Die Bundesregierung bereitet die Ausrufung der Alarmstufe des nationalen Notfallplans Gas innerhalb weniger Tage vor. Das erfuhr WELT aus Kreisen der Energiewirtschaft. Diese zweite Stufe der Notverordnung könnte Erdgas für alle Verbraucher unmittelbar und erheblich verteuern.
Nach Informationen von WELT hat der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), Patrick Graichen, die Energiewirtschaft am Montag auf den bevorstehenden Schritt vorbereitet. Die Versorger sollten „davon ausgehen“, dass die Ausrufung der Alarmstufe innerhalb von fünf bis zehn Tagen erfolgt, bestätigten vier mit dem Vorgang vertraute Personen auf Nachfrage von WELT. Graichen adressierte mit der Ankündigung die 55 Mitglieder des Vorstands des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).
Das Ministerium wollte den Sachverhalt auf Nachfrage weder bestätigen, noch dementieren. Auch die Interessenvertretung der Energiewirtschaft hielt sich bedeckt: „Gremiensitzungen des BDEW sind grundsätzlich nicht öffentlich“, erklärte der Verband auf Nachfrage: „Über Verlauf und Inhalte solcher Sitzungen informiert der BDEW daher grundsätzlich nicht und kommentiert keine diesbezüglichen Spekulationen.“
Doch Unternehmen der Energiewirtschaft bereiten sich nach WELT-Informationen seither auf die bevorstehende Alarmstufe vor. Die Bundesregierung reagiert mit dem Schritt auf geringere russische Gaslieferungen seit vergangener Woche. Unter dem Vorwand technischer Probleme hatte der Gazprom-Konzern die Lieferungen durch die wichtige Versorgungsleitung Nord Stream 1 auf 40 Prozent reduziert. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) spricht seither von einer „ernsten Lage“.
Voraussetzung für die Ausrufung der Alarmstufe des Notfallplans ist, die „gravierende Reduzierung von Gasströmen“ oder der „längere technische Ausfall wichtiger Infrastrukturen“. Auch die „hohe Gefahr langfristiger Unterversorgung“ kann die Alarmstufe auslösen. Diese Kriterien scheinen erfüllt. Nach der Alarmstufe folgt nur noch die „Notfallstufe“, die ausgerufen wird, wenn es physische Engpässe in Deutschland gibt.
In diesem Fall würde der Markt außer Kraft gesetzt. Die Bundesnetzagentur (BNetzA) übernähme dann in ihrer Rolle als „Bundeslastverteiler“ die planwirtschaftliche Versorgung der einzelnen Industrien und Kundengruppen nach Relevanz und Bedürftigkeit. Weil Privatverbraucher als „besonders geschützte Kunden“ gelten, würde dies zunächst die Industrie treffen.
Gaspreise haben sich versechsfacht
Bislang hatte das Ausrufen der Alarmstufe nur Folgen innerhalb der Energiewirtschaft. Doch mit der Novelle des Energiesicherungsgesetzes (EnSig) Mitte Mai erhielten Gasversorger „das Recht, ihre Gaspreise gegenüber ihren Kunden auf ein angemessenes Niveau anzupassen“, sobald die BNetzA die Alarmstufe per Pressemitteilung veröffentlicht.
Versorger, die wegen des Ausfalls russischer Lieferungen gezwungen sind, ersatzweise teures Erdgas nachzukaufen, können ihre Mehrkosten dann direkt auf ihre Kunden abwälzen. Welchen Umfang diese Nachkäufe haben, ist aktuell nicht klar.
Damit ist auch unsicher, wie hoch der Preisanstieg nach Ausrufung der Alarmstufe ausfallen wird. Dem Vernehmen nach wird zwischen Energiewirtschaft, Industrie und Bundesregierung noch diskutiert, ob es für die Weiterwälzung der Einkaufskosten noch einer weiteren, gesonderte Verordnung des Wirtschaftsministeriums bedarf.
Warum die Bundesregierung die Alarmstufe jetzt auslösen will, ist nicht ganz klar. Womöglich will die Politik die Verbraucher vor extremen Nachzahlungen bei Erhalt der nächsten Gas-Jahresabrechnung zu schützen. Da sich die Gaspreise im Großhandel in etwa versechsfacht haben, könnte nach Schätzung der Verbraucherzentralen ein dreiköpfiger Haushalt mit einer Nachzahlung von 2000 Euro konfrontiert werden.
Andere Schätzungen gehen von noch höheren Nachzahlungen und entsprechend steigenden Abschlagszahlungen aus. Zahlreiche private Haushalte dürfte das überfordern. Der Verbraucherzentrale Bundesverband fordert bereits, Gas-Sperren für säumige Zahler zu verbieten.
Russland hatte bereits die Lieferverträge mit ihrer Deutschland-Tochter Gazprom Germania beendet, nachdem die Bundesregierung das Unternehmen unter Treuhandverwaltung gestellt hatte. Seither muss der Bund als Treuhänder Ersatzgas am Markt kaufen, damit Gazprom Germania seine Lieferverträge mit Stadtwerken noch bedienen kann. Um die Verbraucher vor den Folgen einer Insolvenz von Gazprom Germania zu schützen, stellte die Bundesregierung allein diesem Unternehmen bereits ein Darlehen von über rund zehn Milliarden Euro zur Verfügung.
Eskaliert Moskau die Situation auch bei anderen Gasimporteuren, dürfte das die Möglichkeiten der Förderbank KfW oder des Bundeshaushalts überstrapazieren. Eine sofortige Weiterwälzung der Einkaufskosten auf die Endverbraucher wäre dann ohne Alternative, um einen kaskadenartigen Zusammenbruch der Versorgerbranche zu verhindern.
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