- „Schlimmer als ,Bild‘“
Seit Wochen sieht sich Rammstein-Sänger Till Lindemann einer Verdachtsberichterstattung ausgesetzt. Im Interview kritisiert sein Anwalt Simon Bergmann insbesondere den „Spiegel“ und dessen „sensationsheischenden Stil“.
Simon Bergmann ist Mit-Inhaber der Kanzlei Schertz Bergmann und ein Anwalt des Rammstein-Sängers Till Lindemann. Er ist vor dem Landgericht Hamburg jüngst erfolgreich gegen den Spiegel vorgegangen. Das Gericht sprach von einem fehlenden sogenannten „Mindestbestand an Beweistatsachen“ und untersagte dem Hamburger Nachrichtenmagazin Teile seiner Lindemann-Berichterstattung.
Herr Bergmann, worauf beruhen die Strafanzeigen gegen Till Lindemann, die die Staatsanwaltschaft Berlin veranlasst haben, Ermittlungen aufzunehmen?
Die Behörden in Vilnius haben ihre Ermittlungen bereits eingestellt mangels hinreichenden Tatverdachts. Die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wurden ausgelöst nicht durch Strafanzeigen von Opfern, sondern von zwei Personen und einem Verein, die sich auf die Medienberichterstattung beziehungsweise ein YouTube-Video berufen.
Die Berliner Staatsanwaltschaft hat also nicht von Amts wegen ein Verfahren eröffnet, obwohl die Informationen ja öffentlich zugänglich waren, sondern erst reagiert auf die Strafanzeigen?
So, wie wir das der Ermittlungsakte entnehmen können, ist das der Fall. Ob die Behörde da auf öffentlichen Druck reagierte, vermag ich nicht zu sagen. Andererseits: Wir haben nichts dagegen. Ein Ermittlungsverfahren hat den Vorteil, dass die Vorwürfe geklärt werden, und zwar von Profis und nicht von Investigativ-Journalisten. Uns ist es lieber, dass die Staatsanwaltschaft das überprüft, als dass es im Raum stehen bleibt. Solche Fälle kenne ich auch, dass Verdachtsberichterstattung stattfindet, aber parallel überhaupt gar kein Ermittlungsverfahren läuft. Das ist ein neues Phänomen.
Ist Till Lindemann bereits behördlich als Beschuldigter vernommen worden?
Dazu kann ich nichts sagen, weil es direkt das Mandatsverhältnis betrifft. Wir haben ihm umgehend auch einen Strafverteidiger vermittelt, der diesen Part der Angelegenheit als Experte betreut und auch Akteneinsicht erwirken kann. Wir haben für solche Fälle eine Mannschaft am Start, die wir dem Mandanten anbieten können. Die besteht aus Presserechtlern, einem Strafverteidiger und je nach Sachlage auch aus einem Kommunikationsberater.
In der Causa Julian Reichelt / Axel Springer hatte Altverleger Dirk Ippen in München interveniert und im letzten Moment jede Veröffentlichung über angebliche Verfehlungen des Bild-Chefredakteurs im Ippen-Konzern unterbunden. Daraufhin kündigte sein Investigativ-Team und ging geschlossen zum Spiegel. Diese Leute muss und will der Spiegel nun nutzen und auslasten.
Bisher spektakulärstes Ergebnis ist die Titelgeschichte vom 9. Juni 2023: „Rammstein: Sex, Macht, Alkohol - Was die jungen Frauen aus der ‚Row Zero‘ berichten“, produziert von 13 Autoren. Erkennen Sie in der jüngsten Verdachtsberichterstattung ein Muster? Ist das eine neue Entwicklung mit Ergebnissen, die man so vor fünf oder vor zehn Jahren noch nicht hatte?
Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Thema mit der MeToo-Bewegung und Harvey Weinstein einen ganz neuen Spin gewonnen hat in den Medien. Sie haben bemerkt, dass dieses Thema die Leute triggert. Es erzielt hohe Aufmerksamkeit, alleine schon das Schlagwort „MeToo“, und es garantiert hohe Verkaufszahlen, insbesondere im Digitalbereich.
Deswegen werden Sie auch kaum MeToo-Berichte finden ohne Bezahlschranke. Sie erscheinen in der Print-Ausgabe – die man kaufen muss – und häufig im kostenpflichtigen Abo-Bereich, sind dann also nicht frei zugänglich. Der Grund dafür ist, dass man damit auch Geld machen will. Das hat zu einer erheblichen Zunahme unzulässiger Verdachtsberichterstattung geführt und zu einer gefährlichen Verschiebung der Vorgaben.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Verdachtsberichterstattung?
Das ist sehr komplex, eigentlich ein Fall für juristische Seminare. Es gibt nicht dieses Schwarz-Weiß. Es muss jeweils im Einzelfall beurteilt werden. Um identifizierend berichten zu können, muss in der Regel ein Prominenter betroffen sein. Handelt es sich nicht um einen Prominenten, ist die Geschichte meistens gestorben, denn dann fehlt das öffentliche Interesse für eine namentliche Nennung oder Darstellung der Person. Das Berichterstattungsinteresse der Öffentlichkeit muss nicht nur gegeben, sondern auch relativ hoch sein, denn die Stigmatisierungsgefahr ist enorm. Man berichtet ja über etwas, das man noch nicht geklärt hat.
Die Autoren und ein Justitiar des Verlags sagten neulich in einer Video-Diskussion mit ausgewählten Lesern – „Spiegel-Backstage“ vom 29. Juni – selbst: „Wir wissen nicht, ob das stimmt, was wir da schreiben.“
So ist das. Es gibt Vorwürfe, es gibt Indizien oder Zeugen oder auch nicht. Der Betroffene bestreitet es oder äußert sich nicht. Ob derjenige das getan hat, was jemand behauptet, das weiß man nicht. Das muss das Ermittlungsverfahren klären oder ein Gericht oder es klärt sich von selbst auf. Nur: Solange das eben nicht geklärt ist, hat der Beschuldigte als unschuldig zu gelten. Deswegen gibt es diese strengen Vorgaben vom Bundesgerichtshof über das Bundesverfassungsgericht bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Was das öffentliche Interesse bei Rammstein angeht, muss man sich keine großen Gedanken machen: Ja, natürlich sind hier solche Vorwürfe auch namentlich grundsätzlich möglich. Jedenfalls ist die fehlende Prominenz nicht das K.O.-Kriterium. Nur: Bei Lieschen Müller oder Otto Normalverbraucher würde der Artikel ohnehin nicht so richtig ziehen. Dazu gehört schon Prominenz, damit sich das verkauft.
Die zweite Hürde ist dann die wesentliche: Die Presse darf je nach Schwere der Vorwürfe erst berichten, wenn hinreichende Indizien vorliegen oder ermittelt wurden. Die Presse muss jetzt selber schauen: Gibt es genug, das dafür spricht, dass derjenige das getan hat? Sie muss einen Mindestbestand an Anknüpfungstatsachen besitzen und auf Verlangen auch vorweisen, die ihre Darstellung untermauern. Erst dann darf sie ihren Verdacht publizieren. An dieser Stelle werden die meisten Fehler gemacht.
Inwiefern?
Ich habe in letzter Zeit sehr häufig erlebt, dass die Presse in einem sehr frühen Stadium über einen Verdacht, über Vorwürfe berichtet. Das heißt: Es gibt noch gar kein Ermittlungsverfahren. Oder wie beim kanadisch-italienischen Moderator, Schauspieler und Komiker Luke Mockridge, ein anderer Fall, den ich betreut habe: Ein Ermittlungsverfahren ist sogar schon eingestellt worden von der Staatsanwaltschaft mangels hinreichenden Tatverdachts. Es gab eine Anzeige seiner Ex-Freundin, er habe versucht, sie zu vergewaltigen, und daraufhin hat die Staatsanwaltschaft über ein Jahr lang ermittelt.
Es hat mich schon gewundert, dass in dieser Zeit noch nichts erschien, denn meistens ist es so, dass die Presse von solchen Vorgängen doch Kenntnis erlangt. Manchmal gibt es Leaks bei den Behörden, denn so eine Akte geht durch viele Hände, manchmal sind es auch die Anzeigeerstatter selbst, die Journalisten einen Tipp geben, damit etwas in ihrem Sinne passiert.
Bei Mockridge kamen die Ermittler zum Ergebnis: Da ist nichts dran. Widersprüchliche Aussagen, Fremdsuggestion, Eifersucht, sie hat die Wohnung zerstört und ihn dann Monate später angezeigt. Trotzdem hat der Spiegel nach Einstellung der Ermittlungen „berichtet“. Und das hat ihm das Hanseatische Oberlandesgericht in zwei Instanzen mit Urteil vom 20. Juni 2023 untersagt. Umso mehr müsste nämlich in solchen Fällen die Unschuldsvermutung gelten. Das ist eben das Problem.
Sven Mandel; CC BY-SA 4.0
Die Presse achtet nicht mehr darauf, dass es hinreichende Indizien gibt. Dabei gilt: Je schwerer der Vorwurf, umso strenger die Anforderungen. Sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch oder gar Vergewaltigung, noch dazu unter Einsatz von K.O.-Tropfen, sind schwerwiegende Vorwürfe, die der Beschuldigte nie wieder los wird, selbst wenn er in einem Strafverfahren freigesprochen werden würde. Dementsprechend stark müssen die Indizien sein, um berichten zu können.
Gehen Sie davon aus, dass solche Rechtsstreitigkeiten und sogar Niederlagen wie jetzt vor dem Hamburger Oberlandesgericht, die ja auch erhebliche Kosten verursachen, von vornherein von den Magazinen in ihren Umsatzerwartungen einkalkuliert werden?
Ich glaube schon, dass man die Risiken bei den Verlagen sieht und bewusst eingeht. Die Spiegel-Justitiare und auch die Investigativ-Redakteure äußern sich in jüngster Zeit schon im Vorfeld einer rechtlichen Auseinandersetzung häufig zur angeblichen Gründlichkeit ihrer Recherchen. Es wundert mich sehr, dass die Presse sich offensichtlich genötigt fühlt, ihre Recherchen derart pro-aktiv zu rechtfertigen, handelt es sich doch um eine journalistische Selbstverständlichkeit.
Oder sie dreht den Spieß um und nutzt die Gelegenheit, sich für ihre eigene Professionalität, Unbefangenheit, ihr Ethos feiern zu lassen und damit zusätzlich Werbung zu machen. Einerseits will man sich wappnen gegen Kritik, andererseits ist es ein Marketing-Tool: „Wie liefen unsere Recherchen im Fall Rammstein/MeToo?“ Es werden wieder neue Leute angezogen, die sich das anhören: Schaut es Euch doch mal an, dann könnt Ihr überlegen, ob Ihr nicht noch ein Abo abschliesst. Das ist wirklich neu.
Ist das Voyeurismus, der da instrumentalisiert und umsatzmäßig ausgeschlachtet wird? Zumal man vom Privatleben der Band Rammstein so gut wie nichts weiß. Die schotten sich ab und erlauben keine Einblicke, schon gar keine Homestories; was erst recht neugierig macht.
Definitiv. Das ist ja auch mein Kritikpunkt. Die vermeintlichen Täter gehen mit ihrem Privatleben nicht hausieren. Bei Luke Mockridge war das Ermittlungsverfahren eingestellt, als die Berichte begannen, bei Rammstein wurden Verdachtsberichte zum Anlass eines Ermittlungsverfahrens genommen, beim Galeristen Johann König gab es überhaupt kein Ermittlungsverfahren, bis heute nicht, was Die Zeit nicht hinderte, gegen ihn loszulegen.
Die Zeit konnte schreiben, was sie will, aber die Staatsanwaltschaft hat das völlig kalt gelassen?
Richtig. So ist es. Die haben das alles kalt geschrieben. Im Fall Johann König gab es überhaupt nichts. Was aber die Zeit nicht daran gehindert hat, immer weiter zu machen. Und da haben wir auch im Fall Lindemann ein Problem. Ich kann natürlich verstehen, und es ist grundsätzlich zulässig, dass die Presse auch ohne ein begleitendes Ermittlungsverfahren über Verdachtsmomente berichtet, denn die Presse hat eine „Wachhund-Funktion“. Aber so leichtfertig, wie das inzwischen häufig geschieht, ist das hochproblematisch und wird zu Recht in vielen Fällen von den Gerichten untersagt.
Sorry, aber die Berichterstattung soll doch die fehlenden Indizien und Beweise erst liefern. Weil ja alle Angst haben, die Frauen sind alle eingeschüchtert von der Macht der Gegenseite, man werde ihnen ohnehin nicht glauben und so weiter. Verdachtsberichterstattung à la Spiegel oder Süddeutsche oder Zeit oder NDR ist nach dieser Arbeitsthese der gerechte und seit Weinstein überfällige Ausgleich für die strukturelle Ungerechtigkeit, die gerade Frauen in MeToo-Fällen rund um die Uhr widerfährt.
In der Hoffnung, dass man die Opfer dadurch überhaupt erst dazu bringt, sich zu outen und sich vertrauensvoll an die Redaktion zu wenden, damit sie untermauern, was am Anfang an Vermutungen und Behauptungen und Hörensagen ganz schön wackelig gewesen sein mag.
Auch diese Fälle kenne ich. Die Berichterstattung soll im Nachhinein durch ihre Folgerungen gerechtfertigt und abgesegnet werden. Ich habe sogar davon gehört, dass Pressevertreter anonym Strafanzeigen erstattet haben, um dann über ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren berichten zu dürfen. Der Druck, den die Presse macht, ist jedenfalls enorm. Bei Lindemann wurde ja schon nach kürzester Zeit von den Kommentatoren gefordert, jetzt müsse doch aber die Staatsanwaltschaft mal was machen, da könne man doch nicht einfach zusehen.
Wie ist denn die Beweislage im Fall Rammstein?
Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zum Stand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nicht äußern möchte. Demgegenüber kann ich beurteilen, was in den presserechtlichen Auseinandersetzungen von den Verlagen vorgebracht wurde. Und da überzeugen mich die Mittel zur Glaubhaftmachung der Vorwürfe – Vergewaltigung, Verabreichung von K.O.-Tropfen zwecks Ermöglichung sexueller Handlungen – in keinster Weise.
Da kommt erstaunlich wenig, bedenkt man, was in den Artikeln und Schlagzeilen angekündigt wurde. Der Spiegel steht da exemplarisch für eine Vorgehensweise, die ich in zahlreichen MeToo-Berichterstattungen der jüngsten Zeit beobachte: Wenn es in dem Artikel heißt: Wir haben mit rund zwei Dutzend Frauen gesprochen und daraus ergibt sich ein bestimmtes Muster, ein System. Ein Mann, der Grenzen überschreitet. Ein Mann, der den Willen von Frauen nicht respektiert. Man liest den Artikel und denkt sich: Naja, zwei Dutzend Frauen – das hört sich aber doch ziemlich schlimm an. Da muss etwas dran sein. Und je höher die Zahl der Zeuginnen ist, um so mehr glaubt man, dass das stimmt.
Als Betroffener muss man dann klagen, also in diesem Fall eine Einstweilige Verfügung gegen den Spiegel beantragen. Nur dann hat man eine Möglichkeit, zu erfahren, was denn daran überhaupt stimmt. Meist wissen Sie ja gar nicht, wer da was wem vorwirft. Oft sind das auch angebliche oder tatsächliche Vorgänge, die Jahre zurückliegen. Sie müssen die Presse also gerichtlich zwingen, ihre Rechercheergebnisse offenzulegen.
Im Rahmen eines Prozesses muss dann das Gericht prüfen, ob die genannten Grundsätze der Verdachtsberichterstattung eingehalten wurden. Weitere Kriterien sind, ob ausgewogen und objektiv berichtet wurde, ob Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wurde. Und es darf halt nicht vorverurteilt werden. Übrigens alles Punkte, die meines Erachtens in dem Artikel auch missachtet wurden. Anyway. Dann prozessieren Sie und dann legt der Spiegel seine Rechercheergebnisse vor und dann überprüfen Sie: Wo sind denn eigentlich die zwei Dutzend Frauen?
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Es geht im Text um das „Casting-System“, aber eben auch um den Vorwurf, Lindemann habe K.O.-Tropfen eingesetzt oder einsetzen lassen, um Frauen gefügig zu machen. Und nur diesen letzteren, diesen wirklich schwerwiegenden Vorwurf greifen wir auch an, weil das „Casting-System“ mehr eine Frage der moralischen Bewertung ist. Sie können fragen: Muss man heute noch mit Groupies ins Bett gehen, muss man eine „Auswahl“ vornehmen nach optischen Kriterien? Das kann man alles kritisch bewerten und den moralischen Zeigefinger erheben. Ich finde diese gespielte Empörung völlig überzogen. Für mich ist das eine puritanische Hypermoral, die da an den Tag gelegt wird.
Aber: Wenn es zu Straftaten gekommen sein sollte, dann möchte ich das nicht verteidigen. Ich kann es nur im Moment überhaupt nicht erkennen, jedenfalls nicht im Hinblick auf ein „Casting-System“. Und was die K.O.-Tropfen angeht, da habe ich nichts Relevantes in den vom Spiegel vorgelegten Unterlagen und Beweismitteln gefunden. Das hat mittlerweile auch das Landgericht Hamburg so bewertet.
Wie gehen die Gerichte nach Ihrer Erfahrung mit solchen Darlegungen der Presse um?
Die Gerichte schauen sich sehr genau an, was es an harten Fakten, an wirklichen Beweisen gibt, und zwar jenseits des sehr beliebten Hörensagen, um so einen schwerwiegenden Verdacht zu begründen. Der Bundesgerichtshof hat das der Bild-Zeitung in einem Fall, in dem es auch angeblich um K.O.-Tropfen ging, sehr klar gemacht: Strafanzeige kann jeder erstatten. Jeder gegen jeden. Das beweist zunächst gar nichts.
Bild hatte den Fußballer mit voller Namensnennung und Foto in einem sehr frühen Stadium – Anzeige und Ermittlungen – vorgeführt, und damit erlitt das Blatt Schiffbruch, denn, so der BGH, es war in diesem Moment noch überhaupt nichts geklärt und es lagen nicht genug Beweistatsachen vor, um namentlich über den Beschuldigten zu berichten. Ein sehr wichtiges und richtiges Urteil. Wenn wir das jetzt übertragen auf eine Verdachtsberichterstattung ohne ein paralleles Ermittlungsverfahren wie im Falle Johann König, dann verbietet sich jede namentliche Berichterstattung.
Also folgt daraus was?
Die Medien müssen herausfinden: Ist eine Aussage glaubwürdig? Gibt es zusätzliche Indizien, Fakten? Die These, in Aussage-gegen-Aussage-Delikten gewinne immer der Mann wegen des Grundsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“, ergo dürfe darüber auch nie berichtet werden, ist falsch. So ist das nicht. In Strafverfahren zu Sexualdelikten wird sehr sorgfältig überprüft, weil die Staatsanwaltschaften sich nicht vorwerfen lassen wollen, zu schnell solche Verfahren einzustellen.
Das ist auch richtig so. Es ist anders als noch vor einigen Jahren. Es gibt weitere Möglichkeiten; man hat sehr geschulte Beamte und Beamtinnen vor allem. Es gibt Indizien wie Whatsapp-Nachrichten, Verletzungsspuren, Mobilfunkdaten zu Aufenthaltsorten. Das wird dann häufig auch zur Anklage gebracht. Ob am Ende eine Verurteilung steht, ist eine andere Frage, aber die Staatsanwaltschaften geben sich jede Mühe.
Der Tenor ist häufig ein anderer.
Das Argument von Pressevertretern und Aktivistinnen, sie müssten es öffentlich machen, weil strafrechtlich ja eh nichts herauskomme und die Täter immer ungeschoren davonkämen, trifft nicht zu. Das ist natürlich eine fatale Tendenz, eine fatale Bewegung. Damit kann man jede Berichterstattung irgendwie rechtfertigen. Das wäre ein Dammbruch, wenn die Gerichte darauf eingingen. Dann würde ein Vorwurf ausreichen, darüber zu berichten, so wie jetzt auch im Fall Lindemann teilweise unter detaillierter Darstellung intimster Sexualpraktiken vorgegangen wird.
Eigentlich ist das Intimsphäre pur, ein geschützter Bereich, der die Öffentlichkeit überhaupt nichts angeht. Das hat in einer Berichterstattung nichts zu suchen. Man rechtfertigt es hier damit, dass es darum gehe, dieses „Casting-System“ und dessen vermeintliche Perversion zu dokumentieren. Und man will nahelegen, dass die Frauen angeblich mit K.O.-Tropfen in einen Zustand der Bewusstlosigkeit versetzt wurden, weil sie sich nicht mehr an alles erinnern.
Das Bild der selbstbestimmten Frau, die Sex mit Lindemann aus welchen Gründen auch immer gezielt sucht, findet nicht einmal als theoretische Möglichkeit statt.
Im Prinzip werden alle Frauen zu Opfern gemacht, die mit einem Prominenten ins Bett gehen.
Nun sagt der Spiegel, Rammstein habe die Casting-Frau gefeuert – erstes Schuldeingeständnis – und die Band habe auf Fragen nicht geantwortet – zweites Schuldeingeständnis.
Es gibt kein einziges Schuldeingeständnis. Die Artikel werden manipuliert. In vielerlei Hinsicht. Sie werden kaum einen finden, in dem nicht das Schlagwort „MeToo“ ausgebreitet wird. Der Spiegel bewirbt seine MeToo-Berichterstattung, die er hinter der Bezahlschranke Spiegel+ bereithält, marktschreierisch wie ein Baumarkt seine Angebote. Und dann der Name „Harvey Weinstein“. Er darf niemals in den entsprechenden Artikeln fehlen.
Damit wird schon mal das Framing bereitet, der große Zusammenhang, in dem auch Till Lindemann zu bewerten sei?
Der Harvey-Weinstein-Fall zieht die Leute an wie Licht die Motten. Weinstein ist bis zum Ende seines Lebens verurteilt, weil er in einer Vielzahl von Fällen Frauen missbraucht und vergewaltigt und seine Macht missbraucht hat. Er war Filmproduzent, er hatte sehr viel Macht, er konnte bestimmen, ob jemand auf der Karriereleiter hoch- oder runterrutscht.
Aber Machtmißbrauch wird auch Lindemann vorgeworfen.
Deswegen rede ich von Manipulation. Die beiden Fälle werden gleichgestellt. Da steht immer ein Foto von Weinstein dabei, meist vor Gericht, sehr heuchlerisch nach dem Motto „Mit Weinstein begann alles und auch dort begann alles mit einer einzelnen Frau…“ – es wird also suggeriert, so könnte auch Till Lindemann enden. Wegen schwerer Sexualstraftaten, was nach aktuellem Sachstand nicht ansatzweise in Betracht kommt und übrigens nicht einmal von den Vorwürfen, die der Spiegel erhebt, gedeckt ist: Zu den K.O.-Tropfen habe ich in der Akte nichts gefunden an Beweismitteln. Der Spiegel rudert an dieser Stelle auch schon zurück und sagt, diesen Verdacht habe er gar nicht erhoben, sondern er sei in erster Linie auf dieses „Casting-System“ zu sprechen gekommen und eben auf Machtmissbrauch.
Was ist der Machtmissbrauch im Fall Lindemann?
Vergleicht man den mit dem Fall Weinstein, stellt man fest: Der Machtmissbrauch existiert nicht. Was soll das für eine Macht sein? Prominenz des Rockstars soll die Macht sein. Die nutze er aus. Nur: Diesen Vorwurf könnten Sie gegen jeden Prominenten erheben, der mit einer Frau, die vielleicht nicht seine eigene ist, Sex hat.
Haben Sie Anhaltspunkte gefunden, dass Ihr Mandant Frauen etwas in Aussicht gestellt oder versprochen hat? Stellt er einen Background-Chor zusammen? Eine Tanzgruppe? Vocals? Oder hat er ihnen umgekehrt mit Karriereende gedroht, wenn sie nicht gefügig sind?
Nichts dergleichen. Das behaupten auch die Frauen nicht, die der Spiegel jetzt als Zeuginnen heranzieht. In den Eidesstattlichen Versicherungen, die ich gesehen habe, ist davon nicht die Rede. Im Gegenteil: Die Frauen sagen überwiegend, dass sie wussten, dass es in der After-Show-Party zu Sex kommen wird, und sie sind trotzdem hingegangen. Lediglich zwei dieser Eidesstattlichen Versicherungen stammen von Frauen, die aus eigener Anschauung berichten. Andere berichten lediglich Atmosphärisches. Und dass sie gegangen sind, als es ihnen unbehaglich wurde.
Wurden Frauen daran gehindert, zu gehen, als sie gehen wollten?
Hierzu habe ich in den vom Spiegel überreichten Unterlagen nichts gefunden. Aber: Ich selbst war nie dabei. Ich kann also nur wiedergeben, was ich bisher an gesammelten Aussagen gesichtet habe. Ergebnis: Keine der Frauen sagt, sie sei daran gehindert worden, den Raum zu verlassen. Und keine der Frauen redet von Machtmissbrauch. Im Gegenteil: Die meisten, so verstehe ich jedenfalls die Aussagen, waren an Sex interessiert.
Also es musste erst der Spiegel kommen und mit seinen 13 Autorinnen und Autoren das ganze Bild erstellen und erst aus diesem ergab sich dann der Vorwurf des Machtmissbrauchs – das ist die redaktionelle Linie und Beweisführung?
Es hat auch keine der Frauen selbst Strafanzeige erstattet oder selbst Schritte eingeleitet, bis heute nicht. Das ist ja auch ein Indiz dafür, dass sie die Vorgänge selbst als freiwillig angesehen haben. Was bleibt, ist die Darstellung von zwei Frauen, sie könnten sich vorstellen, dass ihnen etwas ins Getränk getan wurde. Das sagen sie nicht ausdrücklich – sie sprechen von Erinnerungslücken. An andere Sachen erinnern sie sich wiederum sehr detailliert. Es gibt nach ihren Aussagen Flashbacks, es gibt Aussetzer.
Wie reagiert der Spiegel auf rechtliche Schritte von Ihnen? Die Gerichte gehen ja dazu über, ausnahmslos immer vor Erlass einer Einstweiligen Verfügung die Gegenseite anzuhören, zum Teil mit grosszügigen Fristen, manchmal sogar zweimal. Ist es gleichzeitig ein Verhaltensmuster des Spiegel-Verlags, immer Zwangsmittel zu provozieren, niemals etwas freiwillig zu widerrufen oder richtigzustellen, es sogar immer auf eine Hauptverhandlung ankommen zu lassen?
Wir haben neuerdings Vorgaben vom Bundesverfassungsgericht. Es hat beanstandet, dass der jeweilige Antragsgegner – in unserem Fall also die Presse – vor einer Entscheidung nicht hinreichend Gehör gefunden habe. Das Problem ist jetzt nur: Durch diese intensive Beteiligung des Gegners dauert es jetzt extrem lange bis zum Erlass einer Einstweiligen Verfügung. Es werden Schriftsätze ausgetauscht …
… zweimal hin, zweimal zurück …
… ja, in schweren Fällen wie hier beim Spiegel – davon müssen Sie ausgehen. Antragsschrift, Erwiderung, Replik und Duplik.
Und mit welchen Fristen arbeitet das Gericht dann?
Das Gericht setzt den Verlagen in der Regel eine Frist von drei Tagen zur Erwiderung auf den Verfügungsantrag. Das klingt straff, aber die Verlage sind in einer besseren Position. Die Redaktionen haben recherchiert und kennen ihr Material. Sie mussten davon ausgehen, dass der Artikel angegriffen wird. Das trifft die also nicht überraschend, wenn sie gegenüber dem Gericht Stellung nehmen müssen.
Trotzdem beantragen die Verlage Fristverlängerungen, die in der Regel gewährt werden, so dass den Verlagen häufig bis zu acht Tagen Stellungnahmefrist zur Verfügung stehen. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Dem angegriffenen Artikel können sie in der Regel nicht entnehmen, welche Beweistatsachen die Redaktionen konkret ermittelt haben. Erst durch den Erwiderungsschriftsatz erlangen sie hiervon erstmalig Kenntnis.
Man muss sich dann mit langen Schriftsätzen und unzähligen Anlagen nebst Eidesstattlichen Versicherungen befassen, was unter erheblichem Zeitdruck geschieht, weil man ja schnellstmöglich eine Einstweilige Verfügung erwirken will. Die eigene Stellungnahme wird dann wieder dem Verlag überreicht und eine erneute Erwiderungsfrist gesetzt. Von einer „Waffengleichheit“ kann nicht die Rede sein. Bis es dann zum Erlass einer einstweiligen Verfügung kommt, kann es vier bis fünf Wochen dauern. Dann ist natürlich das Kind in den Brunnen gefallen. Der Rufschaden ist nicht mehr revisibel.
Ich höre trotzdem einen gewissen Respekt aus Ihren Worten, was die Arbeit der Gerichte angeht.
Auf jeden Fall, denn die haben es ja nicht einfach. Ich muss wirklich die Instanzgerichte in Schutz nehmen, denn sie müssen jetzt dieses Gehör ausreichend gewähren und vorsichtig sein, um nicht wieder vom Bundesverfassungsgericht gerügt zu werden.
Ich hatte neulich einen Fall, da ging es auch um schwere Vorwürfe im Bereich MeToo. Das Gericht hat alles richtig gemacht, die Schriftsätze gingen jeweils zweimal hin und her, und dann hat das Gericht entschieden und die Einstweilige Verfügung zu den wichtigsten Punkten erlassen. Und der Spiegel, der auch hier der Gegner war, hat das gerügt beim Bundesverfassungsgericht, weil er meinte, er hätte noch ein weiteres Mal gehört werden müssen vor der Entscheidung. Und da sagte das Bundesverfassungsgericht: Wenn Ihr – das Landgericht Hamburg – schon so viele Schriftsatzwechsel zulasst, dann könnt Ihr auch eine mündliche Verhandlung ansetzen.
Tatsächlich gilt ja vor Gericht der Grundsatz der Mündlichkeit, der mündlichen Verhandlung. Nur sind im Presserecht die Sachen von solcher Eilbedürftigkeit, dass für Verhandlungstermine eigentlich zunächst keine Zeit ist. Aber Karlsruhe sagt jetzt: Wenn Ihr merkt, es dauert zu lange mit dem Hin und Her, müsst Ihr eigentlich eine mündliche Verhandlung anberaumen. Das wird jetzt ganz schwierig, denn ich weiß von allen Gerichtsstandorten: Die haben gar nicht die Möglichkeiten, in jedem Einstweiligen Verfügungsverfahren sofort eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. So viele Termintage gibt es gar nicht. Die Kammern können nicht von morgens bis abends in einer Dreierbesetzung verhandeln.
Also das Eilverfahren kann man sich damit eigentlich sparen?
Ja. Ich habe mit der Pflicht zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich kein Problem, nur müssen die Gerichte dann die Ressourcen erhalten, auch kurzfristig Termine anzusetzen. Kurzfristig heißt: innerhalb von drei Tagen. Alles andere wäre eine erhebliche Verzögerung. Das ist ein Problem, das unbedingt gelöst werden muss, das vom Tisch muss: dass diese Verfahren viel zu lange dauern.
Ich sehe darüber hinaus das Problem, dass man erst einmal als Betroffener eine Menge Geld bei Ihnen auf den Tisch legen muss, bevor man überhaupt so eine Nummer des Spiegel oder von wem auch immer angreifen kann.
Das kommt hinzu. Ich habe Mandanten, die ehrlich sagen: Wir müssen leider die Waffen strecken, so leid es uns tut. Es geht finanziell nicht mehr.
Wenn das bis zum Oberlandesgericht geht und dann noch nach Karlsruhe, das wird richtig teuer – und wehe, man verliert am Ende. Haben Sie ein Beispiel?
Ich nenne Ihnen einen Fall. Der Mandant, selbst in den Medien tätig, wurde beschuldigt. Wir sind gegen den Spiegel vorgegangen, haben eine Einstweilige Verfügung beantragt. Das hat sehr lange gedauert. Sie wurde in wesentlichen Teilen erlassen, also zunächst ein Erfolg, aber der Spiegel erhob Anhörungsrüge und das BVerfG setzte die Vollstreckung der Einstweiligen Verfügung aus.
Folge: Das, was wir erreicht hatten, die Streichung von Passagen des Artikels, wird rückgängig gemacht, der Text kann wieder online gestellt werden. Weiter verhandelt werden sollte dann im August, womit zwei weitere Monate verloren waren. Und der Spiegel hatte bereits angekündigt: Er geht durch alle Instanzen und zwingt meinen Mandanten auch noch in die Hauptsacheklage. Vor diesem Hintergrund hat die Fortsetzung des Verfahrens keinen Sinn mehr gemacht.
Wenn es also so läuft wie vom Spiegel angedroht, heißt das: Sie haben im Verfügungsverfahren zwei Instanzen mit zwei mündlichen Verhandlungen und Sie haben dann noch ein Hauptsacheverfahren mit mindestens zwei, wahrscheinlich aber drei Instanzen, denn dann geht es vom Landgericht über das Oberlandesgericht bis zum Bundesgerichtshof.
Welche Summen kommen da zusammen?
Das richtet sich nach dem Streitwert und dem Verfahrensgang – je schwerer die Rufschädigung, desto höher die Kosten. Wenn der Mandant am Ende verliert, was Gottseidank selten passiert, muss er alle Kosten tragen, auch die der Gegenseite. Da kann ein sechsstelliger Betrag zusammenkommen. Natürlich gibt es Leute, die sich das leisten können und müssen, aber es gibt eben auch Mandanten, die sind zwar prominent, aber keine Millionäre.
Und die werden in die Knie gezwungen.
Und das wissen die Medien, die Prozessgegner. Die kalkulieren die finanzielle Situation des Betroffenen ein. Die sagen sich: Wir machen die Verdachtsberichterstattung trotz aller Bedenken, aber der Scoop ist so gross, dass es sich auf jeden Fall rechnet und die Anwaltsgebühren buchen wir mit ein. Nach meinem Eindruck ist der Spiegel mittlerweile auf einem Bild-Zeitungs-Niveau angelangt. Im konkreten Fall sogar eindeutig schlimmer als die Bild. Da werden Methoden angewandt, die eigentlich dem Boulevardjournalismus zugeschrieben werden. Das ist eine schlechte Entwicklung.
Nun ist Boulevard nicht per se etwas Schlechtes. Man kann auch seriösen Boulevard-Journalismus betreiben.
Das stimmt. Man kann es nicht verallgemeinern. Aber: Ich habe inzwischen seltener Fälle gegen die Bild als gegen den Spiegel.
Sehen Sie Reformbedarf bei den Gesetzen oder ist es eine Entwicklung, die die Rechtsprechung zu verantworten hat?
Weder noch. Wir brauchen keine anderen Gesetze, denn die sind ja vorhanden. Und die Gerichte kann man auch nicht pauschal kritisieren. Es gibt genug Entscheidungen, mit denen unzulässige Verdachtsberichterstattung verboten wurde.
Was mir allerdings Sorge macht, ist der Druck, der von den Medien auf die Gerichte ausgeübt wird. So gibt es ein regelrechtes „Hamburg-Bashing“, insbesondere seitens des Spiegel und dessen Justitiare. Ein immer wiederkehrendes Narrativ, in Fachkreisen, auf Presserechts-Foren, auch in Beiträgen: Das Hamburger Landgericht, die Pressekammer, sie sei zu pressefeindlich. Die Richter entschieden immer nur zu Lasten der Presse. Die Pressekammer, das wird Mantra-artig vorgetragen, sei „die Kammer des Schreckens“.
Aber die kennen sich doch aus, die Richter dort.
Deswegen geht man ja zu ihnen. Wir könnten ja auch sonstwohin gehen. Zum Landgericht Trier. Das bringt aber nichts. Wir brauchen Gerichte, die sich mit der Materie auskennen. Und das ist neben der angeblichen Feindseligkeit der Hamburger der zweite Kritikpunkt der Spiegel-Juristen: Man müsse den fliegenden Gerichtsstand abschaffen. Das ist eine Besonderheit bei Medien, die Zeitungen oder Artikel im Internet publizieren. Normalerweise müssen Sie dort klagen, wo das Unternehmen seinen Sitz hat. Hier können Sie überall dort klagen, wo die Artikel gelesen werden können.
Aber der Spiegel hat doch seinen Sitz in Hamburg.
Deswegen verstehe ich diese Kritik nicht. Es ist richtig, dass der in seinen Rechten Verletzte überall dort seine Rechte geltend machen kann, wo er verletzt wird, weil die Medien dort verbreitet werden.
Auch in Trier.
Auch in Trier oder in Posemuckel. Aber dahin geht man natürlich nicht, weil die gar keine Pressekammern haben. Das hat keinen Sinn. Das landet dann auf dem Tisch eines Richters, der von morgens bis abends Mietrecht macht. Wir brauchen in Pressesachen ein kompetentes Gericht und da kommen in Deutschland nicht so sehr viele in Frage. Das Landgericht Hamburg kennt sich traditionell mit dieser Materie gut aus, weil Hamburg die Medienhauptstadt war und immer noch eine ist.
Weiß denn das Bundesverfassungsgericht, was es mit seinen Anforderungen in zeitlicher und finanzieller Hinsicht anrichtet?
Ich glaube, dass das Bundesverfassungsgericht noch nicht erkannt hat, welche praktischen Auswirkungen die jüngsten Entscheidungen haben. Die ständigen Interventionen und Aufhebungen von Urteilen durch Karlsruhe, noch einmal anhören, noch einmal erwidern, noch einmal Fristverlängerung, Replik, Duplik, führen zu einer enormen Verunsicherung der Instanzgerichte, die momentan extrem lange Verfahren zur Folge hat, was die Betroffenen schutzlos einer rechtswidrigen Berichterstattung ausliefert.
Karlsruhe hat sich von den Instanzgerichten nicht ausreichend respektiert gesehen, regelrecht mißachtet, und wollte denen mal zeigen, wo der Hammer hängt.
So sieht das aus. Es kommt noch etwas hinzu: Normalerweise mahnt man zunächst ab und erst wenn das erfolglos bleibt, beantragt man eine Einstweilige Verfügung. Die Abmahnung sollte bisher als ausreichende Information des Gegners genügen, dass er weiß, was auf ihn zukommt, wenn er nicht einlenkt und keine Unterlassungserklärung unterschreibt. Nur: Neuerdings darf zwischen Abmahnung und Verfügungsantrag keinerlei Unterschied mehr bestehen. Der Vortrag vor Gericht muss praktisch identisch sein.
Man muss also in die Abmahnung bereits alles hineinschreiben, was man weiß; seine Karten komplett auf den Tisch legen.
Exakt. Ich mahne vielfach gar nicht mehr ab. Zeitverschwendung. Beim Spiegel weiß ich: aussichtslos. Ich habe beim Spiegel noch nie erlebt, dass da irgendeine Einsicht war, dass die gesagt hätten: Oh, hier haben wir einen Fehler gemacht. Wenn man vorher abmahnt, muss es kongruent sein. Es muss exakt übereinstimmen mit der anschließenden Antragsbegründung, damit nicht trotz Abmahnung noch einmal Gehör gewährt werden muss. Und das ist eigentlich Wahnsinn, denn wenn Sie zwei Sätze dazuschreiben – und sei es nur eine Rechtsansicht – , trauen sich die Gerichte nicht mehr, die beantragte Verfügung ohne nochmalige Gelegenheit zur Stellungnahme zu erlassen. Das ist das Problem: Das Bundesverfassungsgericht merkt gar nicht, was es mit seinen schallenden Ohrfeigen, seinen neuen Anforderungen anrichtet.
Und dann sind wir nicht mehr bei Stunden und Tagen im vorläufigen Rechtsschutz, sondern bei Wochen und Monaten.
Das ist der Stand der Dinge.
Wie geht es jetzt im Fall Lindemann weiter?
Da bin ich jetzt gespannt. Wir haben auch noch andere Medien im Visier. Ich finde die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung und des Norddeutschen Rundfunks auch unzulässig, aber sie ist nicht ganz so vorverurteilend und reißerisch wie die vom Spiegel. Die ist schon sehr extrem.
Kann es sein, dass Ihr Bild vom Spiegel ein bisschen gelitten hat?
Ja. Sehr.
Aber das ist doch Ihr Geschäftsmodell. Wenn Sie es mit lauter seriösen, korrekten, hochanständigen Journalisten zu tun hätten, dann gäbe es für Schertz Bergmann gar nichts zu tun.
Mich ärgert dieser sensationsheischende, gar nicht der Aufklärung dienende Stil. Schauen Sie sich doch mal die Titelseite des Spiegel zur Rammstein-Geschichte an. Da wird zur reißerischen Überschrift „Der Fall Rammstein“ ein die ganze Titelseite ausnehmendes Foto von Till Lindemann abgebildet, welches ihn geschminkt während eines Rammstein-Konzerts zeigt.
Das Bild ist also aus dem konkreten Zusammenhang herausgenommen und wird gezielt dafür eingesetzt, den Verdacht zu erhärten und die Geschichte zu promoten. Mit dem Bild soll vermittelt werden: Dieser Mann ist ein Sexmonster, muss also schuldig sein. Und der Spiegel will mir in den Gerichtsverfahren erzählen, dass man seiner Pflicht zur objektiven Berichterstattung in Verdachtsfällen stets nachkomme.
Hierin zeigt sich auch der Belastungseifer, der bei den Recherchen zum Thema MeToo an den Tag gelegt wird. Anstatt in Ruhe zu recherchieren und auch nach entlastenden Umständen zu suchen, geht es nur darum, den nächsten Weinstein-Fall aufzudecken, egal was für und gegen den Betroffenen spricht.
An dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zur Staatsanwaltschaft. Die ist gesetzlich verpflichtet, auch entlastendes Material zu ermitteln und heranzuziehen. Sind die Vorwürfe plausibel? Ist das zeitlich und räumlich, örtlich überhaupt möglich, was vorgeworfen wird?
Ihr Bild von der Staatsanwaltschaft ist intakt geblieben?
Ja. Da kann ich nichts kritisch bemerken. Sie ist auch im Fall Lindemann nur mit Bedacht an die Öffentlichkeit gegangen.
Es wurde ihr in Berlin von Medien vorgeworfen, sie habe ihre Ermittlungen verschwiegen.
Die haben eigentlich alles richtig gemacht. Die Unschuldsvermutung zwingt zur Zurückhaltung. Ich habe es in anderen Fällen häufig erlebt, dass die Staatsanwaltschaften viel zu früh Presseerklärungen herausgeben bei Prominenten, einfach weil es Prominente sind.
Gibt es Mediengeilheit bei Staatsanwälten?
Möchte ich nicht ganz abstreiten. Wie es die bei Anwälten auch gibt.
Der erste öffentliche Reflex, als Sie ins Spiel kamen, lautete: Aha, die haben jetzt Schertz Bergmann engagiert und die haben nichts besseres zu tun, als erst einmal eine Salve von Verwarnungen, Einschüchterungen, Drohungen auf Gott und die Welt und vor allem die armen Frauen abzufeuern und Journalisten und Zeugen zum Schweigen zu bringen. Wie gehen Sie damit um?
Das ist natürlich ein Versuch, uns mundtot zu machen. Der Vorwurf geht ohnehin völlig an der Sache vorbei. Wir haben eine Presseerklärung herausgegeben, die besagt: Gegen den falschen Vorwurf, Lindemann habe Frauen mit K.O.-Tropfen betäubt, um sie dann sexuell zu misshandeln, werden wir vorgehen. Weiter haben wir erklärt, dass wir gegen unzulässige Verdachtsberichterstattung vorgehen werden. Es kann also keine Rede davon sein, dass wir gegen jeden vorgehen, der einen Vorwurf erhebt. Aber wir haben gesagt: Wir gehen gegen diesen speziellen Vorwurf vor, weil er falsch ist. Das „Casting-System“ haben wir gar nicht erwähnt.
Wenn aber jemand sagt wie Shelby Linn, sie sei gespiked worden, ihr seien K.O.-Tropfen gegeben worden, dann gehen wir dagegen vor. Weil es eine falsche Tatsachenbehauptung ist. Und es muss einem Betroffenen möglich sein, sich hiergegen zu verteidigen, um den Rufschaden einzudämmen. Das Recht zur Verteidigung gehört zu den fundamentalen Prinzipien eines Rechtsstaats.
Das Gespräch führte Jens Peter Paul.
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