„Ich habe nicht zugestimmt, weder im Kabinett noch im Bundestag“, das könnte ich behaupten. Denn in der Tat wurde 2011 der zweite Ausstieg aus der Kernenergie ohne meine Stimme beschlossen.
Nachdem der erste (und eigentliche!) Atomausstieg 2002 das Werk der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder war und die schwarz-gelbe Bundesregierung, der ich angehörte, 2010 noch eine deutliche Laufzeitverlängerung beschlossen hatte, ging es nach dem Reaktorunfall von Fukushima 2011 plötzlich ganz schnell: Deutschland sollte nun doch zügig aus der Kernenergie aussteigen, Ende 2022 sollten die letzten drei Reaktoren vom Netz gehen.
Natürlich empfand auch ich damals die Bilder aus Japan, diesem hochzivilisierten Hightech-Land als beklemmend. Zehntausende Todesopfer, was für eine Tragödie.
Erst nach und nach wurde klar, dass davon fast alle Opfer des Tsunamis waren, während bis heute umstritten ist, ob die Kernschmelze im Atomkraftwerk überhaupt Todesopfer gefordert hat. 2021 kam zumindest das UN-Strahlenschutzkomitee UNSCEAR zu dem Ergebnis, dass sich eine erhöhte Strahlenbelastung der japanischen Bevölkerung in Folge des Unglücks nicht nachweisen ließ.
Damals schien das Ausmaß der direkten Folgen des Reaktorunglücks wesentlich größer, und dennoch war ich vom – wie es schien – endgültigen Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie nicht überzeugt, was nach meiner Wahrnehmung auch für weite Teile der Union galt.
Denn an den wissenschaftlichen Fakten hatten auch die Ereignisse in Japan nichts geändert: Die 17 Kernkraftwerke, die 2011 in Deutschland noch im Netz waren, gehörten zu den sichersten der Welt, auch für potenzielle Naturkatastrophen waren sie wesentlich besser gewappnet als Fukushima. Und im Hinblick auf die Parameter Kosten, Flächen- und Ressourcenbedarf, vor allem aber Verlässlichkeit und CO₂-Emissionen schienen sie mir in der Gesamtbetrachtung weiter anderen Formen der Energieüberzeugung objektiv überlegen.
Die Entscheidung schien unumstößlich
Ich habe meine Zweifel aber nicht laut artikuliert, wie die meisten. Zu unumstößlich schien die Entscheidung, außerdem konnte ich mich als Bundesfamilienministerin nicht zuständig fühlen. Dass ich an den Abstimmungen nicht teilgenommen habe, war zwar eine Heldentat, aber keine in Bezug auf die Energieversorgung unseres Landes – am Tag des Bundestagsbeschlusses kam unsere erste Tochter zur Welt.
„Auf das Wohl der deutschen Bundesregierung! Dies ist ein guter Tag für die russische Energiepolitik, dies ist ein guter Tag für Russland“, mit diesen Worten erhob der russische Botschafter am Abend, nachdem Angela Merkel den Ausstieg auf einer Pressekonferenz verkündet hatte, das Glas. Er hatte einige Chefredakteure in seine Botschaft Unter den Linden eingeladen, darunter den Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner, der davon kürzlich in WELT berichtete.
Ob die Zementierung der Abhängigkeit von russischem Gas wirklich ein guter Tag für Russland war, bezweifle ich. Für Putin aber auf jeden Fall, denn der Weg, den Deutschland an diesem Tag endgültig einschlug, hat ihm ein Machtinstrument in die Hand gegeben, das er inzwischen unverhohlen als Waffe gegen die westliche Welt nutzt.
Mit dieser Schuld, die mindestens aus mangelndem politischen Stehvermögen bestand, müssen alle leben, die damals in Deutschland politisch Verantwortung getragen haben.
Heute haben wir aber die Chance, uns zu besinnen und wenigstens für die nächsten Jahrzehnte klüger zu entscheiden. Wir könnten die drei noch laufenden Kernkraftwerke im Netz halten, die drei kürzlich abgeschalteten reaktivieren und den Bau neuer Kernkraftwerke planen. Wir könnten diesen historischen Irrtum korrigieren und wieder in die Kernenergie einsteigen – was denn sonst?
Ein Windpark von der Fläche Münchens
Denn selbstverständlich besteht unser aktuelles Problem in Deutschland nicht nur darin, dass wir in den vergangenen Jahren „die Erneuerbaren zu wenig ausgebaut haben“, wie es allenthalben vorwurfsvoll insbesondere in Richtung der Union heißt.
Nehmen wir an, wir hätten versucht, alle 17 in Deutschland 2011 noch laufenden AKWs durch erneuerbare Energien zu ersetzen: Dies hätte zum einen neben meines Erachtens lösbaren Problemen des Netzausbaus und der Akzeptanz der Bevölkerung einen gigantischen Flächenverbrauch bedeutet. Man muss sich klarmachen, dass man, um allein die Jahresstromproduktion des jetzt von der Abschaltung bedrohten Kernkraftwerkes Isar-2 in Windkraft zu erhalten, einen Windpark von der Fläche Münchens errichten muss, wie die Technikhistorikerin und Energiebloggerin Anna Veronika Wendland vorrechnet.
Vor allem aber hätten wir in Sachen Versorgungssicherheit dennoch einen Rückschritt gemacht. Denn das große, nach wie vor ungelöste Problem der Erneuerbaren, das wie ein Elefant im Raum steht, der gern geflissentlich ignoriert wird, ist das der Speichertechnologie.
Es ist eine banale Erkenntnis: Wind weht nicht immer, die Sonne scheint bestenfalls tagsüber. Erneuerbare Energien bräuchten daher entweder Speicherkapazitäten zum Aufbewahren von Ökostrom-Überschüssen, die auch mal über eine zehntägige Flaute oder über ungleiche Einspeisungen und Bedarfe im Sommer und Winter hinweghelfen.
Solche Speicherkapazitäten sind trotz umfangreicher weltweiter Forschung nach wie vor in weiter Ferne. Deutschland bräuchte etwa tausendmal größere Energiespeicher, als wir aktuell haben, rechnet der Physiker und Philosoph Simon Friederich, der an einer niederländischen Universität lehrt, in einem Aufsatz aus dem Jahr 2018 vor.
Einer der größten Akkus der Welt, Hornsdale Power Reserve, den Tesla-Chef Elon Musk für knapp 100 Millionen Euro in Australien errichten ließ, könnte das deutsche Stromnetz nachts gerade einmal 14 Sekunden stützen, so Rainer Klute, Vorsitzender des kernenergiefreundlichen Vereins „Nuklearia“.
Die andere Möglichkeit zum Back-up der Erneuerbaren ist eine altbekannte: Gas, Kohle und Kernenergie, die immer dann einspringen, wenn Windkraft und Solar nicht liefern können. „Auf deren breiten Rücken feiern die deutschen erneuerbaren Energien ihre aktuellen Triumphe“, stellt Wendland lakonisch fest.
Der Entschluss, gleichzeitig aus Kohle und Kernkraft auszusteigen, hatte daher eine bedeutende Nebenabrede: Das günstige Erdgas sollte bis auf Weiteres den Back-up der Erneuerbaren übernehmen, dies war dem russischen Botschafter natürlich völlig klar. Aus bekannten Gründen steht dieses Erdgas heute aber nicht mehr zur Verfügung. Und aus sehr vernünftigen Gründen sollten wir auch nicht die Kohlekraftwerke dauerhaft wieder hochfahren.
Es bleibt das Duo Erneuerbare und Kernenergie. Damit hätte Deutschland eine Energieversorgung, die bis auf Emissionen bei der Herstellung CO₂-frei wäre und damit die wahrscheinlich einzige Chance bietet, die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Und die vor allem aufgrund der hohen Kapazitäten der Atomkraft auch realistisch in der Lage ist, all die künftigen E-Autos, elektrischen Wärmepumpen und Industrieöfen, die wir derzeit so unbekümmert planen, auch tatsächlich mit Strom zu versorgen.
Echte Zeitenwende
Man kann es auch einfacher ausdrücken: Der Wiedereinstieg in die Kernenergie bietet gemeinsam mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien die Chance, unseren Wohlstand, der auch eng mit unserer Freiheit verknüpft ist, zu wahren.
Was es für das Leben von jedem von uns bedeutet, wenn uns dies nicht gelingt, beginnen wir seit einigen Monaten zu ahnen. Vielleicht gerade noch rechtzeitig, damit wir gemeinsam die Kraft aufbringen, Ideologien, Irrtümer und Eitelkeiten hinter uns zu lassen und wenigstens in der Energiepolitik die Zeitenwende auch wirklich zu wagen.
Die WELT-Kolumnistin Kristina Schröder war von 2002 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2009 bis 2013 Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Heute ist sie unter anderem als Unternehmensberaterin tätig und als stellvertretende Vorsitzende von REPUBLIK21, Denkfabrik für neue bürgerliche Politik. Sie gehört der CDU an und ist Mutter von drei Töchtern.