Unser Gemeinwesen macht eine neue, beunruhigende Erfahrung. Zahlreiche Anzeichen legen den Schluss nahe, dass noch nie in seiner Geschichte so viele Bürger das Vertrauen in die politische Ordnung, in der sie leben, verloren haben. Wir nähern uns, heißt das, einer Legitimationskrise. Der Höhenflug der AfD ist ein schrilles Alarmsignal, das noch schriller tönt, wenn man bedenkt, dass ein – vielleicht dramatischer – wirtschaftlicher Abschwung sich ankündigt. Seit den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland war, wie man weiß, die Legitimität der politischen Ordnung hierzulande enger mit der wirtschaftlichen Prosperität verknüpft als in anderen Demokratien.
In den Daten, die diesen Entfremdungsprozess widerspiegeln, taucht ein demoskopischer Befund besonders häufig auf: Die Menschen nehmen sich als ohnmächtig wahr. Wie ist das zu verstehen? Die Demokratie hält für ihre Bürger notwendig beides bereit – Macht und Ohnmacht. Mächtig sind die Bürger als Kollektiv. Sie entscheiden in ihrer Gesamtheit darüber, wer das Land auf Zeit regieren soll. Der Einzelne hingegen ist zunächst einmal ohnmächtig. Er kann politischen Einfluss nur erlangen, wenn er sich engagiert. Mit diesem Dilemma muss jede Demokratie leben: Was sie dem Bürger verspricht – politische Teilhabe nicht nur symbolischer Natur –, kann der in der Regel nur gegen einen hohen Preis einlösen.
Aber an dieser Gegebenheit hat sich zwischen gestern und heute nichts geändert, gar nichts. Woher kommt es, dass das Gefühl ohnmächtig zu sein, plötzlich so stark wird, so weit verbreitet ist? Hat die Ohnmachtsempfindung möglicherweise etwas mit der Wahrnehmung zu tun, dass Minderheiten, denen man sich nicht zugehörig fühlt, die Politik in einem irritierenden Maße dominieren – und dies nicht nur in Deutschland?
Der Unterschied zwischen Vetomacht und Gestaltungsmacht
Es geht bei dieser Vermutung nicht darum, einen der vielen Erklärungsversuche für den Verlust des Vertrauens in die Politik durch einen anderen zu ersetzen. Sie hat vielmehr ein elementares Gefühl im Visier, das in alle konkreten, anlassbezogenen Verärgerungen, Irritationen, Ängste hineinwirkt: das Gefühl, im Raum der Politik nicht gehört, nicht verstanden, ignoriert zu werden, weil dort „die anderen“ das Sagen haben, die ihre eigene Agenda verfolgen.
Die Macht von Minderheiten kann in demokratisch verfassten politischen Ordnungen sehr unterschiedliche Quellen haben – Geld, Sachverstand, Ansehen, Zugang zur Öffentlichkeit, eine leicht mobilisierbare Gefolgschaft, die Möglichkeit einer Leistungsverweigerung, die die Gesellschaft nicht lange erträgt. Minderheitenmacht im Kontext der Demokratie kann denn auch je nach ihrer Art sehr unterschiedlich bewertet werden. Sie kann als legitim oder als illegitim wahrgenommen werden, als problematisch oder als unproblematisch.
Von besonderer Bedeutung für ihre Einschätzung ist die Unterscheidung von Vetomacht und Gestaltungsmacht. Dass das Recht Minderheiten Vetomacht zuspricht, etwa bei Verfassungsänderungen, ist für Demokratien charakteristisch. Diese Macht dient ihrem Schutz. Um die Gestaltungsmacht von Minderheiten steht es anders. Sie bedarf einer höheren Legitimation, weil sie in einer stärkeren Spannung zu Grundprinzipien der Demokratie steht. Um die Gestaltungsmacht einer Minderheit geht es im Folgenden.
Die Schlüsselstellung der Grünen
Von der Gestaltungsmacht einer Minderheit im politischen Raum reden heißt im deutschen Fall zuerst und vor allem von den Grünen reden. Die nackten Wahlergebnisse sagen noch nicht viel – in den Bundes- sowie den Landtagswahlen im Westen gewann die Partei zuletzt zwischen zehn und zwanzig Prozent der Stimmen, im Osten zwischen fünf und zehn Prozent, mit Ausreißern nach oben (der Kretschmann-Effekt in Baden-Württemberg) und nach unten (im saarländischen Landtag sind die Grünen nicht vertreten). Die strategische Position der Grünen im Parteiensystem wird erst bei genauerem Hinsehen sichtbar. Sie sind in der Bundesregierung und, gleichauf mit der SPD, der Union voraus, in elf von 16 Landesregierungen vertreten. Sie sind die Partei mit den meisten Koalitionsoptionen.
Tatsächlich sind die Grünen mit allen anderen Parteien (die AfD natürlich ausgenommen) in den unterschiedlichsten Konstellationen in Koalitionen verbunden ist. Die Grünen sind es denn auch, die nicht selten darüber entscheiden, ob die SPD oder die Union bei einer Regierungsbildung zum Zuge kommt. Auch in den Kommunen, zumal in Groß- und in Universitätsstädten, haben sie oft eine Schlüsselstellung.
Was die Zahlen nicht sagen, sagt der Name der Partei – die „Grünen“: Die Partei verfügt über ein besonderes politisch-moralisches Kapital. Sie hat früh und konsequent ein Jahrhundertthema, vielleicht das Thema des 21. Jahrhunderts, zu ihrem Markenzeichen gemacht. Sie hat die Frage ins Zentrum der Politik gerückt: Wie lässt sich die unserer inzwischen weltweit vorherrschenden Zivilisation eigene Dynamik der Naturzerstörung aufhalten? Mit dieser Frage ist sie in einem elementaren Sinn auf der Höhe der Zeit.
Eine spannungsreiche Doppelagenda führte zum Erfolg
Die Grünen sind nun aber nicht nur eine Partei, die sich ein zum Menschheitsdrama gewordenes Menschheitsthema wie keine andere Partei auf ihre Fahnen geschrieben hat; ein Thema, über dessen existenzielle Dringlichkeit sich die große Mehrheit der Menschen hierzulande einig ist. Die Grünen sind auch die politische Speerspitze einer Bewegung, deren gesellschaftspolitische Ziele man kulturrevolutionär nennen darf. Dass hinter dieser Bewegung keine Mehrheit steht, ist offensichtlich.
Die beiden Agenden der Grünen sind keineswegs zwingend miteinander verknüpft. Der Kampf gegen die naturzerstörende Dynamik unserer Zivilisation will Bedrohtes bewahren. Er ist in seinem Grundimpuls konservativ, auch wenn er auf Veränderungen dringen muss. Dass sich die konservative Agenda der Naturbewahrung mit einer gesellschaftspolitisch revolutionären Agenda verband, hat historisch kontingente Gründe. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Es ist eben diese spannungsreiche Doppelagenda, mit der die Grünen zu einem Schlüsselakteur der deutschen Politik geworden sind.
Zwei Faktoren wirken also zusammen: Die Grünen haben eine Position im Parteiensystem, die ihnen besonderen Einfluss sichert. Und: Sie repräsentieren dank ihrer Doppelagenda ein intellektuelles und soziales Milieu, das sich in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen eine hegemoniale Stellung aufgebaut hat; ein Milieu, das seinem Selbstverständnis nach als progressive Vorhut der Gesellschaft den Weg zu weisen hat. Die öffentlich-rechtlichen Medien, durch eine Art von Steuer sicher und auskömmlich finanziert, sind eine Kernzone dieses Milieus. In den Hochschulen, vor allem den Hochschulleitungen, ist das Milieu dominant, überhaupt in kulturellen Einrichtungen aller Art. Auch die evangelische Kirche ist mit einer starken Fraktion hier zu nennen. Es handelt sich ausnahmslos um Institutionen, um Akteure mit weiten öffentlichen Resonanzräumen. Man sieht sie und man hört sie.
Eintrittsrecht ist kein Bleiberecht
Eine im kulturellen Raum dominante Minderheit mit einer sehr eigenen Agenda, eine dieser Minderheit eng verbundene Partei, die im politischen Raum aus einer strategischen Schlüsselstellung heraus mit erheblicher Durchsetzungsmacht agiert – es kann eigentlich nicht verwundern, dass diese Konstellation, wenn sie von Dauer ist und ihre Wirkungen zeitigt, bei denen, die die Minderheiten-Agenda nicht als die ihre ansehen, zunehmend Gefühle der Ohnmacht, der Frustration, des Ärgers auslöst: Die Dinge gehen ihren Gang, scheinbar unaufhaltsam; der demokratische politische Prozess hält sie nicht auf und lenkt sie nicht um, er geht an ihnen vorbei; Mehrheiten werden allenfalls noch demoskopisch sichtbar, bleiben aber folgenlos – das sind Wahrnehmungen, die, wenn sie sich weit verbreiten, in eine Legitimationskrise führen müssen.
Auf zwei ganz verschiedenen Konfliktfeldern hat sich in den vergangenen Jahren besonders deutlich beobachten lassen, wie es geschieht, dass Minderheitenmacht, selbstbewusst und sichtbar ausgeübt, bei Mehrheiten ein, sei es resignatives, sei es aggressives, Bewusstsein ihrer Ohnmacht aufkommen lässt. Die Rede ist von der Asyl- und der Sprachpolitik.
Die deutsche Asylpolitik wird als Politik der offenen Grenzen wahrgenommen. Und sie ist es in einem etwas genauer zu bestimmenden Sinn auch. Deutschland ist ein Land mit offenen Grenzen für die, die diese Grenzen erreichen. Denn dort verschafft das eine Wort Asyl (fast) jedem, der es ausspricht, ein Eintrittsrecht. Das Eintrittsrecht ist noch kein Bleiberecht. Aber es schließt den Anspruch auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren ein, in dem Gerichte das letzte Wort haben. Wie immer dieses Verfahren ausgeht, das Jahre dauern kann – die große Mehrheit derer, die einmal ins Land gelangt sind, bleibt. Von Kontrolle über die eigenen Grenzen kann da keine Rede mehr sein.
Begrenzte Handlungsspielräume der deutschen Politik
Da Deutschland zugleich aus vielen Gründen für die meisten Migranten das attraktivste unter allen Ländern Europas ist (und viel tut, um noch attraktiver zu werden), zieht es einen beträchtlichen Teil jener Millionen auf sich, die sich aus den Elends- und Krisengebieten Afrikas und des südwestlichen Asiens auf den Weg nach Europa machen.
Mit dem, wofür einmal das Wort Asyl stand, hat das tatsächliche Geschehen nicht mehr viel zu tun. Die Politik hat sich dieser Herausforderung, seit sie 2015 dramatisch zutage trat, nie ernsthaft gestellt. Sie hat sich der Wirklichkeit verweigert, allenfalls mit Palliativen reagiert. Diese Diagnose stellt übrigens nicht infrage, dass Deutschland gegenüber den globalen Flüchtlingsbewegungen starke humanitäre Verpflichtungen hat. Aber sie wirft die Frage auf, ob wir diese Verpflichtungen durch eine Politik faktisch offener Grenzen erfüllen können und sollten.
Natürlich ist dabei zu bedenken, dass das Asylrecht inzwischen weitgehend europäisches Recht ist, die Handlungsspielräume der deutschen Politik mithin begrenzt sind. Aber das heißt nicht, dass es keine Handlungsspielräume gibt. Vor allem aber: Jener Geist moralisch überhöhter Wirklichkeitsverweigerung, der die deutsche Asylpolitik grundsätzlich bestimmt, wird immer wieder auch im deutschen Einwirken auf die europäische Asylpolitik wirksam.
Eine Mischung aus Überzeugung, Ratlosigkeit und taktischem Schweigen
Und noch eines ist in Rechnung zu stellen: Dem europäischen Asylrecht und der deutschen Asylpraxis soll ein neues deutsches Staatsangehörigkeitsrecht zur Seite gestellt werden. Mit dem Angebot der – vererblichen – Mehrfach-Staatsangehörigkeit für jeden, der in dieses Land einwandert, wird die demokratische Idee der Staatsbürgerschaft stillschweigend beiseitegeschoben. Denn die setzt ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zum und der Mitverantwortung für das Gemeinwesen voraus. Die zum Normalfall erklärte, auf Dauer gestellte Mehrfach-Staatsangehörigkeit löst diesen Zusammenhang auf. Mehrfach-Staatsangehörigkeit als Selbstverständlichkeit bedeutet ja, dass man Deutscher werden kann, ohne sich zu dem Land, über dessen Geschick man in Zukunft mitentscheidet, bekannt zu haben. Man erwirbt Rechte, Sicherheiten, Ansprüche, kann im Übrigen aber bleiben, was man ist.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Regierungen und parlamentarische Mehrheiten in Deutschland nie eine Mehrheit der Bürger für ihre Politik in Sachen Asyl und Staatsangehörigkeit gewonnen haben. Kontrollierte Grenzen, Rücksichtnahme auf die Integrationskapazitäten des Landes von den Schulen bis zum Wohnungsmarkt, keine nahezu bedingungslos zugestandene Mehrfach-Staatsangehörigkeit – das waren und sind die Bedingungen, unter denen starke Zuwanderung aus fremden Kulturräumen allenfalls hätte mehrheitsfähig gemacht werden können. Sie zu ignorieren war durchaus legal. Die von der Verfassung bevollmächtigten Autoritäten durften so handeln, wie sie gehandelt haben und noch handeln. Aber es war und ist nicht klug. Es war und ist, um es härter zu sagen, unverantwortlich. Der Schaden, der dem Gemeinwesen zugefügt wird, ist noch nicht wirklich abzusehen. Aber es spricht viel dafür, dass zumal der Vertrauensverlust dramatische Folgen haben wird. Natürlich können und sollen repräsentative Demokratien nicht demoskopisch regiert werden. Aber wenn es nicht um Meinungen zu Tagesfragen geht, sondern um das Selbstverständnis, die Befindlichkeit der Bürger in einem sehr elementaren Sinn, dann ist der Oktroi einer Minderheit, der irreversibel neue Verhältnisse schafft, und sei er noch so legal, für eine Demokratie ein Problem.
Gegen die These, dass die Grünen die politische Kernformation dieser Minderheit seien, mag man anführen, sie seien doch nach langen Jahren in der Opposition erst 2021 wieder auf die Regierungsbank gelangt. Gewiss, niemand wird die Rolle übersehen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Asylpolitik gespielt hat. Aber es war die von den Grünen wie von keiner anderen Partei mit Hingabe betriebene, weit ausstrahlende moralische Codierung des Themas Asyl, die jenen Oberflächenkonsens überhaupt erst möglich gemacht hat, welcher die deutsche Asylpolitik seit 2015 in einer merkwürdigen Mischung aus Überzeugung, Ratlosigkeit und taktischem Schweigen deckt. Etwas anders formuliert: Es ist die moralische Codierung des politischen Konfliktes, die der Minderheit ihre Überlegenheit verschafft.
Es geht um Sprachpolitik
Die Grünen haben diese Codierung sehr weit getrieben, so weit, dass sie sich grundsätzlich in den status confessionis gestellt sehen, wenn die offenen Grenzen zur Debatte stehen. Das kostet sie und das Land einen hohen Preis. Sie sind auf dem Feld der Asylpolitik ganz und gar unbeweglich geworden – und mit ihnen das Land.
Zweites Beispiel: die Sprachpolitik – auf den ersten Blick ein sehr anderer, auf den zweiten dann aber doch ein durchaus verwandter Fall. Es geht in der Tat um Sprachpolitik, nicht, wie häufig behauptet, Sprachwandel. Sprachwandel ist ein Prozess, der, die ganze Sprachgemeinschaft erfassend, nicht gesteuert wird. Sprachpolitik ist gezieltes Einwirken auf die Sprache, um sie in den Dienst eigener Zwecke zu nehmen. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es im Selbstverständnis derer, die sie vorwärtstreiben, das Deutsche ohne Rücksicht auf Sprachstruktur und Sprachgeschichte in eine Sprache umzuformen, die nicht „diskriminiert“, die in diesem Sinn „gerecht“ ist. Gefragt wird dabei freilich nicht nach erfahrenen Diskriminierungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Unterstellt wird einfach, dass Sprache per se ein wesentliches Medium der Diskriminierung sei. Und es wird aus dieser Unterstellung das Recht abgeleitet, die Sprachgemeinschaft durch den Oktroi einer neuen Sprache umzuerziehen. Das radikale Gendern ist zurzeit der harte Kern der Kampagne. Aber sie zielt darüber hinaus.
Die Minderheit, die sich diesem Programm verschrieben hat und sich gern in der Rolle des Anwalts sieht, der, ob bevollmächtigt oder nicht, für die eigentlich Betroffenen spricht, verfügt nicht über die Zwangsmittel des Staates. Aber ihr wird vielfältige obrigkeitliche Unterstützung zuteil, Unterstützung auch vonseiten von Organisationen mit weitreichender Sprachpräsenz wie den öffentlich-rechtlichen Medien, den Hochschulen, den Kirchen. Dass dabei viel Anpassung im Spiel ist, ändert nichts an der Wirkung. Und auch nichts daran, dass der gezielte Zugriff auf die Sprache mit dem Ziel, das Denken der Menschen zu verändern, jedenfalls eine totalitäre Anmutung hat, so hehr die Motive auch sein mögen.
Die Vorkämpfer des moralisch zwingend Gebotenen
Vor allem aber hat eine totalitäre Anmutung, dass hier eine Minderheit eine ganze Gesellschaft per Oktroi auf den Weg des Fortschritts, so, wie sie ihn definiert, zu bringen versucht. Dass diese Minderheit mit ihrer Sprachpolitik keine Mehrheit hinter sich hat, so sichtbar ihre Erfolge dank ihrer mächtigen Bundesgenossen auch sind, weiß jeder, der es wissen möchte.
Man könnte dagegen allenfalls vorbringen, die Mehrheit interessiere sich für den Sprachkonflikt, der da vom Zaun gebrochen worden sei, wenig. Er sei ihr gleichgültig. Natürlich sind Sprachentwicklungen für die meisten Menschen kein Alltagsthema. Und Fehlentwicklungen auch nur für wenige ein Alltagsärgernis. Aber Sprache ist für jeden Menschen etwas Gemeinsam-Ureigenes, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Irgendwann, irgendwo spürt er, dass, wer über seine Sprache verfügt, auch über ihn verfügt.
Und die Wahrnehmung, einer aufdringlichen sprachlichen Umerziehung unterworfen zu werden, die sich der Menschen ohne ihr Zutun bemächtigt, in den Fernsehnachrichten, in amtlichen Mitteilungen aller Art, in Programmheften, in Predigten, wird zur Ohnmachtserfahrung. Dass die Menschen sich dabei dem Vorwurf ausgesetzt sehen, Partei für die Ungerechtigkeit zu ergreifen, wenn sie nicht mitmachen, tut ein Übriges. Auch hier bestätigt sich, wie eng die Macht der Minderheit mit ihrer Strategie zusammenhängt, als Vorkämpfer des moralisch zwingend Gebotenen aufzutreten.
Nur Mut und Lernbereitschaft können etwas bewegen
Am Ende bringt das Thema noch eine andere Minderheit, eine Gegenminderheit sozusagen in den Blick, ohne die die Macht der progressiven Minderheit nicht zu erklären wäre. Die Rede ist von der AfD. Die AfD wirkt in das politische System durch eine Art von negativem Midas-Effekt hinein. Was sie berührt, wird nicht Gold, es wird für die anderen politischen Akteure Unrat. Man nimmt es nicht mehr in die Hand, geschweige denn in den Mund. Was AfD-kontaminiert ist, heißt das, ist nicht mehr kontrovers diskutierbar – das Migrationsthema vor allen anderen. Jeder, der die Politik der offenen Grenzen infrage stellt, kann der Annäherung an die AfD bezichtigt werden. Und da endet dann die Diskussion.
Es ist klar, dass die progressive Minderheit aus dieser Konstellation Nutzen zieht; mehr als das: dass sie sie nach Kräften ausbeutet. Ihre Minderheitenmacht beruht zu einem nicht geringen Teil auf ihr. Nicht nur, weil das wohlbegründete kategorische Nein aller anderen Parteien zum Bündnis mit der AfD den Raum der Möglichkeiten parlamentarischer Mehrheitsbildung ein beträchtliches Stück nach links verschiebt, sondern eben auch und vor allem, weil die Existenz der AfD der progressiven Minderheit die Chance eröffnet, den Diskussionsraum für die kontroverse Suche nach Problemlösungen zu ihrem Vorteil beträchtlich einzuengen. Das hat natürlich viel mit der historisch bedingten besonderen Verfemung des Rechtsextremismus in Deutschland zu tun. Aber die Problematik der Wechselwirkung zwischen Minderheit und Gegenminderheit für die deutsche Politik wird deshalb nicht kleiner.
Es wäre ein der Demokratie ganz unangemessener Fatalismus, das, was hier beschrieben wurde, als eine Vorgegebenheit für die deutsche Politik anzusehen, mit der die Republik unabänderlich leben müsste. Nicht Fatalismus, sondern illusionsfreier Realismus ist in Krisenkonstellationen gefordert. Um handlungsfähig zu werden, bedarf es freilich mehr. Es bedarf in hohem Maße zweier Tugenden, die im politischen Alltag meistens nur schwach ausgeprägt sind: des Mutes und der Lernbereitschaft. Diese Tugenden können etwas bewegen. Die verfahrene Asylpolitik, die bei allem moralischen Pathos in einer objektiven Unaufrichtigkeit befangen ist, böte sich für einen Anfang an. Zahlreiche Hinweise sprechen dafür, dass auf diesem Politikfeld besonders viel Vertrauen zerstört worden ist.
Der Verfasser ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Mannheim.