Totgesagte leben länger, und ein Paradebeispiel dafür ist die Schallplatte. Gleich mehrfach wurde ihr ein baldiges Ende prophezeit: erst durch die Konkurrenz handlicherer und überspielbarer Audiocassetten. Dann mit der Einführung der digitalen CD. Mit dem Aufkommen des Musik-Downloads und Streamings per Internet sollte dann endgültig Schluss mit physischen Speichermedien sein.
Tatsächlich hat die Schallplatte bis heute treue Anhänger. Laut Statista wurden 2021 allein in Deutschland 4,5 Millionen Platten verkauft. Vinyl-Fans schätzen es, eine eigene Musiksammlung „zum Anfassen“ im Regal zu haben, die auch „offline“ immer verfügbar ist, sie betrachten beim Hören gerne schöne große Plattencover und Booklets. Und sie schwören auf den Klang hochwertiger analoger HiFi-Anlagen, mit dem digital komprimierte Ware nicht mithalten könne.
Viele passionierte Schallplattenhörer müssen jedoch passen, wenn die Frage gestellt wird, warum ihr Lieblingsmedium so eigenwillig gestaltet ist: Will man nach einer Langspielplatte eine Single hören, muss man die Geschwindigkeit von 33,3 Umdrehungen pro Minute auf 45 umstellen und einen Plastik-Adapter (in den USA „the spider“ genannt) zu Hilfe nehmen, um die kleinere Platte mit ihrem viel größeren Loch in der Mitte auf dem Plattenteller zu platzieren.
Warum so umständlich? Die Antwort: Die beiden Formate sollten ursprünglich gar nicht zusammenpassen, waren nicht für den Betrieb auf ein und demselben Gerät gedacht. Das geht zurück auf das Jahr 1949 und einen Formatkrieg, den sich zwei rivalisierende Firmen lieferten.
Zu dieser Zeit waren „78er“-Platten der Tonträger-Standard. Seit den 1910er-Jahren auf dem Markt, hatten sie Vorläufer wie den Phonograph von Thomas Edison verdrängt, bei dem Rillen auf einer Röhre statt auf einer Scheibe eingeritzt waren.
Mit 78 Umdrehungen pro Minute boten die Platten in der größeren Ausführung (gut 30 Zentimeter Durchmesser) Platz für 4 bis 5 Minuten Musik pro Seite. Längere Musikstücke wie Opern oder Konzerte wurden auf entsprechend viele Platten verteilt. In Papp-Covern, die wie ein dickes Buch zum Aufblättern in einen Einband gebunden waren, verkaufte man sie als „Album“.
Gefertigt waren die Platten aus einer Pressmasse, die Schellack als Bindemittel enthielt – gewonnen aus dem Sekret der Schildlaus. Ein Material, das den Nachteil hatte, zerbrechlich zu sein: Fiel eine Schellackplatte herunter, zersprang sie oft. Zudem war die Klangqualität mäßig.
Ein Nachfolgeformat sollte her, und entsprechende Bemühungen gab es bereits seit den 1930er-Jahren. Doch der Zweite Weltkrieg verzögerte alles, und so war es erst im Juni 1948 soweit: Die US-Firma Columbia stellte die „Longplaying microgroove record“ (abgekürzt LP) vor, hergestellt aus „nonbreakable vinylite“.
Die Vinyl-Platte war leichter und elastischer, auch beim Herunterfallen blieb sie meist intakt. „Microgroove“ stand für feinere, enger platzierte Rillen, mit 22,5 Minuten gab es nun eine viel längere Spieldauer pro Seite bei gleichem Durchmesser. Ein ganzes dickes Album passte nun auf eine einzige schlanke Schallplatte, worauf die Werbung ausgiebig und ausdauernd hinwies – der Begriff „Album“ hielt sich als Synonym für LP und wird selbst im Streaming-Zeitalter noch verwendet.
Die Klangqualität der Vinyl-Scheiben überstieg jene der 78er deutlich, was auch dadurch erreicht wurde, dass der Tonarm viel leichter und feiner war. Das sorgte für weniger Rauschen und weniger kratzige Nebengeräusche bei der Abtastung.
Ein schier unschlagbares Angebot? Mitnichten, befand das konkurrierende Unternehmen RCA. Als Antwort auf Columbias Innovation kündigte die Firma im Januar 1949 ein eigenes Produkt an. Pläne dafür hatte man seit geraumer Zeit in der Schublade, jetzt musste es ganz schnell gehen. Das Prinzip war dasselbe – aber die konkrete Umsetzung ganz anders als bei der LP.
Ein Vorläufer von Mixtapes und Playlists
Die RCA-Vinylplatte war mit 17,5 Zentimeter Durchmesser kleiner und drehte sich schneller. Sie bot pro Seite Platz für maximal 4 bis 5 Minuten Musik, in der Regel also für einen Song, daher nannte man sie „Singles“. Zu Beginn kamen die Platten in verschiedenen Farben, welche die unterschiedlichen Genres symbolisierten: beispielsweise grüne Platten für Countrymusik, rote für Klassik, schwarze für Popmusik. Das erwies sich in der Herstellung aber als zu teuer, so dass schwarzes Vinyl bei Singles wie auch bei LPs der Standard wurde.
RCA glaubte, dass Konsumenten ein größeres Interesse daran hatten, einzelne Titel zum kleinen Preis zu erwerben, statt für mehr Geld ganze LP-Titelsammlungen zu kaufen. Der Clou: Hörer konnten und sollten die Singles zu individuellen Musikprogrammen gruppieren, anders als bei einer vorgegebenen LP-Reihenfolge. Ein Vorläufer von Mixtapes auf Cassetten – und von Playlists, wie sie beim heutigen Streaming gängig sind.
Dazu gab es Single-Plattenspieler als Wechsler-Geräte. Auf einer dicken Spindel konnte man 10 Singles wie auf einem Podest stapeln, die dann automatisch nach und nach einzeln auf den Plattenteller fielen und nacheinander abgespielt wurden.
Diesem Mechanismus diente das größere Loch in der Plattenmitte, das einen weiteren Vorteil hatte: Anders als bei LPs konnte man einen ganzen Stapel ausgepackter Singles beim Befüllen des Wechslers in einer Hand halten (mit dem Daumen in dem großen Mittelloch), ohne die Rillen zu berühren. Das Label in der Mitte einer Single war extra dicker als der Rest der Platte mit den Rillen, damit die Schallplatten sich nicht gegenseitig zerkratzten, wenn man sie auf dem Player stapelte.
Auch in großen Jukeboxen in Clubs und Kneipen kamen primär Singles zum Einsatz. Hier warf man Münzen ein und wählte mit Nummerntasten einzelne Titel an, die dann von einem Mechanismus hinter Glas auf den Plattenteller gehievt wurden.
RCA hatte allerdings die Attraktivität der LPs unterschätzt. Auf die große Nachfrage nach zusammenhängenden Musikprogrammen reagierte man zunächst mit Alben, die wie zu Schellack-Zeiten mehrere Singles in Buchform zusammenfassten. Diese verkauften sich aber im Vergleich zu LPs schlecht, so dass RCA ab 1950 zähneknirschend dazu überging, neben Singles auch LPs anzubieten.
Bald wurden Kombi-Geräte auf den Markt gebracht, die sowohl LPs als auch Singles (und anfangs zusätzlich auch noch die alten Schellackplatten) abspielen konnten, oft zusammen mit einem Radio eingebaut in einen hölzernen Musikschrank als repräsentatives Möbelstück mit Entertainment-Faktor fürs Wohnzimmer.
Günstigere Plattenspieler für Singles wurden ab da vor allem für die junge Zielgruppe vermarktet. Just zu dieser Zeit wurde Rock‘n‘Roll populär, so dass Singles vor allem bei Jugendlichen gefragt blieben. Immer öfter ging das Marketing von Singles und LPs nun Hand in Hand: Single-Auskopplungen von einem oder mehreren Hits aus LPs wurden bald zum Standard.
Mit den Jahren wurden Kombi-Plattenspieler günstiger und kompakter – reine Single-Player verschwanden weitgehend. Spätere Single-Pressungen hatten daher teils ein kleines Loch, bei britischen Pressungen war das seit jeher so.
Statt einem „Entweder, oder“ endete der Vinyl-Formatkrieg also mit einem „Sowohl als auch“. Anders als beispielsweise in den Formatkriegen im Bereich Home-Video: Aus den Schlachten VHS gegen Betamax in den 1980er-Jahren und Blu-ray gegen HD-DVD in den 2000ern ging jeweils nur ein Sieger hervor.
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