Deutsche Umweltvereine fordern die Politik seit Jahren dazu auf, im Klimaschutz den Empfehlungen von Wissenschaftlern zu folgen. Kurz vor dem Vollzug des deutschen Atomausstiegs am Samstag erweist sich der Appell „follow the science“ jedoch als schwere Hypothek.
Denn während etwa der BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland das Aus für die drei letzten deutschen Kernkraftwerke mit „bunten Abschaltfesten“ feiern will, fordern führende Klimawissenschaftler und Spitzenforscher das genaue Gegenteil: den Weiterbetrieb der drei Meiler Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2.
In einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) argumentieren 20 Wissenschaftler und weitere Unterstützer, dass die drei Reaktoren mit ihrer Jahresproduktion von zuletzt 32,7 Milliarden Kilowattstunden mehr als zehn Millionen Haushalte in Deutschland mit klimafreundlicher Elektrizität versorgt haben. Damit könnten im Vergleich zur Kohlekraft auch weiterhin bis zu 30 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr eingespart werden.
„Aus diesen Gründen fordern wir Sie im Interesse der Bürger in Deutschland, Europa und der Welt dazu auf, die deutschen Pläne zum Atomausstieg zu überdenken und die noch zur Verfügung stehenden Kernkraftwerke weiterzunutzen“, heißt es in dem offenen Brief: „Die Kernenergie in Deutschland kann klar ersichtlich zur Linderung der Energiekrise und dem Erreichen der deutschen Klimaziele beitragen.“
Zu den Unterzeichnern gehört der Physik-Nobelpreisträger Klaus von Klitzing vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung. Auch der Nobelpreisträger für Physik, Stephen Chu, der im Kabinett von Barack Obama US-Energieminister war, gehört zu den Zeichnern des Appells an Olaf Scholz. „Ihre Führungsposition als Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland steht in dieser Frage in besonderer Verantwortung“, heißt es in dem Schreiben.
Insbesondere zahlreiche führende Klimaforscher haben den offenen Brief unterzeichnet, darunter James Hansen vom Goddard Institute for Space Studies und Kerry Emanuel vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Am Samstag endet in Deutschland eine Ära
Dazu kommen Pushker Kharecha, Klimawissenschaftler an der Columbia University in New York, der Geophysiker Szymon Malinowski aus Warschau und Tom Wigley von der Universität Adelaide in Australien. Vom Institut für Küstenforschung in Geesthacht haben die Professoren Hans von Storch und Eduard Zorita unterzeichnet. Weitere Naturwissenschaftler wie der Physiker André Thess von der Universität Stuttgart und der Leibniz-Preisträger Herbert Roesky von der Universität Göttingen sind dabei, ebenso eine Reihe von Ökonomen und Juristen.
Initiiert wurde der offene Brief vom Verein „Replanet DACH“, einem Zusammenschluss von europäischen Ökomodernisten. Dabei handelt es sich um Umwelt- und Klimaschützer, die vor allem im Einsatz von Technologie und wissenschaftsbasierten Lösungen den besten Ansatz sehen. Technologieverbote und Wohlstandseinbußen halten Ökomodernisten für nicht zielführend.
Mit der Abschaltung der drei letzten deutschen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland endet in Deutschland am Samstag nach mehr als 60 Jahren die Ära der friedlichen Nutzung der Kernenergie für die Stromerzeugung. Zeitweise hatten 19 Kernkraftwerke zwischen 25 und 30 Prozent des deutschen Strombedarfs gedeckt.
Inzwischen wird der Wegfall der Atomkraftwerke vor allem durch eine stärkere Nutzung von Kohle- und Gaskraftwerken kompensiert. Deutschland hat deshalb nach Polen und Tschechien die höchsten spezifischen CO₂-Emissionen in der Stromproduktion.
Die Bundesregierung will bis 2030 den Anteil erneuerbarer Energien auf 80 Prozent fast verdoppeln und das schwankende Aufkommen von Wind- und Solarkraft durch den Neubau von rechnerisch etwa 50 Gaskraftwerken der 500-Megawattklasse ausgleichen.
Unter dem Eindruck der durch den russischen Angriffskrieg verstärkten Energiekrise hatten zuletzt zahlreiche Staaten die Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke verlängert. In Frankreich, Großbritannien, Polen, Tschechien und den Niederlanden ist zudem der Bau neuer Kernkraftwerke geplant.
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