebenfalls als drastische Strafen erfahren werden können, kann es aber durchaus geben, auch gegenüber Kindern. Es drohen auch Konsequenzen für den weiteren Berufsweg.
Darf jemand, der als 13 oder 14-jähriger mit Kinderpornographie erwischt wurde, noch Lehrer oder Beamter werden? Noch dürfte dies möglich sein. Es kann aber gut sein, dass sich das in Zukunft ändert. Aktuell liegt die Frist für die Löschung einer Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe von mehr als einem Jahr im erweiterten Führungszeugnis im Fall des § 184b bei zehn Jahren. Es wird immer wieder gefordert, die Fristen zu verlängern oder die Löschung des Eintrags für Sexualdelikte ganz abzuschaffen.
Ein Handlungsauftrag?
Bei hinreichendem Zynismus könnte mich das Ausmaß des Dunkelfelds und dessen Aufhellung vielleicht sogar freuen, denn je mehr Kinder und Jugendliche und deren Eltern durch Hausdurchsuchungen und Strafverfahren traumatisiert werden, desto höher wird die Chance, dass das Problem einer unangemessen scharfen und schädlichen Überverfolgung und Überbestrafung gesellschaftlich erkannt und die Praxis beendet wird.
Normalerweise sollte spätestens ein Umdenken zu erwarten sein, wenn ein paar Kinder oder Enkelkinder hochrangiger Politiker betroffen sind.
Ich bin aber nicht hinreichend zynisch. Ich glaube auch nicht, dass es ein Naturgesetz sein muss, dass man erst massenhaft Kinder und Jugendliche durch falsche Gesetze geschädigt haben muss, um die schädliche Gesetzgebung und die dazugehörige Polemik zu erkennen und zu korrigieren.
Das vermeintliche Heilmittel im Kampf gegen Kindesmissbrauch (Innenministerin Faeser: „das entsetzliche Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist für mich ein klarer Handlungsauftrag, hier mit aller Konsequenz vorzugehen. Für mich hat die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Verbreitung von abscheulichen Missbrauchs-Fotos und Videos über das Internet oberste Priorität“) hat keine feststellbaren positiven Auswirkungen im Sinne einer Verringerung von Hands-On Delikten. Es richtet aber gigantische Kollateralschäden gerade bei Kindern und ihren Eltern an. Das sollte eigentlich ein Handlungsauftrag sein, etwas an der Gesetzgebung zu ändern, damit weniger Kinder und Jugendliche als Folge der „guten Tat“ unter die Räder kommen.