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Publicly Available Published by De Gruyter Oldenbourg January 22, 2013

Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“. Impfen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur Bundesrepublik

Malte Thießen
VfZ 1/2013 © Oldenbourg 2013 DOI 10.1524/vfzg.2013.0002 35Impfstoff ist knapp, Impfungen selbst sind nicht ungefährlich und deshalb um-stritten. So ist es heute – und so war es im 19. Jahrhundert, als die Präventivmedizin noch in den Kinderschuhen steckte. Malte Thießen, Historiker an der Universität Ol-denburg, skizziert die Etappen der langen Impfgeschichte, er bietet in seinem facet-tenreichen Aufsatz aber sehr viel mehr: Im Zentrum steht der Staat als ambitionierter Akteur umfassender Biopolitik, der zur Immunisierung des „Volkskörpers“ lange auf Zwang setzte. Im „Dritten Reich“ wandelte sich diese Rolle. Neben den Interventi-onsstaat trat der Appellationsstaat, der das persönliche Verantwortungsgefühl stimu-lierte und damit – nolens volens – der Herausbildung des Leitbildes vom „präven-tiven Selbst“ diente, das wir heute kennen. nnnnMalte ThießenVom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“Impfen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur BundesrepublikEs ist der Traum der Moderne: die Kontrolle und Verbesserung der Gesundheit ganzer Nationen. Dank Impfungen versprach dieser Traum wahr zu werden. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts war es möglich, breite Bevölkerungsschichten gegen Pocken zu immunisieren. „Eine der gefährlichsten jahrtausendealten Seuchen“1schien durch Schutzimpfungen gebannt. In Europa läutete dieser Bann „das Zeit-alter der Präventionsmedizin ein“2, im Deutschen Reich freilich etwas später als anderswo. Nach Vorläufern in einzelnen Ländern wurde erst mit der Reichsgrün-dung eine einheitliche Impfpolitik initiiert, wobei die Pockenbekämpfung an die Spitze ihrer Agenda rückte: Das „Labor der Moderne“3 war eröffnet.Seither sind Impfungen in Deutschland ein gesamtgesellschaftliches Phäno-men. Genau das macht ihre Geschichte für Historiker interessant. In staatlichen 1 Stefan Winkle, Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf 32005, S. 831. – Der vorliegende Aufsatz profitiert von anregenden Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, von denen ich mich u. a. bei Marc Buggeln, Wolfgang U. Eckart, Axel Schildt, Dirk Schumann, Winfried Süß, Petra Terhoeven und Michael Wildt bedanken möchte. Wich-tige Hinweise gaben außerdem Arne Borck, Marie Schenk, Hauke Thießen und Gabriele Witt, grundsätzliche Anregungen zum Thema verdanke ich Mattis Schneidewind.2 Eberhard Wolff, „Triumph! Getilget ist des Scheusals lange Wuth“. Die Pocken und der hin-dernisreiche Weg ihrer Verdrängung durch die Pockenschutzimpfung, in: Hans Wilderotter (Hrsg.), Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte, Berlin 1995, S. 158–189, hier S. 158.3 David Blackbourn, Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 302–324, hier S. 322. Blackbourn relativiert hier die verbreitete Vorstel-lung, dass erst die Schutzimpfungen von Kolonialtruppen ein Experimentierfeld der Moder-ne eröffnet hätten: „[. . .] das Experiment scheint weniger imposant[,] wenn man sich erin-nert, dass die Zwangsimmunisierung gegen Pocken im Kaiserreich selbst schon 1874 einge-führt worden war“.
VfZ 1/201336 AufsätzeImpfprogrammen schlugen sich Rationalisierungen, Normierungen und „Verwis-senschaftlichungen des Sozialen“4 nieder5. Sie schufen eine „Anthropologie im Gerundivum“6 – die Vorstellung von der Notwendigkeit einer Optimierung der Gesellschaft – und begründeten einen staatlichen Erziehungsanspruch gegen-über dem Einzelnen. Schließlich zielten Impfprogramme sowohl auf eine Verbes-serung der kollektiven Gesundheitsverhältnisse als auch auf eine Normierung des individuellen Gesundheitsverhaltens. In diesem Sinne sind sie ein Paradefall fou-caultscher „Biopolitik“7. Zeitgenössisch formuliert gaben sie dem modernen Staat ein Instrument zur Erfassung, Planung und „Veredelung“ des „Volkskörpers“ an die Hand.Planbarkeitsutopien sind Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe8. Insofern ging es bei der Einführung staatlicher Impfprogramme immer auch um eine Aushandlung von Interventionskompetenzen und Schutzpflichten des Staates. Das galt in Deutschland wie anderswo, im Reich jedoch war die Frage nach Gestalt und Grenzen der Nation von besonderer Brisanz. Schließlich schien es hier auch in gesundheitspolitischer Hinsicht notwendig, „Verspätungen“ im europäischen Rahmen aufzuholen9. Seit der Einführung eines „Reichsimpfge-setzes“ im April 1874 beschränkten sich Impfungen daher nicht mehr auf einzel-ne Länder und Regionen, nun wurde das gesamte Reich erfasst. Diese Ausweitung band zahlreiche Akteure in die Impfpolitik ein. Zu den Ärzten und Medizinal-räten traten Juristen und Journalisten, Beamte auf kommunaler, Länder- und Reichsebene aus Medizinal-, Sozial-, Wohlfahrts- und Schulbehörden, Polizisten, Pastoren, später auch Pharmaunternehmer, die sich dem nationalen Projekt Prä-vention verschrieben – oder die das Projekt verschrieben bekamen. Schließlich war die Pockenschutzimpfung seit 1874 für jedes Kind verpflichtend10, was den Einsatz von Zwangsmitteln gegen deren Eltern ausdrücklich einschloss.Mit dem Impfzwang begannen die Probleme. Die Immunisierung der Bevöl-kerung beschäftigte nicht nur Akteure auf allen Ebenen der Gesellschaft. Sie 4 Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptio-nelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 5 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frank-furt a.M. 42000, S. 19–34. 6 Ulrich Bröckling, Vorbeugen ist besser... Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth 1 (2008), H. 1, S. 38–48, hier S. 42. 7 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, S. 286. 8 Vgl. Lutz Raphael, Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 9–20; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003. 9 Vgl. Axel C. Hüntelmann, Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876–1933, Göttingen 2008, S. 10–14.10 Zuvor hatte eine Impfpflicht lediglich in Nassau, Sachsen-Meiningen und Anhalt gegolten; vgl. Andreas-Holger Maehle, Präventivmedizin als wissenschaftliches und gesellschaftliches Problem: Der Streit über das Reichsimpfgesetz von 1874, in: Medizin, Gesellschaft und Ge-schichte 9 (1990), S. 127–148, hier S. 127.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 37 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 37betraf zugleich jeden Einzelnen. Da Pockenschutzimpfungen Nebenwirkungen haben und zu Gesundheitsschäden, in seltenen Fällen gar zum Tod führen konn-ten, warf ihre zwangsweise Durchsetzung existenzielle Fragen auf: Darf man den Schutz der Allgemeinheit gegen den Willen des Einzelnen erzwingen? Was wiegt schwerer: das Allgemeinwohl, die Angst vor ansteckenden Krankheiten und die Fürsorgepflicht des Staates auf der einen Seite – oder die Bedürfnisse und Be-fürchtungen des Einzelnen, der Schutz des Staatsbürgers vor Nebenwirkungen und Zwangsmaßnahmen auf der anderen?Um die unterschiedlichen Antworten, die auf diese Frage im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ gegeben wurden, wird es im Folgenden gehen. Eine Geschichte des Impfens ist daher immer auch eine Ge-schichte der Legitimation der Rechte und Pflichten des modernen Staates sowie jener des Staatsbürgers, sie erschöpft sich darin aber nicht: In der Auseinander-setzung mit dem Impfen fand eine Verständigung über die Formen des „Volkskör-pers“ und über seine Behandlung statt, wurden kollektive Ängste und Utopien ebenso thematisiert wie individuelle Freiheits- und Schutzbedürfnisse, aber auch das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. In diesem Sinne behandelt der Aufsatz Voraussetzungen, Formen und Folgen eines Paradigmas der Moderne, womit zugleich eine „Zeitgeschichte der Vorsorge“11 schärfere Konturen gewin-nen soll.Bislang ist diese Geschichte primär für das 18. und die Anfänge des 19. Jahr-hunderts geschrieben worden12. Dieser Forschungsschwerpunkt ist ebenso na-heliegend wie gewinnbringend, waren Impfungen in dieser Zeit doch „the first step in the medicalization of the general population and in the medicalization of the life cycle of contemporary man“13. Doch welche Folgen hatte das Impfen für die general population danach, in einem Zeitalter, das zumindest in bevölkerungs-politischer Hinsicht als „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) gelten kann? Und wie reagierte der contemporary man auf staatliche Zugriffe auf seinen Körper? 11 Zur Geschichte der Vorsorge im 20. Jahrhundert vgl. Sigrid Stöckel/Ulla Walter (Hrsg.), Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Weinheim 2002; Martin Lengwiler/Jeanette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, sowie die Bei-träge im Themenheft von Marie Schenk und Malte Thießen, „Zeitgeschichte der Vorsorge“ der Zeithistorischen Forschungen, das Ende 2013 erscheint.12 Vgl. die grundlegenden Studien zum 19. Jahrhundert von Claudia Huerkamp, The History of Smallpox Vaccination in Germany: A First Step in Medicalization of the General Public, in: Journal of Contemporary History 20 (1985), S. 617–635; Eberhard Wolff, Einschneiden-de Maßnahmen. Pockenschutzimpfungen und traditionale Gesellschaften im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998, sowie als Überblick Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984, bes. S. 70–74; als Lokalstudie vgl. ferner Johannes-Peter Rupp, Die Entwicklung der Impfgesetzgebung in Hessen, in: Medizin-historisches Journal 10 (1975), S. 103–120.13 George D. Sussman, Enlightened Health Reform, Professional Medicine and Traditional Society: The Cantonal Physicians of the Bas-Rhin, 1810–1870, in: Bulletin of the History of Medicine 51 (1977), S. 565–584, hier S. 575.
VfZ 1/201338 AufsätzeFür das 20. Jahrhundert harren diese Fragen bislang einer Antwort14. Obwohl das Impfen als Lackmustest moderner Staatlichkeit und als Paradebeispiel moderner Biopolitik gelten kann, obwohl Impfprogramme wie wenige staatliche Maßnah-men eine gesamtgesellschaftliche Tragweite sowie eine existenzielle Wirkung für jeden Einzelnen hatten, klaffen auf diesem Forschungsfeld erhebliche Lücken, die dieser Aufsatz füllen möchte. Drei Themenkomplexe stehen im Mittelpunkt dieser Betrachtung:Erstens ist das Impfen ein Untersuchungsgegenstand, der neue Felder der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik eröffnet. So scheinen wir über gesund-heitspolitische Entwicklungen insbesondere im „Dritten Reich“ zwar bestens informiert zu sein. Wir kennen die „rassenhygienischen“ und erbbiologischen Maßnahmen, die sich in Sterilisationen und „Euthanasie“-Aktionen gegen „Min-derwertige“ richteten15. Aber wie wirkte sich die NS-Gesundheits- und Bevölke-rungspolitik eigentlich unter den „ganz normalen Deutschen“ aus? Welche Rolle spielten die „Volksgenossen“ bei den Planungen zur Immunisierung der „Volks-gemeinschaft“? In welchem Verhältnis standen diese Planungen zu früheren Entwicklungen? Was also war neu nach 1933 und was sagt das aus über die Ge-sellschaft im „Dritten Reich“? An Fallbeispielen aus der NS-Zeit wird es zweitens um Formen der Prävention „vor Ort“, um Impfungen als soziale Praxis gehen, in der sich eine vorsorgende „Volksgemeinschaft“ konstituierte16. Der Blick richtet sich damit ebenso auf die Einführung und „Übersetzung“ von Impfprogrammen durch kommunale Akteure wie auf das Verhalten Einzelner, für die das Impfen zu einer persönlichen Sache geriet. Drittens zeichnet sich im Untersuchungszeit-raum ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Wandel ab: die Geburt des „präven-tiven Selbst“ und die Individualisierung von Vorsorge-Strategien. Bislang wurde der Beginn dieser Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren verortet. Seit dem „Paradigmenwechsel“ 1945 habe ein „individualistische[s] Leitbild“ allmäh-14 Vgl. Ulrike Lindner, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bun-desrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004, S. 221–281; Marion Hulverscheidt/Anja Laukötter, Die Debatte um die Pockenschutzimpfung in der Zeit von 1920 bis 1960. Kontinuitäten und Brüche in der Impfgegnerschaft und in der gesundheitspolitischen Reak-tion, in: Prävention 1/2009, S. 10–13; Ulrike Lindner/Stuart S. Blume, Vaccine Innovation and Adoption: Polio Vaccines in the UK, the Netherlands and West Germany, 1955–1965, in: Medical History 50 (2006), S. 425–446; Sabine Sworak, Die Entwicklung des Impfwesens der Stadt Hamburg. Die Entwicklung der Pockenschutzimpfung von 1800–1940, Diss. med., Hamburg 1984; zur Diphtherieschutzimpfung vgl. Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialisti-schen Deutschland 1939–1945, München 2003, S. 214–223.15 Vgl. den umfassenden Überblick bei Robert Jütte/Wolfgang U. Eckart/Hans-Walter Schmuhl/Winfried Süß, Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der For-schung, Göttingen 22011.16 Zur praxeologischen Theorie in der NS-Forschungen vgl. Sven Reichardt, Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbe-griffs, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Ver-hältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 129–153, bes. S. 131–135.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 39 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 39lich feste Formen gewonnen17. Dieser Aufsatz möchte diese Vorstellung hinter-fragen, Martin Lengwilers und Jeanette Madarász‘ Plädoyer für eine langfristige Einordnung dieser Entwicklungen aufgreifen und den Wurzeln des „präventiven Selbst“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachspüren.1. Zwang zur Vorsorge: Impfen vom Kaiserreich zur Weimarer RepublikDer Krieg gilt als „Vater aller Dinge“. Zumindest für die Pocken trifft diese Weis-heit zu, denn die Europäer verstanden eine Immunisierung ihrer Armeen seit dem 19. Jahrhundert immer häufiger als kriegsentscheidende Maßnahme. Wel-che fatalen Auswirkungen solche militärischen Maßnahmen für die Zivilbevölke-rung haben konnten, zeigte sich nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, als geimpfte deutsche Soldaten und französische Kriegsgefangene die Pocken ins Reich einschleppten und zehntausende zivile Opfer zu beklagen waren18. Die-se Erfahrung wurde im Reichstag aufgegriffen19, wo seit Februar 1874 über ein Reichsimpfgesetz diskutiert wurde, das für alle Debatten um die „Impffrage“ in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ den Grundstein legte20.Besonders umstritten war im Reichstag die Einführung eines staatlichen Impf-zwanges, gegen den sich zahlreiche Abgeordnete wehrten. Entsprechend knapp fiel das Abstimmungsergebnis zu diesem Teil des Gesetzes aus – den 151 Befür-wortern des Impfzwanges standen 138 Gegner gegenüber. Auf Seiten der Kriti-ker sprach der Zentrumspolitiker August Reichensperger vom Zwang als „Stein des Anstoßes“, ja vom „Ungeheuerliche[n] dieser Bestimmung“21, von der „eine Beschränkung der persönlichen Freiheit“22 ausgehe. Sein Hinweis, es gäbe „im deutschen Reiche schon mehr als hinreichende Gelegenheit, eingesperrt zu werden“23, stieß im Reichstag nicht nur auf allgemeine Heiterkeit, wie das Proto-koll vermerkte, sondern auch in anderen Fraktionen auf Zustimmung. Kritisch äu-ßerten sich etwa sozialdemokratische Abgeordnete wie Wilhelm Hasenclever und Otto Reimer. Obgleich man nicht grundsätzlich gegen die „Freiheitsbeschrän-kung des Einzelnen“ im Dienste der „Volkswohlfahrt“ sei, wie Reimer erklärte, 17 Martin Lengwiler/Jeanette Madarász, Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Ge-sundheitspolitik, in: Dies. (Hrsg.), Das präventive Selbst, S. 11–28, hier S. 21–23.18 Vgl. Matthew Smallman/Andrew D. Cliff, The Geographical Transmission of Smallpox in the Franco-Prussian War. Prisoner of War Camps and Their Impact upon Epidemic Diffusion Processes in the Civil Settlement System of Prussia, 1870–71, in: Medical History 46 (2002), S. 241–264.19 Vgl. dazu nach wie vor Oskar Matzel, Die Pocken im Deutsch-Französischen Krieg, Düssel-dorf 1977.20 Vgl. Maehle, Präventivmedizin; vgl. auch Bärbel-Jutta Hess, Seuchengesetzgebung in den deutschen Staaten und im Kaiserreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Reichs-seuchengesetz 1900, Diss. med., Heidelberg 2008, bes. S. 228–265.21 Beide Zitate in: Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Stenographische Berichte, 17. Sit-zung, 14. 3. 1874, S. 342.22 Ebenda, 7. Sitzung, 18. 2. 1874, S. 105, Zitate im Original gesperrt.23 Ebenda, 13. Sitzung, 6. 3. 1874, S. 234.
VfZ 1/201340 Aufsätzeliege beim Impfen „die Sache anders“24, da der Impfzwang vom eigentlichen Pro-blem ablenke: „wenn in [...] großen Städten ungeimpfte Kinder in Masse sterben, dann ist es nicht gesagt, dass sie darum gestorben, weil sie nicht geimpft worden sind, sondern man kann den Grund nur darin suchen, dass die schlechte Ernäh-rung und die angestrengte Fabrikarbeit der Mutter es nicht dazu kommen ließ, ein gesundes Kind zu gebären und noch viel weniger zu ernähren“25. Aus dieser Diagnose zogen die Sozialdemokraten Konsequenzen, die Wilhelm Hasenclever auf den Punkt brachte: „es wird so viel Geld für Kriege bewilligt [. . .] gegen die äußeren Feinde; so mögen Sie hier einmal für die Volkswohlfahrt und gegen den inneren Feind, gegen Epidemien, einige Millionen bewilligen“26.Schon dieser Ausschnitt der Debatte macht deutlich, dass sich das Konfliktpo-tenzial der „Impffrage“ aus unterschiedlichen Quellen speiste. Während bei den Kritikern des Impfzwanges vom Zentrum persönliche Freiheitsrechte im Mittel-punkt standen, sahen die Sozialdemokraten in der Debatte einen willkommenen Anlass, sich mit ihren sozialpolitischen Forderungen zu positionieren. Insofern ist Bärbel Hess` Fazit zwar richtig, dass im Reichstag allerlei „unsachliche Angriffe auf die Impfung und Impfärzte“27 zu hören waren. Für eine Kulturgeschichte des Po-litischen dürfte indes die Beobachtung weiterführender sein, dass die Impffrage eine Arena der Aushandlung eröffnete, in der es nie nur um medizinische Fragen ging. Den Hintergrund der Debatte bildeten politische Entwicklungen wie die Behauptungsversuche des Zentrums im „Kulturkampf“ oder sozialdemokratische Profilierungsversuche angesichts neuer Sozialgesetze. Wegen dieser Aufladung markierten die Auseinandersetzungen von 1874 keineswegs einen Abschluss der „Impffrage“, im Gegenteil: Eher noch gaben sie den Auftakt für weitere Debatten, die dann auch in Weimar mit Verve fortgesetzt wurden.Dabei spielten die Pocken nach dem Ersten Weltkrieg keine große Rolle mehr. Ungleich stärker wurde die Öffentlichkeit von den „Kriegsseuchen“ Ruhr und Ty-phus oder von Geschlechtskrankheiten bewegt28, 1918/19 zudem von der „Spa-nischen Grippe“, die allein in Deutschland mehr als 200.000 Opfer forderte29. Auch die Tuberkulose rückte erneut in den Fokus, gab sie doch die perfekte Pro-jektionsfläche für den krisengeschüttelten Zeitgeist ab. Berichte aus der Nach-kriegszeit über Tbc-Erkrankungen lassen sich gleichsam als Metaphern für ein zeitgenössisches Untergangsempfinden lesen, wobei der tuberkulöse Körper für ein schwindsüchtiges Volk stand, dessen Lebenskraft nach dem Aderlass des Krieges und der anschließenden Krise ermattet schien. Im Gegensatz zu solchen „Signalkrankheiten“ verloren die Pocken in Weimar an öffentlicher Aufmerksam-keit, was natürlich auch dem Rückgang der Krankheit geschuldet war. In England 24 Ebenda, 7. Sitzung, 18. 2. 1874, S. 107.25 Ebenda, 7. Sitzung, 18. 2. 1874, S. 109.26 Ebenda, 13. Sitzung, 6. 3. 1874, S. 243 (Hervorhebung im Original gesperrt).27 Hess, Seuchengesetzgebung, S. 264.28 Vgl. Lutz Sauerteig, Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Ge-sundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.29 Vgl. Eckhard Michels, Die „Spanische Grippe“ 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs, in: VfZ 58 (2010), S. 1–33.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 41 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 41hatte sich diese Entwicklung bereits zur Jahrhundertwende in einem Gesetz nie-dergeschlagen, das den Zwang zur Pockenschutzimpfung durch eine Gewissens-klausel ersetzte30. Obgleich die Pocken also ihr Gefährdungspotenzial verloren hatten31 und die „Gewissensbedrängnis“ der Zwangsimpfungen in der „Tagespres-se und in Volksversammlungen“32 immer häufiger Anlass zu heftiger Kritik bot, stand der Impfzwang im Deutschen Reich nicht zur Disposition, im Gegenteil: Seit Ausrufung der Republik wurden Pockenschutzimpfungen rigider denn je durchgesetzt. Von einer solchen „Rigorosität“ sprach etwa der Sozialmediziner Alfred Grotjahn, als er in einer Sitzung des preußischen Landesgesundheitsrats Mitte der 1920er Jahre auf die Impfpolitik seit Kriegsende zurückblickte: „Es ist nicht immer so gewesen, dass man mit der Polizei das Impfgeschäft unterstützt.“ Noch deutlicher wurden in dieser Sitzung Mediziner wie Wilhelm Winsch und Heinrich Böing, die Staat und Impfärzte „als mit dem Polizeiknüppel bewaffnete Volksbedrücker“ bezeichneten und den Impfzwang als „Brutalität sonderglei-chen“ brandmarkten33.Tatsächlich erscheint die Verschärfung von Zwangsmaßnahmen auf den ersten Blick und angesichts späterer Entwicklungen erklärungsbedürftig. Bei genauerer Betrachtung lassen sich allerdings fünf Gründe für das Festhalten am Impfzwang anführen. Erstens sollte eine systematische Impfung das Wiederaufleben der Po-cken verhindern. Zweitens sah man sich nach Kriegsende in einem „demographi-schen Übergang“34, der sich durch den Verlust von Millionen junger Männer noch zu verschärfen schien. Die Eindämmung der „Volksseuche“ versprach Geländege-winne im Kampf gegen den „Volkstod“35, der in Weimar häufig ausgerufen wur-de36. Der Zwang zum Pockenschutz galt somit als Gebot der Stunde, hatte sich die Impfung im 19. Jahrhundert doch als schlagkräftige Waffe gegen die Kindersterb-30 Vgl. Dorothy Porter/Roy Porter, The politics of prevention. Anti-vaccination and public health in 19th century England, in: Medical History 32 (1988), S. 231–252, bes. S. 251; Stanley Williamson, Vaccination Controversy. The Rise, Reign and Fall of Compulsory Vaccination for Smallpox, Liverpool 2007, bes. S. 233–237; Nadja Durbach, Bodily matters. The Anti-Vac-cination Movement in England 1853–1907, Durham 2005.31 Vgl. H. A. Gins, Pocken und Pockenimpfung im Lichte des dritten Kriegsjahres, in: Öffentli-che Gesundheitspflege 2 (1917), S. 337–349.32 Reichsgesundheitsamt, Blattern und Schutzpockenimpfung. Denkschrift zur Beurteilung des Nutzens des Impfgesetzes vom 8. April 1874 und zur Würdigung der dagegen gerichteten Angriffe, Berlin 41925. S. 146. Die Denkschrift erschien seit 1896 in mehreren Auflagen und wurde um neue Argumente der Diskussion ergänzt.33 Über die Einfügung einer Gewissensklausel in das Reichsimpfgesetz. Bericht über die Sit-zung des preußischen Landesgesundheitsrats am 10. Oktober 1925, Berlin 1926, Zitate S. 6 f., S. 85 u. S. 95.34 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 231–238.35 Vgl. Thomas Bryant, Friedrich Burgdörfer (1890–1967). Eine diskursbiographische Studie zur deutschen Demographie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2010.36 Vgl. Ursula Ferdinand, Geburtenrückgangstheorien „um 1930“ in Deutschland, in: Diana Auth/Barbara Holland-Cunz (Hrsg.), Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Dis-kurse demographischer Steuerung, Opladen 2007, S. 19–36.
VfZ 1/201342 Aufsätzelichkeit erwiesen. Drittens stellte die Pockenschutzimpfung die einzige Immuni-sierung dar, die auf Reichsebene überhaupt umsetzbar war. In diesem Fall konn-te sich die neu gewonnene „Interventionskompetenz“37 des republikanischen Sozialstaates breitenwirksam bewähren38. Viertens eröffneten Impfprogramme beträchtliche Möglichkeiten sozialer Kontrolle, schließlich wurden Impfungen nicht nur systematisch durchgeführt, sondern auch systematisch dokumentiert. Der Gesundheitsstand der Impflinge und die Entwicklung der Gesundheitsver-hältnisse in einzelnen „Impfbezirken“ gingen anschließend in die Reichsstatistik ein. Die Behörden erhielten damit ein präzises, nach Gemeinden und Schichten differenziertes Bild über den Gesundheitsstand der Bevölkerung. Anders gesagt: Mit Hilfe der Pockenschutzimpfung glaubte man die Statur des „Volkskörpers“ und seine Schwachstellen besser sehen zu können. Diese Kontrollmöglichkeit hing damit zusammen, dass Impflinge wegen der befürchteten Komplikationen gründlich untersucht werden mussten. Auch deshalb war die Resonanz auf Zwang-simpfungen unter Ärzten besonders groß. Sie erhielten dank der Impfpflicht so-wohl ein regelmäßiges Zusatzeinkommen als auch ein verbrieftes Zugriffsrecht auf die Einwohner ihres Impfbezirks39. Der Impfbericht gab schließlich nicht nur Auskunft über den „Impferfolg“, sondern ebenso über das soziale Verhalten, die „Reinlichkeit“ und den Ernährungsstand der Impflinge40. Foucaults Worte vom Arzt als „Wächter der öffentlichen Gesundheit und Moral“ sind schon häufig für medizinische Themen strapaziert worden. Den Impfärzten wuchs dank des Impf-zwanges diese soziomoralische Stellung tatsächlich zu; ihr vehementes Eintreten für den Impfzwang kann auch damit erklärt werden.Mit dieser Wechselbeziehung aus Prävention und Professionalisierung hängt eine fünfte Erklärung für die rigide Durchsetzung des Impfzwangs in Weimar zusammen. Die staatlichen Zwangsmaßnahmen und die Macht der Impfärzte waren von Beginn an umstritten, die kritischen Stimmen wurden im Laufe der Zeit jedoch immer lauter. Nach der Revolution von 1918 speiste sich diese Op-position aus sozialdemokratischen und kommunistischen, aber auch aus bürger-lichen und konfessionellen Kreisen41, so dass sich in der Impfzwang-Kritik eine parteiübergreifende, allerdings ungemein heterogene Opposition artikulierte42. 37 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 429.38 Vgl. Gabriele Mosers Feststellung, dass sich die Weimarer Republik einer „präventionsbezo-genen Gesundheitspolitik“ verschrieb. Gabriele Moser, Notverordnung und Gesundheits-politik in der Weimarer Republik: Präventionskonzepte und Versorgungsstrukturen in der Krise, in: Stöckel/Walter (Hrsg.), Prävention, S. 96–109, hier S. 97.39 Vgl. Sussman, Enlightened Health Reform, S. 574–578.40 In einigen Impfbezirken wurden diese Impfberichte noch Ende der 1940er Jahre geführt, bis sich knappere Fassungen durchsetzten, die nur noch nach Impferfolgen und Impfschäden fragten. Berichte an die Gesundheitsämter Brake und Vechta, in: Staatsarchiv Oldenburg (künftig: StAOL), Rep 630, 242–4, Nr. 242.41 Vgl. Karl-Heinz Leven, Geschichte der Medizin. Von der Antike zur Gegenwart, München 2008, S. 83.42 Vgl. Eberhard Wolff, Medizinkritik der Impfgegner im Spannungsfeld zwischen Lebenswelt und Wissenschaftsorientierung, in: Martin Dinges (Hrsg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870 – ca. 1933), Stuttgart 1996, S. 79–108.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 43 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 43Zu ihr gehörten Ärzte43, Sozialmediziner und -politiker wie der Sozialdemokrat Julius Moses, die zwar nicht die Wirksamkeit des Impfens bezweifelten, aber den Nutzen des Impfzwanges44. Andere Kräfte dagegen lehnten die Impfungen grund-sätzlich ab. Sie organisierten sich in Vereinen wie dem „Deutschen Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung“ mit 300.000 Mitgliedern45, sie publizierten Zeit-schriften, Broschüren und Bücher oder luden zu „Volksversammlungen gegen den Impfwahn“46 ein. Solche Agitationen sind in der Forschung gelegentlich als „Sabotage“47, als rückständige, ja naive Kritik am Gesundheitswesen abgetan worden48. Dagegen hat Eberhard Wolff nachgewiesen49, dass sich die Impfgegner aus unterschiedlichen Milieus speisten und mitunter sehr zeitgemäße Positionen vertraten. Unter der Fahne des „Impfgegners“ fanden sich Lebensreformer und Sozialmediziner ebenso zusammen wie Naturheilkundler, Kulturkritiker oder Fortschrittspessimisten, die „der“ Schulmedizin, „dem“ Ärztestand sowie der staatlichen Gesundheitspolitik den Kampf ansagten. Es dürfte deshalb für die zeithistorische Forschung ertragreich sein, Impfkritik als Form einer Protestbe-wegung zu analysieren, die sich aus einem zeitgenössischen Krisenbewusstsein speiste50.Während aus heutiger Perspektive die Heterogenität der Impfkritiker auf der Hand liegt, fiel es den Verteidigern des Impfzwanges schwer, diese Vielfalt zu er-kennen; sie sprachen meist von einer „Bewegung“ der „Impfgegner“. Es war dieses Schreckbild, das die Verteidiger immer enger zusammenrücken ließ. Schließlich schienen die Impfkritiker die Legitimität staatlicher Impfprogramme ebenso in Frage zu stellen wie die Professionalität der Impfärzte. Genau das dürfte die wichtigste Erklärung dafür sein, dass der Zwang zur Pockenschutzimpfung in der Weimarer Republik von Politikern, Medizinalbeamten und Ärzten mit größter Entschlossenheit verteidigt wurde: Die Durchsetzung des Impfzwangs bestätigte 43 Maehle, Präventivmedizin, S. 139–140, spricht einerseits von einem „geringen Ärzteanteil“ unter den Impfgegnern, weist allerdings zugleich einen – verhältnismäßig hoch erscheinen-den – Anteil der Ärzte von 13 bzw. 14 % der Beitragszahler und Spender der Vereinszeit-schrift „Der Impfgegner“ nach.44 Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, Politische Positionen und ethisches Engagement: Julius Moses und die Medizin im 20. Jahrhundert, in: Michael Schneider (Hrsg.), Julius Moses. Schrittmacher der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 9–37, bes. S. 29; Andreas Jens Reuland, Menschenversuche in der Weimarer Republik, Norderstedt 2004, bes. S. 135–165.45 Vgl. Leven, Geschichte der Medizin, S. 83.46 Bundesarchiv (künftig: BArch) Berlin, R 43 I/1977, Flugblatt des Verbandes der Impfgeg-ner, 23. 4. 1926.47 Thomas Hartung, Zur Entwicklung der Pockenschutzimpfung unter besonderer Berücksich-tigung Thüringens im 18. und 19. Jahrhundert, Diss. med., Jena 2002, hier S. 66.48 Vgl. u. a. Caroline Marie Humm, Die Geschichte der Pockenimpfung im Spiegel der Impf-gegner, Diss. med., München 1986.49 Vgl. Wolff, Medizinkritik und Impfgegner.50 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewusstsein und Kul-turkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–119.
VfZ 1/201344 Aufsätzesowohl die staatliche Autorität über den „Volkskörper“ als auch die ärztliche Deu-tungsherrschaft über die Gesundheit der Staatsbürger.Seit Mitte der 1920er Jahre mehrten sich jedoch auch unter Ärzten und Medizi-nalbeamten die Stimmen derer, die sich für ein Ende des Impfzwanges einsetzten. In einer Sitzung des preußischen Landesgesundheitsrats stand im Oktober 1925 die Einführung einer Gewissensklausel zur Diskussion, die nach englischem Vor-bild zur prinzipiellen Freiwilligkeit von Impfungen geführt hätte. Von den Befür-wortern dieser Klausel waren dabei verschiedene Argumente zu hören, in denen sich das breite Spektrum der Impfkritik entfaltete. Impfungen seien „vom rasse-hygienischen Standpunkt aus“ zu verwerfen, meinte etwa der spätere Vorsitzende der „Reichsimpfgegnerzentrale“ Wilhelm Winsch. Der Sachverständige Heinrich Böing ging weniger weit. Er wollte nicht das Impfen an sich, jedoch den Zwang abschaffen, zumal im Seuchenfall ohnehin die Möglichkeit zur Zwangsimpfung bestünde. Die Befürworter des Impfzwanges hielten in der Debatte heftig dage-gen. Heinrich A. Gins vom Robert Koch-Institut sah in der Gewissensklausel gar ein „Verbrechen an der Volksgesundheit“. Sie untergrabe nicht nur die ärztliche Autorität, sondern erleichtere zudem die Einschleppung der Pocken. Wilhelm Kolle, Leiter des Paul Ehrlich-Instituts, hielt hingegen ein pragmatisches Plädo-yer für den Impfzwang: „Es gibt Sachen, die man mit in den Kauf nehmen muss; sie sind leider ein Nebenprodukt der Entwicklungen unserer Verhältnisse, nicht nur der Natur.“51Es war dieses Spannungsverhältnis zwischen Allgemeinwohl und individu-ellen Freiheitsrechten, das im Verlauf der Sitzung zu „politischen Entgleisungen“ führte, wie sie der Arzt und SPD-Landtagsabgeordnete Hermann Weyl beobach-tete. Verwundert zeigte sich der Leiter des Göttinger Hygieneinstituts Hans Rei-chenbach vor allem über die Position der Sozialdemokraten. Dass „gerade die Herren, denen sonst die Allgemeinheit über alles geht, hier das Individuum so stark in den Vordergrund stellen“, leuchtete ihm überhaupt nicht ein. Die Befür-worter des Impfzwangs ständen demgegenüber „auf dem Standpunkt [...], dass im Interesse der Allgemeinheit dem Einzelnen eine Unannehmlichkeit, ja sogar eine gewisse Gefahr auferlegt werden darf. [...] wir wollen in jedem Falle das Indi-viduum zurückstellen hinter die Allgemeinheit.“52 Mit 15 zu sechs Stimmen setzte sich diese Position am Ende der Sitzung durch, so dass die Gewissensklausel vom Tisch, die Problematik des Impfzwanges aber nach wie vor ungelöst war.Das zeigte sich wenige Jahre später in aller Deutlichkeit, als die „Impffrage“ von einem Skandal erneut auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde. 1930 starben in Lübeck 77 Kinder nach der Einführung eines Tuberkulose-Impfstoffes, mehr als hundert Kinder erlitten darüber hinaus schwere Gesundheitsschäden53. Als „grauenhaftes“ „Lübecker Kindersterben“ und „Säuglingsmorde“ fand der 51 Über die Einfügung einer Gewissensklausel (wie Anm. 33), S. 6, S. 39 u. S. 99.52 Ebenda, S. 101 u. S. 107.53 Vgl. Susanne Hahn, „Der Lübecker Totentanz“. Zur rechtlichen und ethischen Problematik der Katastrophe bei der Erprobung der Tuberkuloseimpfung 1930 in Deutschland, in: Medi-zinhistorisches Journal 30 (1995), S. 61–79.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 45 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 45Skandal in die Schlagzeilen der nationalen und internationalen Presse. Zahl-reiche Zeitungsredaktionen sandten ihre Berichterstatter gen Norden, um die Schreckensherrschaft des „Herodes von Lübeck“ zu dokumentieren54. Dieser Fall steckte für die folgenden Jahre den Rahmen der Debatte ab. Denn obgleich das Unglück „nur“ eine Folge fehlerhaft gelagerten Impfstoffes war und die Tuberku-lose-Immunisierung im Reich kaum praktiziert, geschweige denn staatlicherseits angeordnet worden war, standen plötzlich die Gesundheitspolitik im Allgemei-nen und die Pockenschutzimpfung im Besonderen auf dem Prüfstand.Angesichts dieser Ereignisse brachte Ministerialdirektor Dammann im Reichs-innenministerium Ende Mai 1930 seine Sorge zum Ausdruck, dass sich mittlerwei-le „Impfgegner [...] in allen Parteien befänden“ und eine „Erörterung des Impf-gesetzes im Reichstage zur Einführung einer Gewissensklausel führen“55 werde. Skeptische Stimmen vernahm man auch in den Medizinalbehörden. Im Reichs-gesundheitsamt verwies man auf die kritische „Einstellung der Bevölkerung“, so dass Präsident Carl Hamel für „eine gewisse Auflockerung des Impfzwanges“ plä-dierte, um nicht noch „radikalere Entschließungen“56 zu provozieren und damit die Pockenschutzimpfung grundsätzlich in Frage zu stellen. Hamels Forderung brachte das Ergebnis der Debatte auf den Punkt. Formal galt der staatliche Impf-zwang zwar weiter, in der Praxis wurden Zwangsmaßnahmen allerdings ausgesetzt. Ärzte und Behörden sollten die Eltern nun „durch Erteilung von Ratschlägen [...] dahin [...] bringen, dass sie die Kinder freiwillig impfen lassen“57, wie es der preu-ßische Minister für Volkswohlfahrt formulierte. Besorgt kommentierte ein Land-rat aus Aurich diese Entwicklung mit der Beobachtung, dass die Ärzteschaft in den Impflokalen seither schweren Anfeindungen ausgesetzt, ja „der ganze Impfzwang in Frage gestellt“58 sei. Entsetzt war auch der Direktor des Hygienischen Instituts der Universität Jena über die „Lockerung der Impfpflicht“. Eine „Abwehr wider impfgegnerische Bestrebungen“, sei seither unmöglich, so dass das „deutsche Volk [...] erst einmal wieder schwer von den Pocken heimgesucht werden“ müsse, „bevor es auf diesem Gebiete vernünftigen Überlegungen zugänglich wird“59.54 Vgl. aus der Flut an Berichten nur die hier zitierten Überschriften: „Der Herodes von Lübeck“, in: Berliner Herold vom 20. 7. 1930; „Das grauenhafte Kindersterben zu Lübeck“, in: Wiener Mittags-Zeitung, Serie vom 12.-23. 7. 1930; „Das Lübecker Kindersterben“, in: Vor-wärts vom 9. 7. 1930; „Das Lübecker Kindersterben“, in: Münchener Neueste Nachrichten vom 22. 6. 1930; „Lübecks Schuld“, in: Kölner Tageblatt vom 17. 6. 1930; „Die Lübecker Säug-lingsmorde sollen vertuscht werden“, in: Sozialistische Republik vom 2. 7. 1930. Vgl. Presse-ausschnittsammlung im Archiv der Hansestadt Lübeck, NA/1905.55 BArch Berlin, R 86/4699, Niederschrift über die am 26. 5. 1930 im Reichsratsausschuss abge-haltene Beratung.56 Ebenda, Niederschrift über die am 18. 6. 1930 abgehaltene kommissarische Besprechung.57 BArch Berlin, R 1501/3648, Schreiben des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt, 14. 4. 1931 (Hervorhebung durch den Autor).58 Ebenda, Schreiben des Regierungspräsidenten Aurich an den Preußischen Minister für Volkswohlfahrt, 25. 4. 1932.59 Ebenda, Schreiben des Zentralkomitees für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen an das preußische Ministerium für Volkswohlfahrt, Berlin, 20. 7. 1931.
VfZ 1/201346 AufsätzeGrundsätzliche Dimensionen hatten auch die anschließenden Diskussionen über Formen und Folgen staatlicher Impfpolitik, die vom Lübecker Skandal an-gestoßen wurde. Im Mittelpunkt dieser Debatte standen drei Dinge: erstens die Risiken des medizinischen Fortschritts, zweitens die gesellschaftliche Verantwor-tung bzw. Haftbarkeit der Ärzteschaft sowie drittens die Grenzen des staatlichen Machtanspruchs auf den Körper seiner Bürger. Und eben diese Diskussionen sollten die Zeit nach der „Machtergreifung“ bestimmen.2. „Volksgemeinschaft“ und Vorsorge nach der „Machtergreifung“Aus heutiger Sicht begann das „Dritte Reich“ mit einer Überraschung: 1933 wur-de die kurz zuvor liberalisierte Impf-Praxis nicht nur beibehalten, sondern sogar politisch festgeschrieben. Seit der „Machtergreifung“ war beim Impfen eine Skep-sis, ja eine Zurückweisung von Zwangsmaßnahmen wahrnehmbar, worüber sich Winfried Süß zu Recht erstaunt gezeigt hat: „In einem Land, [...] das seit der [...] Machtergreifung die individuellen Rechte auf körperliche Selbstbestimmung zugunsten der Gesundheit eines imaginären ‚Volkskörpers‘ zunehmend einge-schränkt und damit die Durchsetzungschancen einer solchen Impfung vergrö-ßert hatte, [...] kann diese Entwicklung überraschen.“60Womit wäre die Zurückhaltung auf diesem wichtigen Feld öffentlicher Gesund-heitsvorsorge zu erklären? Weshalb gab man 1933 ausgerechnet bei der Vorsorge für den „Volkskörper“ bisherige staatliche Machtansprüche auf? Die nach wie vor anhaltende Debatte um den Lübecker Impfskandal bietet für damalige Bedenken eine erste Erklärung. Eine zweite liegt in der NS-Ideologie selbst begründet, wirft das Impfen unter „rassenhygienischen“ Gesichtspunkten doch gravierende Pro-bleme auf. Schließlich widerspricht eine Immunisierung gegen Krankheiten aufs Schärfste dem Gedanken von Abhärtung und Auslese.Das betonten zumindest zahlreiche Impfgegner, die seit der „Machtergrei-fung“ Morgenluft witterten, zumal sie sich in ihrer Kritik auf Autoritäten aus der NS-Führung berufen konnten. Beliebt war etwa der Verweis auf einen Ausspruch Julius Schleichers, „Die Impfung ist eine Rassenschande“61, oder die Behaup-tung, dass das Reichsimpfgesetz „nachweislich durch die jüdischen Abgeordne-ten Löwe, Lasker und Eulenburg, die sich als ‚Väter‘ dieses Gesetzes vom 8. 4. 74 bezeichneten, angeregt“62 worden sei, wie der „Deutsche Impfgegner-Ärztebund e.V.“ im Oktober 1935 mahnte. Eher ungewöhnlich war hingegen die Reim-form, in der Ende 1933 die „Blätter für Impfforschung“ eine „Beseitigung des Impfzwanges“ zur „Grundbedingung [...] der Aufartung und des Aufstiegs von Volk und Menschheit“ erklärten: „Deutsches Volk, hab‘ nichts mit dem Impfen gemein, / Es ist jeder wahren Gesundheitspflege Hohn, / Und willst Du nicht 60 Süß, „Volkskörper“ im Krieg, S. 217 f.61 BArch Berlin, R 1501/3647, Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an den Reichsminister des Innern, 12. 11. 193562 Ebenda, Schreiben des Deutschen Impfgegner-Ärztebund e.V. an das Reichsinnenministeri-um, 25. 10. 1935
VfZ 1/2013Malte Thießen: 47 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 47selbst Dein Totengräber sein, / Dann bekenn‘ Dich entschlossen zur Anti-Vakzi-Nation!“63In der anfänglichen Zurückhaltung beim Impfen schlug sich offenbar ein pro-grammatischer Widerspruch der NS-Gesundheitspolitik nieder: Der Gegensatz zwischen „rassenhygienischen“ Ideen, die auf eine erbbiologische Optimierung zielten, auf der einen Seite; und einer Präventionspolitik auf der anderen, die bevölkerungs- und wehrpolitische Ziele ins Auge fasste. Mehr denn je warf das Impfen damit die Frage auf, wie der „Volkskörper“ eigentlich zu verstehen und zu behandeln sei. Deshalb standen in den Diskussionen seit 1933 auch keineswegs medizinische Überlegungen im Vordergrund. Vielmehr ging es um die Gewich-tung der Bedürfnisse des „Volksgenossen“ gegenüber den Anforderungen des „Volkskörpers“ sowie um drohende Gefahren, vor denen die „Volksgemeinschaft“ geschützt werden müsse. Antworten auf diese Fragen schienen „angesichts der [...] geringen Pockengefahr“64 und der wachsenden Impfkritik, wie sie das Reichsin-nenministerium beobachtete, drängender denn je. Innenminister Wilhelm Frick ging daher Anfang 1934 davon aus, dass eine „Revision des Impfgesetzes [...] vo-raussichtlich die Gewissensklausel“65 bringen werde66. Diese Revision sei auch des-halb sinnvoll, weil sie „einem weitgehenden Volksempfinden Rechnung“67 trage, so dass bisherige Maßnahmen gegen Impfgegner „alsbald aufzuheben“68 seien.Solche Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt einer Kommission im Reichsinnenministerium, die im März 1934 an einer Revision des Impfzwangs arbeitete. In dieser Sitzung brachte Johannes Breger vom Reichsgesundheitsamt das grundsätzliche Dilemma auf den Punkt. Habe bislang die Devise gegolten, dass mögliche Schädigungen des Einzelnen „der Preis“ seien, „mit dem das deut-sche Volk seinen Pockenschutz bezahle“69, so müsse man nach der „Machtergrei-fung“ „prüfen, ob es einer staatlichen Ethik entspreche, ein solches Opfer zu ver-langen“. Eine Prüfung sei umso drängender, weil „ein großer Teil der deutschen Bevölkerung den Impfzwang ablehne“, wie Ministerialdirektor Arthur Gütt vom Innenministerium ergänzte. Sein Kollege von Kapff ging noch einen Schritt wei-63 StAOL, 136/5002, Blätter für Impfforschung, 4. Vierteljahr, H. 5, Jahrgang 1933.64 BArch Berlin, R 1501/3648, Rundschreiben des Reichsministers des Innern, 2. 3. 1934.65 StAOL, 136/5002, Rundschreiben des Reichsinnenministers Frick: „Betrifft: Impfwesen“, 1. 2. 1934.66 Ebenda, Rundschreiben des Reichsministers des Innern an die Landesregierungen, 4. 4. 1934.67 BArch Berlin, R 1501/3648, Anlage „Begründung zu dem Abänderungsentwurf zum Impf-gesetz“ zum Rundschreiben des Reichsministers des Innern an Reichsminister und Robert Koch-Institut, 2. 3. 1934.68 StAOL, 136/5002, Rundschreiben Reichsminister Frick an die Landesregierungen, 13. 2. 1934. Zwei Monate zuvor hatte ein Runderlass noch ein „Verbot impfgegnerischer Propaganda“ erklärt; BArch Berlin, R 1501/3121, Runderlass des Ministeriums des Innern, 20. 12. 1933.69 BArch Berlin, R 1501/3648, Niederschrift über die kommissarische Beratung im Reichs-ministerium des Innern am 14. 3. 1934, Anlage zum Rundschreiben des Reichsministers des Innern an alle Reichsminister, Reichsgesundheitsamt, Robert Koch-Institut, 24. 5. 1934. Hier auch alle folgenden unbelegten Zitate.
VfZ 1/201348 Aufsätzeter, als er den Impfzwang zu einem Prüfstein nationalsozialistischer Weltanschau-ung stilisierte: „Sollte die Zwangsimpfung bestehen bleiben“, werde „die Mehrheit des Volkes daran zweifeln, dass in der Medizinalpolitik [...] nationalsozialistische Grundsätze maßgebend seien“. Unterstützung erhielt Kapff vom Präsidenten des Dresdner Landesgesundheitsamtes Weber, dem eine „beschränkte Freiwillig-keit“ als zeitgemäße Antwort auf die Impffrage erschien. Schließlich seien „die Verhältnisse heute ganz andere als früher. Dank der Erziehung der nationalso-zialistischen Regierung sei eine Umstellung des Volkes in seinen Anschauungen eingetreten“, so dass man mit Freiwilligkeit mehr erreiche „als bisher mit der wie-derholten Zwangsimpfung.“ Dieser Auffassung konnten sich nicht alle Mitglieder der Kommission anschließen. Aus Hamburg protestierte Professor Paschen, dass der Staat seine Machtbefugnisse leichtfertig Preis gebe. Das Impfen dürfe „nicht dem Ermessen des Einzelnen überlassen bleiben“, sondern müsse „durch Gesetze erzwungen werden“.Schwerer wog der Einwand des Heeres-Sanitätsinspekteurs Anton Waldmann. Eine persönliche Entscheidung des „Volksgenossen“ beim Impfen widerspräche „dem Führerprinzip“ und erhöhe damit das Risiko von Seuchenherden „im Vol-ke“, die „im Falle eines uns aufgezwungenen Zukunftskrieges [...] das Heer in der Bewegungsfreiheit hinderten“. Diese wehrpolitischen Gründe führten am Ende der Sitzung zu der Erkenntnis, dass gegen die Abschaffung des Impfzwanges nach wie vor Bedenken bestünden. Die Kommission kam somit zu keinem abschlie-ßenden Ergebnis, woraus sich allerdings eine wichtige Erkenntnis gewinnen lässt: Für ein Hauptinstrument moderner Bevölkerungspolitik lag 1933 kein Konzept bereit. Um die zeitgemäße Vorsorge wurden nach der „Machtergreifung“ eine un-gewöhnlich offene Diskussion geführt70. Dass dabei die Eigenverantwortlichkeit des „Volksgenossen“ ein wichtiges Argument war, dass staatlicher Zwang sogar als Widerspruch zur nationalsozialistischen Ethik gesehen wurde, zeigt zweierlei: die programmatischen Widersprüche der Gesundheitspolitik und die Unklarheiten über die Legitimität staatlichen Zwangs gegenüber dem „Volksgenossen“. Das Impfen, so könnte man zusammenfassen, mutierte in der Frühphase des „Drit-ten Reichs“ zu einem Lackmustest für die „Zustimmungsdiktatur“71. Schließlich waren es beim Impfen die „ganz normalen Deutschen“, die man für die „Volksge-meinschaft“ gewinnen wollte.70 Alfons Labisch und Florian Tennstedt haben betont, dass in der NSDAP „konkrete Vorstel-lungen zur Organisation des Gesundheitswesens“ fehlten; Alfons Labisch/Florian Tenn-stedt, Gesundheitsamt oder Amt für Volksgesundheit? Zur Entwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes seit 1933, in: Norbert Frei (Hrsg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 35–66, bes. S. 43.71 Zur „Zustimmungsdiktatur“ vgl. Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Ge-heimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; Frank Bajohr, Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, in: Hamburg im „Dritten Reich“, hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Göttingen 2005, S. 69–121.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 49 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 493. Von der pragmatischen Prävention zur präventiven Innovation: Impf-programme ab 1935Währenddessen verlief die Praxis des Impfens in pragmatischen Bahnen. Po-ckenschutzimpfungen wurden zwar nach wie vor durchgeführt, auf eine rigide Durchsetzung des Impfzwanges verzichtete man jedoch72. Auf den ersten Blick schien sich das Mitte 1934 zu ändern. Das Innenministerium nahm bis dahin geltende Lockerungen zurück73, Ende des Jahres galt die Pflicht zu Pocken-schutzimpfungen offiziell wieder als Leitlinie. In der Praxis allerdings blieb man pragmatisch. In bemerkenswerter Offenheit erklärte das Reichsgesundheitsamt diesen Pragmatismus mit den Bedürfnissen der „Volksgenossen“, derentwegen man eine „elastische Behandlung“ verfolge. Was man sich unter dieser „Elastizi-tät“ vorstellen muss, erklärte ein Schreiben des Reichsgesundheitsamts an den Reichsinnenminister Ende 1935: „wenn denn der Impfarzt aus psychologischen Gründen auch hier und da einmal ein Kind nicht impft, welchem die streng me-dizinische Indikation vielleicht eine Impfung hätte erzwingen können, so schä-digt das Verfahren in keiner Weise den Pockenschutz des deutschen Volkes; es nützt aber in hohem Grade der allgemeinen Durchführung des Impfgesetzes, da eine solche Maßnahme dazu angetan ist, unnötige Hetze und Feindschaft gegen die Durchführung des Impfgesetzes zu verhüten. [...] Der Volkstümlichkeit der Gesundheitsgesetze, die gerade im nationalsozialistischen Staate als unbedingt erwünscht erscheinen muss, ist aber mehr gedient, wenn unnötige Unruhe bei der Durchführung der Gesetze in der Bevölkerung vermieden wird.“74 Die „elas-tische Behandlung“ schlug sich seither auch in gesetzlichen Bestimmungen nie-der. War die Schutzimpfung in Weimar ein scharf kontrolliertes Eingangstor zur höheren Bildung gewesen, galt der Impf-Nachweis seit Frühjahr 1936 nicht mehr als „Voraussetzung für die Aufnahme in die höhere Schulen“75.Pointiert gesagt war die „Elastizität“ in der Impffrage also nicht mehr als ein Feigenblatt. Zwar behauptete der NS-Staat offiziell den Zwangs-Charakter von Imp-fungen und damit seinen Machtanspruch über den „Volkskörper“. In der Praxis jedoch wurde dieser Machtanspruch selten systematisch durchgesetzt, da Verun-sicherungen der „Volksgenossen“ unerwünscht waren. 1940 wurde die Elastizität sogar in eine rechtsverbindliche Form gebracht, auf die man sich übrigens bis in die 1970er Jahre berief76. Aufgrund der „geringen Gefahr einer Pockenepidemie“ 72 Vgl. Stadtarchiv Frankfurt a. M. (künftig: StAF), MA/5914, Runderlass des Reichsministers des Innern an die Landesregierungen, 10. 4. 1934; zum Ende strafrechtlicher Verfolgungen von Impfverweigerern auf Reichsebene vgl. die Dokumente in: BArch Berlin, R 1501/3649.73 StAOL, 231–3/392, Rundschreiben des Reichsministers des Innern an die Landesregierun-gen, 6. 7. 1934.74 BArch Berlin, R 1501/3647, Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an Reichsminister des Innern, 12. 11. 1935.75 StAF, Schulamt/7098, Ausschnitt aus dem Amtsblatt des Reichsministeriums, 20. 3. 1936.76 Vgl. Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Aufopferungsanspruch im Falle der Pocken-schutzimpfung, AZ: III ZR 208/51 vom 19. 2. 1953, sowie Malte Thießen, Die immunisierte Gesellschaft als individuelle Verpflichtung. Impfen als Bevölkerungspolitik in der Bundesre-
VfZ 1/201350 Aufsätzeforderte man nun bei der Umsetzung des Reichsimpfgesetzes eine Beförderung des „Verständnisses für die Impfung“ in „allen Volkskreisen“, was eine „Verschie-bung“ von Impfungen zuließ77. In diesem Sinne lässt sich die „Behauptung“ der bevölkerungspolitischen Autorität des NS-Staates doppeldeutig verstehen. Einer-seits behauptete sich der staatliche Zwang offiziell, andererseits blieb er eine blo-ße Behauptung, die in der Praxis mit staatlicher Billigung ständig unterlaufen wurde.Die Aufweichung des Impfzwanges ging einher mit einer Ausweitung des Impf-schutzes, der ab Mitte der 1930er Jahre angestrebt wurde. Der „Volkskörper“ sollte nicht mehr allein gegen Pocken geschützt werden, sondern ebenso gegen weitere Infektionskrankheiten. Da Tuberkulose-Schutzimpfungen nach dem Lübecker Skandal nach wie vor nicht durchsetzbar schienen und Forschungen zur Schar-lachimpfung noch am Anfang standen78, nahm man zunächst die Diphtherie in Angriff. Diese Krankheit hatte in Teilen des Reichs bedrohliche Züge angenom-men. Allein 1935 erkrankten mehr als 180.000 Personen, überwiegend Kinder, von denen fast 8.000 starben79.In den Planungen für eine Ausweitung staatlicher Impfprogramme könnte man eine Vorsorge ganz eigener Art sehen, nämlich eine Vorbereitung auf den Kriegsfall. Tatsächlich blieb die Kriegswichtigkeit einer Immunisierung bis Kriegsende ein schlagendes Argument in den verantwortlichen Behörden: „Seu-chen“, so zog etwa das Reichsinnenministerium 1945 eine positive Bilanz vorbeu-gender Maßnahmen, „sind Schrittmacher der Kriege. In noch keinem Kriege war die Seuchenlage aber so günstig wie in diesem. Die Voraussetzung dafür bildeten die schon im Frieden zur Bekämpfung der Seuchen rechtzeitig und planmäßig geschaffenen Einrichtungen und Maßnahmen.“80 Wehrpolitische Argumente hat-ten letztlich bereits in der Debatte von 1934 den Ausschlag für eine offizielle Bei-behaltung des Impfzwangs gegeben.Andererseits brauchte man in der Wehrmacht keine Rücksicht auf ängstliche Eltern zu nehmen, Massenimpfungen ließen sich im Militär einfach befehlen. Einflussreicher für die Ausweitung des Impfprogramms dürften daher struktu-relle Entwicklungen gewesen sein. Mit dem „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ waren 1935 die kommunalen Gesundheitsämter verstaat-licht und zu Akteuren nationaler Gesundheits-Konzepte gemacht worden. Diese publik, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Bevölkerung und die Ordnung der Gesellschaft in der Nachkriegszeit, Göttingen 2013 (im Druck).77 Der Öffentliche Gesundheitsdienst 6 (1940/41), S. 218 f., hier S. 218.78 StAF, Schulamt/7089, Schriftwechsel zwischen dem Reichsministerium des Innern und dem Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt a. M., 27. 11. 1942.79 Vgl. Max Gundel, Die aktive Schutzimpfung gegen Diphtherie und die Ergebnisse der in den Jahren 1934 und 1935 in Deutschland durchgeführten Diphtherieschutzimpfungen, in: Ver-öffentlichungen aus dem Gebiete des Volksgesundheitsdienstes 48 (1937), H. 5, S. 385–600, hier S. 387.80 BArch Berlin, R 1501/3686, Bericht „Luftterror und Seuchenverhütung“, o.Dt. [Anfang 1945]. Vgl. auch den Bericht von G. Gassert aus dem RMI, in dem Impfprogramme zur „Voraussetzungen für das Gewinnen dieses Krieges“ erklärt werden; ebenda, R 1501/3805, G. Gassert, Vorbeugende Gesundheitsfürsorge, Sept. 1943.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 51 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 51Einrichtungen sorgten fortan für eine „Verreichlichung“ der Gesundheitspoli-tik81. Für die Implementierung nationaler Impfprogramme standen damit Infra-strukturen bereit, gleichzeitig boten Diphtherie-Massenimpfungen den Gesund-heitsämtern eine willkommene Gelegenheit, ihre Kompetenzen „vor Ort“ unter Beweis zu stellen. Zwar hatte der preußische Landesgesundheitsrat bereits 1928 Diphtherieschutzimpfungen im „großen Umfange“ empfohlen. Die Erfolge die-ser Empfehlung waren indes „verhältnismäßig gering“ gewesen, „jedenfalls nicht so ermutigend, um daran eingreifendere Verfügungen anzuknüpfen“82, wie der Leiter des Frankfurter Stadtgesundheitsamts 1934 resümierte.Seit der sukzessiven Verreichlichung des Gesundheitswesens avancierten Diph-therieschutzimpfungen zu einem Experimentierfeld sowohl für die kommunale Durchsetzungsfähigkeit reichsweiter Anordnungen als auch für die Zusammenar-beit zwischen staatlichen, kommunalen und Parteidienststellen. Die Auswertung eines dieser Experimente, einer Diphtherie-Massenimpfung in Westfalen von 1935, ergab, dass die hier durchgeführte Impfung von 320.000 Kindern der Ko-operation von Ärzteschaft, Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt (NSV), Rotem Kreuz, Verwaltung und Massenmedien ebenso bedurfte wie der Koordination durch die Gesundheitsämter. Waren letztere im Gesetz zur „Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ zunächst nur für die „Beaufsichtigung“ der Impfungen zuständig gewesen83, sprach ihnen das Reichsinnenministerium im April 1935 eine führende Rolle bei Impfungen zu. Schließlich stellten sie sowohl „besonders geeignete Einrichtungen“ dar als auch das notwendige Personal zur Verfügung, so dass „die Durchführung der öffentlichen Impfungen vorzugsweise den in den Gesundheitsämtern tätigen Ärzten übertragen“84 wurde.Fortan übernahmen die Ämter bei der Immunisierung des „Volkskörpers“ die Federführung85. In Presse und Rundfunk wurden Termine, Ort und Vorteile der Impfungen propagiert. In den Impflokalen erhielten die Ärzte Unterstützung durch NSV und Sanitäter des Roten Kreuzes, die NS-Frauenschaft kümmerte sich um besorgte Mütter, die Klassenlehrer wiederum führten Karteien über die Impflinge und konnten sich dabei auf die Mithilfe von Polizeibeamten stützen. Gesammelt wurden die Daten in den Gesundheitsämtern, von denen die Ergeb-81 Vgl. Alfons Labisch/Florian Tennstedt, Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ vom 3. Juli 1934: Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, 2 Bde., Düsseldorf 1985; Johannes Vos-sen, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfür-sorge in Westfalen, 1900–1950, Essen 2011, bes. S. 206–222; Gisela Tascher, Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920–1956. Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland, Paderborn 2010, bes. S. 144–153.82 StAF, MA/5914, Städtisches Anzeigenblatt Frankfurt a. M., 49/1934, S. 663.83 Arthur Gütt, Der öffentliche Gesundheitsdienst im Dritten Reich, in: Der öffentliche Ge-sundheitsdienst. Textausgabe des Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswe-sens vom 3. Juli 1934, Berlin 1935, S. 1–31, hier S. 13. Vgl. Verordnung zur Ausführung des Impfgesetzes, in: RGBl 1940, Teil I, S. 214 f., bes. S. 214.84 Runderlass des Reichsministers des Innern, 8. 4. 1935, in: Der öffentliche Gesundheitsdienst, S. 121.85 Gundel, Schutzimpfung, S. 406.
VfZ 1/201352 Aufsätzenisse auch statistisch aufbereitet wurden. Sie stellten darüber hinaus die Versor-gung der Impflokale mit Impfstoffen und Propagandamaterial sicher und gaben Ärzten, Hilfspersonal und der Presse „genaue Anweisung“86. Dank dieses ausge-klügelten Systems könne ein Arzt, wie ein Bericht aus Westfalen von 1935 her-vorhob, „in einer Stunde etwa 120“87 Kinder impfen. In den Folgejahren wurden ständig Verbesserungen in der Koordination erzielt, was sich in Steigerungen der Durchschnittsleistung ausdrückte. So meldete man 1942 aus Hannover, dass in einer Stunde mittlerweile bis zu 400 Kinder „reibungslos abgefertigt werden“88konnten.Für Historiker sind nicht primär die Leistungen dieser Akkordarbeit inte-ressant, sondern die sozialen Praktiken, die sich in den Massenimpfungen „vor Ort“ konstituierten. Impfungen sorgten dafür, dass alle Träger des öffentlichen Lebens im Dienste für den „Volkskörper“ eng zusammenarbeiteten. Ärzte und Lehrer, Verwaltung, Presse und Partei, Kirchen, Kinos und Pharmaunternehmen wurden in diese präventive Praxis eingebunden. So berichteten mehrere Amts-ärzte wie jener aus Bottrop im Juli 1938, dass die Aufführung des Films „Vorbeu-gen ist besser als Heilen“ große Erfolge gebracht habe. Der Aufklärungsfilm war den Gesundheitsämtern von den Behringwerken der I.G. Farben kostenlos zur Verfügung gestellt worden, da für eine „weitestgehende Erfassung der Impflinge [...] eine intensive Propaganda erforderlich“89 sei, wie das Unternehmen erklär-te. Dass auf Seiten der Behringwerke bevölkerungspolitische mit wirtschaftlichen Interessen bei der Effektivierung der Vorsorge zusammenfielen90, unterstreichen zahlreiche weitere Angebote, die den Gesundheitsämtern gemacht wurden. Neben farbigen Diapositiven waren es vor allem mehrere Broschüren sowie ein „Schulkinder-Brief“, durch den sich die übliche „Zustimmungserklärung“91 der Eltern erfahrungsgemäß umgehen lasse, wie das Begleitschreiben warb. In dieser präventiven Praxis formierte sich also eine „geschlossene Abwehrfront aller maß-geblichen Stellen“92, wie ein Beobachter der ersten Diphtherieschutzimpfungen in Westfalen freudig feststellte. Diese geschlossene „Abwehrfront“ war insofern von Bedeutung, als die Maßnahmen ausdrücklich als freiwillig propagiert wurden. Impfungen avancierten damit zu einem gesellschaftlichen Laboratorium, in dem zweierlei erprobt wurde: die Zustimmung der „Volksgenossen“ zu neuen Präven-tionsprogrammen und die Praxistauglichkeit der Bevölkerungspolitik „vor Ort“.86 Vgl. ebenda, S. 407 u. S. 415.87 Ebenda, S. 414.88 BArch Berlin, R 36/1322, Bericht des Oberbürgermeisters Hannover, 18. 12. 1942.89 BArch Berlin, R 36/1321, Bericht des Oberbürgermeisters Bottrop, 15. 7. 1939; BArch Ber-lin, R 36/1322, Bericht des kommunalen Gesundheitsamtes Hagen, 9. 1. 1941.90 Vgl. die Veröffentlichung der „Behringwerke“, nach der die „Bekämpfung [...] der großen Seuchen [...] ernste Pflicht der für die Volksgesundheit verantwortlichen Stellen“ zu sein habe. Behringwerke (Hrsg.), Vaccinen und andere biologische Produkte zur Schutz- und Heilbehandlung von Infektionskrankheiten, Marburg 1937.91 StAF, MA/5914, Schreiben der Behringwerke an das Stadtgesundheitsamt Frankfurt a. M., 12. 12. 1940.92 Gundel, Schutzimpfung, S. 428.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 53 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 53Es versteht sich von selbst, dass bei dieser präventiven Praxis nicht wenige prak-tische Probleme entstanden. Tatsächlich entwickelte sich das Zusammenspiel der Akteure, insbesondere zwischen jenen der Gesundheitsämter und der NSV, im-mer wieder zum Konkurrenzkampf zwischen staatlichen und Parteidienststellen um die Vormachtstellung bei der Vorsorge93. Darüber hinaus weisen Berichte aus den Kommunen darauf hin, dass das Zusammenspiel unter Kriegsbedingungen weitere Reibungsverluste mit sich brachte94. Umso mehr lag den Verantwortlichen am schönen Schein, den Massen-Impfungen als Beispiel der vorsorgenden „Volks-gemeinschaft“ entfalteten. Schon 1935 finden sich Belege, dass Massenimpfungen stets auch eine propagandistische Funktion erfüllen sollten. So wurde während der ersten Diphtherieimpfungen Wert darauf gelegt, dass „private Impfungen“ für „Kinder ‚prominenter Persönlichkeiten‘“95 verboten und sämtliche Impflinge im doppelten Wortsinn gleich behandelt wurden.Die Gleichheit der Behandlung galt selbstverständlich nur in den Grenzen, die von der „Volksgemeinschafts“-Ideologie gezogen wurde. Impfungen für jüdische Kinder kamen bei den Terminen im Gesundheitsamt ebenso wenig in Frage wie die Einbindung jüdischer Ärzte in die präventive Praxis96. Scharfen Protest erhob man deshalb an der Frankfurter Adolf-Hitler-Schule im Mai 1935, als „ein jü-discher Medizinalpraktikant zu den Impfterminen“ erschienen war, der für seine Approbation die Teilnahme an öffentlichen Impfungen nachweisen musste. Der Schuldirektor bat um schnellstmögliche „Aufklärung“97 dieses Falles, machte das Gesundheitsamt aber vorsorglich darauf aufmerksam, dass dem Studenten keine Teilnahme-Bescheinigung ausgestellt worden sei. Im Gesundheitsamt wiederum wies man jegliche Verantwortung für diesen „zumindest geschmacklosen“ Vorfall von sich und im selben Atemzug darauf hin, dass „jüdische Impfärzte“ allenfalls für „jüdische Schulen“98 zugelassen seien. „Um die Wiederholung von unlieb-samen Vorgängen dieser und ähnlicher Art“99 zukünftig zu verhindern, ordnete das Stadtgesundheitsamt eine scharfe Überwachung der Medizinalpraktikanten an, was ganz der Leitlinie regionaler Exklusionsprozesse, nicht nur in Frankfurt, entsprochen haben dürfte100.93 Vgl. Labisch/Tennstedt, Gesundheitsamt, in: Frei (Hrsg.), Medizin und Gesundheitspolitik, bes. S. 62–66.94 Entsprechende Berichte der Gesundheitsämter 1941 und 1942 in: BArch Berlin, R 36/1321, sowie in: StAF, MA/5914, Schreiben des Frankfurter Oberbürgermeisters an den Reichsmi-nister des Innern, 14. 3. 1940.95 Gundel, Schutzimpfung, S. 424.96 Vgl. Rebecca Schwoch, „Die amtlichen Gesundheits- und Fürsorgestellen müssen für alle sor-gen...“. Nationalsozialistische Versorgungsstrukturen: Gesundheitspolitische Vorstellungen versus Versorgung im Alltag, in: Stöckel/Walter (Hrsg.), Prävention, S. 136–151, bes. S. 141–144.97 StAF, MA/5914, Schreiben der Adolf-Hitler-Schule an das Stadtgesundheitsamt, 23. 5. 1935.98 Ebenda, Antwort des Stadtgesundheitsamts an den stellvertretenden Amtsarzt, 31. 5. 1935.99 Ebenda, Schreiben des Stadtgesundheitsamts an den Frankfurter Oberbürgermeister, 11. 6. 1935.100 Vgl. Birgit Drexler-Gormann, Jüdische Ärzte in Frankfurt am Main in: 1933–1945. Isolati-on, Vertreibung, Ermordung, Frankfurt a. M. 2009. Zu Exklusionsprozessen „vor Ort“ vgl.
VfZ 1/201354 AufsätzeBemerkenswert ist dieser Ausschluss insofern, als er dem Präventionsgedanken widersprach. Schließlich riskierte man mit einer selektiven Vorsorge den Fortbe-stand von Infektionsquellen. Dass dieses Risiko kein Thema war, unterstreicht den generellen Befund: Beim Impfen ging es immer auch um die Formierung des „Volkskörpers“, hier konstituierte sich die „Volksgemeinschaft“ in der sozi-alen Praxis vor Ort101. Im Mittelpunkt stand nie nur das „eigene Interesse“, son-dern ebenso das „der anderen Volksgenossen“102, wie ein Münchener Obermedi-zinalrat hervorhob. Daher folgten Impfungen im „Dritten Reich“ nicht mehr dem Egalitätsprinzip wie in Weimar, sie waren nun ein Akt „volksgemeinschaftlicher“ Mobilisierung. In den Schlangen vor den Impflokalen formierte sich eine „Volks-gemeinschaft“ aus Pflichtgefühl, die ihren Beitrag zur Immunisierung des „Volks-körpers“ leistete103. Eine „Pflichtvergessenheit gegenüber dem Volksganzen“, den eine Verweigerung des Impfens darstellte, widerspräche dem Ehrgefühl jedes „Volksgenossen“, wie ein Aufruf in Siegen betonte: „Es ist wohl Ehrensache, dass demnächst dem NSV-Blockwalter mit ‚Ja‘ geantwortet wird, wenn er bei seinem Rundgang anfragt, ob Hans und Fritz jetzt schutzgeimpft sind.“104 Solche Über-höhungen des Impfens zu einem Dienst an der „Volksgemeinschaft“ bedienten unterschiedliche Interessen. Zum einen intensivierten sie den sozialen Druck, der auch „Impfmüde“ in die Gesundheitsämter getrieben haben dürfte. Zum ande-ren verklärten sie andere Motive für eine Impfbeteiligung zum Bekenntnis zur „Volksgemeinschaft“: Für einen Großteil der Eltern dürfte die Angst vor der Diph-therie ja immer noch ein wichtigeres Argument für Impfungen gewesen sein als ihr Pflichtgefühl gegenüber dem „Volksganzen“.Selbst wenn nicht jeder „Hans und Fritz“ geimpft wurde und man die soziale Wirksamkeit dieser inszenierten „Volksgemeinschaft“ in Frage stellt, lässt sich die Diphtherieschutzimpfung als bevölkerungspolitische Innovation deuten. Mit ihr wurden Mitte der 1930er Jahre Strukturen geschaffen, in denen weitreichende Vorsorge-Maßnahmen umgesetzt werden konnten. Auch in diesem Sinne etablier-ten sich im „Dritten Reich“ mit neuen Massenimpfungen präventive Praktiken, die über jene in Weimar hinausgingen. Geimpft wurde nun im Verbund zahlreicher Akteure, unter der Ägide der Gesundheitsämter, die dabei durch Medizin und Medien unterstützt wurden. Diese Praxis war aber nicht nur neu, sondern auch ausgesprochen erfolgreich: Diphtherieschutzimpfungen führten zu einer durch-schnittlichen Beteiligung von über 90 Prozent, obwohl sie stets freiwillig blieben. Es ist nicht ohne Ironie, dass selbst im Zeichen der formal bestehenden Zwang-simpfung gegen Pocken meist schlechtere Durchimpfungsquoten erzielt wurden. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deut-schen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.101 Vgl. die Beiträge in: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.), Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013.102 BArch Berlin, R 36/1322, Bericht des Gesundheitsamts der „Hauptstadt der Bewegung“, 7. 8. 1942.103 Ebenda, Amtsblatt der Stadt Nürnberg, 13. 9. 1940, S. 1.104 Ebenda, Anhang „Noch einmal! Diphtherie-Schutzimpfung!“ zum Schreiben des Oberbür-germeisters Siegen an das Amt Kommunalpolitik der NSDAP in Freudenberg, 13. 5. 1942.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 55 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 55Doch genau das charakterisiert den Wandel im „Dritten Reich“: die grundsätz-liche Freiwilligkeit erfolgreicher Impfprogramme.Flankiert wurde die Freiwilligkeit nicht nur vom sozialen Druck, den die Stili-sierung des Impfens zum Dienst an der „Volksgemeinschaft“ auf den Einzelnen ausübte. Hinzu kam eine massive Instrumentalisierung von Ängsten. Zwar war die Notwendigkeit des Impfens bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik mit Krankheit und Tod begründet worden. Im „Dritten Reich“ allerdings nahm diese Begründungsstrategie neue Ausmaße an. „Immer noch“, warnte beispiels-weise ein Flugblatt aus München im Jahr 1941, „fordert die Diphtherie (Halsbräu-ne) ihre jährlichen Opfer. Diphtherie-Todesfälle sind immer besonders schmerz-lich und traurig, weil sie in der Regel Kinder treffen, die bis dahin vollständig gesund waren und nun plötzlich aus vollster Gesundheit in wenigen Tagen hin-weggerafft werden. Der Diphtherietod ist ein Herztod oder Erstickungstod.“ „El-tern!“, schloss der Aufruf mit mehreren Ausrufezeichen, „Die Verantwortung, die Ihr tragt, ist groß! Ihr dürft Eure Kinder nicht der Gefahr einer Diphtherieer-krankung aussetzen!“105 Der Tonfall und die Verbreitung solcher Appelle waren von neuer Qualität. In allen Teilen des Reiches malten Plakate, Filme, Broschüren und Zeitungen in kräftigen Farben die Gefahren von Seuchen aus106. Sie geben Hinweise darauf, dass die Einführung neuer Impfungen neue Legitimationsstra-tegien erforderte. Anders gesagt: Gerade die Freiwilligkeit beförderte eine Instru-mentalisierung der Angst, die auch zweifelnde „Volksgenossen“ überzeugt haben dürfte.Beim Impfen zeichnet sich daher eine Entwicklung ab, die Christoph Sach-ße und Florian Tennstedt als Wende vom „autoritären“ zum „völkischen Wohlfahrtsstaat“107 bezeichnet haben. Die Immunisierung des „Volkskörpers“ schien den Verantwortlichen nur mit, nicht gegen das Volk durchführbar. Aus diesem Grund wurde in Aufrufen, Plakaten, Presseartikeln, Vorträgen und Fil-men ebenso an die Ängste der Eltern appelliert wie an deren „sittliche Pflicht“ gegenüber der „Volksgemeinschaft“. Andere Argumente wie die gewaltige Ko-stenersparnis fanden hingegen seltener in die Öffentlichkeit. So sprach nur ein interner Bericht des Gesundheitsamtes Recklinghausen 1940 von den Schutzimp-fungen „als beste Kapitalanlage“. Da die kommunalen und kassenärztlichen Aus-gaben für Behandlungskosten erheblich gesenkt würden, hoffe man, „dass die Impfung uns eine reichliche Verzinsung in Form eines merklichen Rückganges der Di.[phtherie]-Erkrankungen“108 bringe109.105 Ebenda, Bericht des Münchener Gesundheitsamtes über die Diphtherie-Schutzimpfungs-aktion 1941, 7. 8. 1942.106 Hinweise auf weitere Aufrufe in Berlin, Bielefeld, Bremen, Hagen, München, Nürnberg, Siegen, in: BArch Berlin, R 36/1321 und 1322.107 Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart 1998, S. 18 u. S. 198.108 BArch Berlin, R 36/1322, Bericht über die in Stadt Recklinghausen durchgeführte Diph-therieschutzimpfungen [1940].109 Vgl. auch die programmatische Forderung an die NS-Volkswohlfahrt, „Nicht Fürsorge, sondern Vorsorge tut not“, bei Hermann Althaus, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt,
VfZ 1/201356 AufsätzeWie gesagt, fußten diese neuen Praktiken der Vorsorge auf zentralisierten In-frastrukturen, die Mitte der 1930er Jahre mit den staatlichen Gesundheitsämtern bereit standen. Dieser Zusammenhang ist auch insofern bemerkenswert, weil er auf langfristige Entwicklungen über das „Dritte Reich“ hinaus aufmerksam macht. In ihrer Studie zur Polio-Schutzimpfung nach 1945 haben Ulrike Lindner und Stuart Blume nachgewiesen, wie sehr medizinische Innovationen von räumlichen Strukturen abhängig sind. Sie erklären so die Einführung neuer Impf-Programme im Westeuropa der 1950er und 1960er Jahre110. Mit Blick auf das Diphtherie-Pro-gramm in der NS-Zeit bliebe indes zu fragen, ob man diese Entwicklungen erst in der Nachkriegszeit feststellen kann. Schließlich wurden bereits im „Dritten Reich“ die Strukturen für jene präventiven Innovationen gelegt, die in der Bundesrepu-blik und DDR in voller Blüte stehen sollten111.4. Expansion und Prävention: Impfen im totalen KriegDass Kriege mobilisieren und radikalisieren, zeigte sich im „Dritten Reich“ in den schlimmsten Auswüchsen. Beim Thema Impfen hat diese Erkenntnis dazu geführt, dass sich die Forschung vor allem auf einen Aspekt konzentriert hat: Auf Menschenversuche in Konzentrationslagern, in denen Impfstoffe und -verfahren erprobt wurden112. Diese Verbrechen sind zweifellos ein ebenso wichtiges wie widerliches Kapitel der NS-Geschichte. Die Zeitgeschichte darf dabei dennoch nicht stehen bleiben, sie muss auch nach präventiven Prozessen in der Kriegs-gesellschaft und im Militär sowie nach der soziale Mobilisierung fragen, die Impfprogramme bewirkten. Diese Entwicklungen stehen abschließend im Mittel-punkt, wobei drei Aspekte genauer betrachtet werden. Zunächst geht es um den Krieg als Katalysator für Seuchen-Ängste und für die Akzeptanz von Impfungen. Dann soll das Spannungsfeld zwischen Front und „Heimatfront“ vermessen und danach gefragt werden, ob sich daraus Impulse für neue Impfprogramme erga-ben. Und schließlich werden die Wechselbeziehungen zwischen militärischen und wirtschaftlichen Interessen beim Aufbau einer Impfindustrie thematisiert.Nach den erfolgreichen Schutzimpfungen im Ersten Weltkrieg war es wenig überraschend, dass im Zweiten Weltkrieg ein besonderes Augenmerk auf den Seuchen-Schutz von Kampfeinheiten gerichtet wurde. Insbesondere „im Osten“, der traditionell als „Seuchenherd“ für das gefürchtete Fleckfieber galt113, sollte in: Paul Maier-Benneckenstein (Hrsg.), Das Dritte Reich im Aufbau. Übersichten und Lei-stungsberichte, Bd. 2, Berlin 1939, S. 9–59, hier S. 13.110 Vgl. Lindner/Blume, Vaccine Innovation.111 Vgl. Malte Thießen, Deutsch-deutsches Vorsorgen. Impfen in der Bundesrepublik und DDR, in: Zeithistorische Forschungen 2013 (im Erscheinen).112 Einen Überblick über Forschungen zu „verbrecherischen Humanexperimenten“ bieten Jüt-te/Eckart/Schmuhl/Süß, Medizin und Nationalsozialismus, S. 124–148.113 Vgl. Paul Weindling, Die weltanschaulichen Hintergründe der Fleckfieberbekämpfung im Zweiten Weltkrieg, in: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hrsg.), Medizin, Naturwis-senschaft, Technik im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994, S. 129–135.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 57 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 57die Wehrmacht geschützt sein. Der steigende Bedarf an Impfstoffen, der aus sol-chen Absichten resultierte, zog Verteilungskonflikte nach sich: Die Herstellung von Fleckfieber-Impfstoff war in den 1940er Jahren äußerst aufwendig, ein Impf-schutz nur begrenzt verfügbar. Wehrmacht, SS, Besatzungsbehörden, Wirtschafts-unternehmen und Zivilpersonen standen daher im ständigen Wettstreit um ihre Immunisierung114.Seit dem Überfall auf die Sowjetunion setzte auch unter den ganz normalen Deutschen ein regelrechter Ansturm auf den Fleckfieber-Impfstoff ein, wie er für keine andere Impfung festzustellen ist. Beispiele für dieses persönliche Bedürfnis sind Initiativen von Einzelpersonen oder Unternehmen, die den Impfschutz in die eigene Hand nahmen. Das Robert Koch-Institut erreichten damals zahlreiche Briefe wie der eines Hamburger Baudirektors, der dringend um „etwas Impfstoff“ für seinen Sohn an der „Leningrader Front“115 bat, da dort keine ausreichende Immunisierung durch die Wehrmacht erfolgt sei. Auch Firmen wie die Junkers-Werke wünschten eine „Übersendung von Fleckfieberimpfstoff“ für Mitarbeiter in der Ukraine116. Schwieriger zu lösen waren wohl Anfragen wie jene der Reichs-bahn, die „Serum für 60.000 Personen“ anfragte117.Die Nachfrage stieg kontinuierlich an, obwohl der „Kampf gegen die Laus“, gegen den Wirt des Fleckfiebers, sehr viel effektiver als jede Impfung war118, und der Impfstoff keineswegs jene umfassende Immunisierung garantierte, wie man sie von der Pocken- oder Diphtherieschutzimpfung kannte. Darauf wies die Pres-se immer wieder hin – nicht zuletzt, um Verschärfungen des Verteilungskampfes zu verhindern. Sie drang damit aber nicht durch, weil die Fleckfieberbedrohung an der „Heimatfront“ mitnichten irreal war. In Hamburg beispielsweise sah die Gesundheitsverwaltung voller Sorge sowohl auf die Erkrankungsfälle im nahe gelegenen Konzentrationslager Neuengamme als auch auf „Wehrmachtsangehö-rige, die auf Urlaub hier waren“, und bei denen „sich nachträglich Fleckfieber herausgestellt“119 hatte. Selbst wenn Soldaten durch Impfungen geschützt waren, konnten sie zur Bedrohung für ihre Angehörigen werden, waren sie doch trotz ih-rer Immunisierung nach wie vor ansteckend, ohne Symptome zu zeigen. Gefähr-lich für die Heimat wurde zudem der anschwellende Strom an Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die Krankheiten aus Osteuropa einzuschleppen drohten, gegen die im Reich keine natürliche Immunität bestand und gegen die es auch keine staatlichen Impfprogramme gab. Außerdem bereiteten die Bedingungen, 114 Vgl. Karl-Heinz Leven, Fleckfieber beim deutschen Heer während des Krieges gegen die Sowjetunion (1941–45), in: Ekkehart Guth (Hrsg.), Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg, Herford u. a. 1990, S. 127–165.115 BArch Berlin, R 86/3674, Schreiben Baudirektor a.D. Lamprecht, Hamburg, an das Institut Robert Koch, 12. 1. 1942.116 Ebenda, Schreiben der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, Dessau, an das RKI, 11. 3. 1942.117 Ebenda, Schreiben des Reichsbahn-Zentralamts an das Robert Koch-Institut, 30. 9. 1942.118 Süß, Volkskörper im Krieg, S. 228.119 BArch Berlin, R 86/3674, Schreiben der Hamburger Gemeindeverwaltung an Haupt-Sani-tätsdepot Berlin, 14. 1. 1942.
VfZ 1/201358 Aufsätzeunter denen Gefangene und Zwangsarbeiter leben und arbeiten mussten, Krank-heiten einen idealen Nährboden. Von diesen schien nach der Expansion der Kriegswirtschaft fast das gesamte Reich bedroht. Nicht mehr allein die Gefange-nenlager, jeder einzelne Betrieb, der Zwangsarbeiter beschäftigte, galt nun als potenzieller Seuchenherd120. Schließlich brachen in den „eingegliederten“ pol-nischen Gebieten im Zuge der Deportationen und Ghettoisierungen Epidemien aus, die auf das Altreich übergreifen konnten. Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti warnte Anfang 1942, dass im „Zusammenhang mit der freiwilligen oder un-freiwilligen Wanderung der Juden [...] die Krankheit im Generalgouvernement stark verbreitet“121 werde; 65.000 Fälle seien bereits gemeldet worden.Im Reich setzte daraufhin eine hektische Impf-Welle ein. In Betrieben und Ar-beitsämtern, in DAF- und Konzentrationslagern wurden Schutzimpfungen gegen Fleckfieber angeordnet. Freilich nur für das „reichsdeutsche Lagerpersonal“122, wie die Deutsche Arbeitsfront betonte, da der Impfstoff gegen Fleckfieber an der „Heimatfront“ nach wie vor Mangelware blieb. Irritiert zeigte sich daher das Ro-bert Koch-Institut, als ein Nürnberger Motorenwerk Impfstoff für „3.000 Russen“ anforderte. In seiner Antwort machte das Institut deutlich, dass Impfungen „in erster Linie für Deutsche bestimmt“ seien, die „Behandlung von Russen“ nicht vor-gesehen wäre. Zerknirscht räumte das Werk daraufhin ein, dass man „unrichtig“ bestellt habe und eine Impfung der „ausländische[n] Arbeitskräfte [...] in keinem einzigen Fall in Frage“123 käme. In Zeiten knapper Ressourcen richtete sich die Pra-xis der Vorsorge im Reich freilich nicht nur an rassistischen, sondern auch an be-trieblichen und sozialen Hierarchien aus. So wies ein norddeutsches Gesundheits-amt 1942 darauf hin, dass man bei Schutzimpfungen zuerst an die Ärzte, dann an Gemeindeschwestern und erst dann an das Pflegepersonal denke, obgleich letzte-re den intensivsten Kontakt mit „russischen Arbeitskräften“124 hatten.Letztlich zeichnet sich an den Schwierigkeiten einer Immunisierung gegen Fleckfieber ein grundsätzliches Problem der NS-Gesellschaft ab: Migration und Mobilität im Dienste der Kriegsrüstung waren epidemiologisch gesehen eine Ka-tastrophe. Sie zeigten drastisch, wie groß die Lücken im „Herdenschutz“ waren und evozierten ein alltägliches Bedrohungsgefühl, das allerdings die Attraktivität von Impfungen noch weiter erhöhte. Sich impfen zu lassen, avancierte im Reich zu einem ebenso existenziellen wie exklusiven Bedürfnis, und zwar bevor die er-sten Runderlasse eine Schutzimpfung empfahlen125. Hier liegt vielleicht die tiefste 120 Vgl. Geoffrey Campbell Cocks, The State of Health. Illness in Nazi Germany, Oxford 2012, S. 63 f.121 BArch Berlin, R 1501/3794, Bericht des Reichsgesundheitsführers an die Partei-Kanzlei, 26. 1. 1942.122 BArch Berlin, R 1501/3645, Schreiben der Deutschen Arbeitsfront an das Reichsinnenmi-nisterium, 3. 5. 1943.123 BArch Berlin, R 86/3674, Schreiben der Hugo Schneider AG an das Robert Koch-Institut, 6. 3. 1942, Antwort des Robert Koch-Instituts, 12. 3. 1942, sowie Antwort der Schneider AG an RKI, 12. 3. 1942.124 Ebenda, Schreiben des Gesundheitsamts Bremervörde an Robert Koch-Institut, 1. 6. 1942.125 StAF, MA/5914, Runderlass des Reichsministers des Innern, 20. 4. 1942.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 59 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 59Wurzel dessen, was man später das „präventive Selbst“ genannt hat: in der kollek-tiven Angst und dem daraus resultierenden Engagement Einzelner in Zeiten des „totalen Krieges“, der den Impfschutz zur privaten Sache machte.Allerdings bargen die besetzten Gebiete im Osten nicht nur Seuchengefahren. Sie boten zugleich neue Chancen für die Seuchen-Bekämpfung. Schließlich gab es dort mehrere Impf-Institute, die mit der Herstellung von Fleckfieber-Impfstoff bereits jahrelange Erfahrung hatten. Insofern ist es kein Zufall, dass mit dem Vorrücken der Wehrmacht auch die deutsche Pharmaindustrie ein neues Ope-rationsfeld entdeckte. Das Reichswirtschaftsministerium plante im Verlauf der „Operation Barbarossa“ die „Sicherstellung aller in diesem Raum befindlichen“ Impf-Institute, die nicht nur den Bedarf in den besetzten Gebieten decken, son-dern auch Bedürfnisse im Reich befriedigen sollten, da hier mit dem Ostarbeiter-Einsatz „besonders starke Anforderungen“ entstünden126.Dabei bestand in den zuständigen Ministerien Einigkeit darüber, dass es „sich [als] am zweckmäßigsten erwiesen“ habe, „solche Betriebe einem leistungsfä-higen Industrieunternehmen zu überlassen“127. Den Löwenanteil an den ero-berten Instituten sicherten sich die Behringwerke der I.G. Farben. Sie stellten sich umgehend auf den wachsenden Bedarf der „Volksgemeinschaft“ ein und ver-sprachen bei der Einrichtung einer Herstellungsstätte in Lemberg Anfang 1942, dass der Impfstoff „in erster Linie dem Reich und dem Generalgouvernement zur Verfügung“ stehen solle. Eine schnelle Produktionsaufnahme könne garan-tiert werden, wohl auch, weil Joachim Mrugowsky, Leiter des Hygiene-Instituts der Waffen-SS, Versuche am Menschen zusagte, in denen die Wirksamkeit des Impfstoffs „geprüft werde“128. Der anschließende Schriftverkehr zwischen SS-Sa-nitätsamt, Robert Koch-Institut, Innenministerium und Behringwerken bezeugt den Erfolg dieser Menschenversuche, da von diesen die „Verträglichkeit“129 der Impfstoffe bestätigt worden sei.An dieser Art von „Aufbau Ost“ waren nicht nur die Behringwerke beteiligt, auch andere Unternehmen konnten an „Erweiterungen der Produktionsstätten“130 den-ken. Da die systematische Versorgung des Reichs mit Fleckfieber-Impfstoffen Pro-bleme aufwarf, sollte der Aufbau einer Impf-Industrie neue Ressourcen für den Schutz von Kampfeinheiten und Besatzungskräften wie für die Immunisierung der „Volksgemeinschaft“ erschließen. Dieses Vorhaben blieb ein Wunschtraum. Bis zur Einstellung der Unternehmen im Jahr 1944 erreichte man im Osten allen-falls die Selbst-Versorgung sowie die Immunisierung vor Ort liegender Einheiten. 126 BArch Berlin, R 1501/3731, Bericht von [Heinrich] Neumann über „Einsatz im Osten / Serum-Fragen“, 23. 9. 1941.127 Ebenda, Schreiben des Reichsinnenministeriums an den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, 1. 5. 1942.128 BArch Berlin, R 1501/3644, Besprechungs-Vermerk des Reichsministers des Innern über Fleckfieberimpfstoff-Produktion im Generalgouvernement, 5. 1. 1942.129 Ebenda, Schreiben Mrugowskys an Conti, Reichsarzt SS und Polizei, SS-Sanitätsamt, Robert Koch-Institut, Fleckfieber-Forschungsinstitut OKH, Behringwerke, 5. 5. 1942.130 BArch Berlin, R 1501/3645, Bescheinigung des SS-Sanitätsamts an das Asid-Serum-Institut, 6. 1. 1943.
VfZ 1/201360 AufsätzeDoch selbst dieser magere Teilerfolg wurde vom Propagandaministerium noch herausgestellt als „eine Großtat deutscher Forschungen“131, die dem besetzten Volk zu Gute käme. Dass solche Behauptungen eher den Interessen der Propa-ganda entsprachen als der tatsächlichen Situation, liegt auf der Hand: Bereits vor Anlaufen der Produktion hatte ein Bericht des Reichspropagandaministeriums hervorgehoben, dass „aus Prestige-Gründen der Wunsch“ nach Impfstoff-Produk-tionen bestehe, „um damit die Überlegenheit der deutschen Wissenschaft und Organisation beweisen zu können“132. An der Immunisierung des Ostens sollte man gewissermaßen die Leistungskraft des Deutschtums ermessen. Das Impfen galt demnach als Ausdruck deutscher Kulturleistungen, die den unterentwi-ckelten Osten vom Seuchenherd in einen sanierten germanischen „Lebensraum“ verwandeln sollten. Nach der Kriegswende 1943 erwiesen sich solche kolonialen Träume allerdings schnell als Luftschlösser.FazitDie Geschichte des Impfens ist eine Gesellschaftsgeschichte der Moderne. Sie eröffnet dem Zeithistoriker ein Forschungsfeld, auf dem sich grundsätzliche ge-sellschaftliche Erkenntnisse gewinnen lassen. Schließlich ging es beim Impfen nie allein, oft nicht einmal in erster Linie um Krankheit und Gesundheit. Häu-figer ging es um Gesellschafts- und Menschenbilder, um die Klärung staatlicher Pflichten und Ansprüche, um die Normierung individuellen Verhaltens und um eine Verständigung über das Verhältnis von Staat und Staatsbürger bzw. um die Beziehung zwischen „Volkskörper“ und „Volksgenossen“. Eine Geschichte des Impfens beschäftigt sich daher immer auch mit der Aushandlung von Legitimität und Grenzen staatlicher Macht und persönlicher Freiheitsrechte, mit kollektiven Ängsten und individuellen Bedürfnissen.Diese Geschichte ist zugleich eine Geschichte gesellschaftlichen Wandels, der seit Ende der 1920er Jahre an Dynamik gewann. Veränderte sich am Ende der Weimarer Republik die Einstellung staatlicher Akteure zu Zwangsmaßnahmen bereits vorsichtig, läutete das „Dritte Reich“ den Übergang vom Zwang zur Frei-willigkeit ein: Während Weimar beim Impfen auf staatliche Autorität setzte, nahm im „Dritten Reich“ eine Politik ihren Anfang, an die man nach Kriegsende nahtlos anknüpfen konnte133. Entsprechende Kontinuitäten finden sich in der Bundesre-publik sowohl in der prinzipiellen Freiwilligkeit aller Programme – mit Ausnahme der Pockenschutzimpfung, die auch nach Kriegsende eine Pflichtimpfung blieb – als auch in den Appellen, mit denen zur Beteiligung an Impfprogrammen aufge-rufen wurde. Bis in die 1970er Jahre war die Rede von einer Verpflichtung, wenn 131 Ebenda, Schreiben der Presseabteilung im RMVP an das Robert Koch-Institut, 11. 6. 1943.132 BArch Berlin, R 1501/3731, Bericht Heinrich Neumanns „über die Reise nach der Ukraine vom 15. bis 31. Oktober 1941 zur Erkundung der Serum-Institute“, 5. 10. 1941.133 Vgl. Hans Günter Hockerts, Vorsorge und Fürsorge. Soziale Sicherung in den Gründerjah-ren der Bundesrepublik, in: Marc von Miquel (Hrsg.), Sozialversicherung in Diktatur und Demokratie, Münster 2007, S. 317–332, bes. S. 325.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 61 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 61auch seltener für die „Volksgemeinschaft“134 als für die „Volksgesundheit“. Auch eine Instrumentalisierung von Ängsten setzte sich nach 1945 fort. Nach wie vor warb man mitunter recht drastisch für Impfungen. Ein Beispiel bietet die nie-dersächsische Medizinalverwaltung, die Anfang 1967 via „Bild-Zeitung“ allen „El-tern, die ihre Kinder nicht zur Schluckimpfung bringen“, einen Besuch in einem „Heim für gelähmte Kinder“ empfahl: „Dort werden sie zur Vernunft kommen, wenn sie die armen Kleinen sehen, die am Stöckchen gehen müssen oder kaum zu einer Bewegung fähig sind.“135Kontinuitäten finden sich zudem in dem erweiterten Angebot präventiver Maßnahmen, das im NS-Staat begründet wurde. Zu den Pockenschutzimpfungen wurden seit den 1930er Jahren Diphtherie- und, wo verfügbar, Fleckfieber-Imp-fungen in das präventive Arsenal aufgenommen. Im Krieg kamen die Scharlach- und zuletzt sogar die umstrittene Tuberkulose-Schutzimpfung hinzu, die im Janu-ar 1945 ausdrücklich als freiwillige Maßnahme eingeführt wurde, zumal selbst 15 Jahre nach dem Lübecker Impfskandal Befürchtungen vor Impfschäden nach wie vor Thema waren. Folglich wies das Reichsinnenministerium in seinem Erlass zur Einführung der Impfung 1945 ausdrücklich darauf hin, „dass das Lübecker Un-glück“ nicht der Impf-Technik „zur Last zu legen ist, sondern auf einer unglückse-ligen Verwechslung beruhte“136. Zum Masseneinsatz kamen diese Impfungen frei-lich erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die in epidemiologischer Hinsicht katastrophalere Züge annahm als die NS-Zeit.Langfristig gesehen, bereitete die Ausdehnung des Impfangebots im „Dritten Reich“ der Gesundheitspolitik seit den 1950er Jahren den Weg, wobei Bundesre-publik und DDR unterschiedlich vorgingen. Zwar gab es in beiden Deutschlands den Zwang zur Pockenschutzimpfung. Während man im Westen jedoch bei allen weiteren Impfungen die Freiwilligkeit beibehielt, setzte man im Osten bald wie-der auf Zwang. Zu tief war in der DDR die Prophylaxe als Grundprinzip einer neu-en Gesellschaft eingeschrieben, als dass man die Gefahr nachlässiger Immunisie-rungen auf sich nehmen wollte. Der allgegenwärtige Leitspruch „Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe“ galt insofern auch umgekehrt.Blickt man auf die Kontinuitäten, ist die Geschichte des Impfens nicht nur eine Geschichte der Moderne, sondern im „Dritten Reich“ auch die Geschichte einer Modernisierung. Diese These wirft Probleme auf, schreibt sie dem NS-Regime 134 Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel: Eher ungewöhnlich war zumindest die Begrün-dung der Impfpflicht durch den Bundesgerichtshof von 1952 mit der Feststellung, dass die „planmäßige Durchimpfung ganzer Volksgemeinschaften“ die Pockenepidemien „zum Erliegen gebracht“ habe. Bundesgerichtshof, Gutachten zum Impfgesetz, VRG 5/51, 25. 1. 1952.135 Bundesarchiv Koblenz, B 189/14117, Zeitungsausschnitt aus Bild, Eltern, schickt eure Kin-der unbedingt zur Schluckimpfung!, o.Dt. [ca. 17. 1. 1967].136 BArch Berlin, R 1501/3683, 3669, 3760, Runderlass des Reichsministers des Innern zur Tu-berkulose-Schutzimpfung, 15. 1. 1945. Zur Durchführung von Humanexperimenten im Zu-sammenhang mit der Einführung vgl. Thomas Beddies, Zur Rolle des Robert Koch-Instituts bei der Einführung einer obligatorischen Schutzimpfung im Dritten Reich, in: Marion Hul-verscheidt/Anja Laukötter (Hrsg.), Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus, Göttingen 2009, S. 89–105.
VfZ 1/201362 Aufsätzedoch nicht nur ein Innovationspotenzial zu, sie postuliert auch den allmählichen Abschied von staatlichen Zwangsmaßnahmen – und das ausgerechnet auf dem ideologisch so aufgeladenen Feld der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik. Tatsächlich wurden jedoch bereits in der Frühphase des „Dritten Reichs“ grund-sätzliche Fragen nach dem Machtanspruch des Staates aufgeworfen, die Eigenver-antwortlichkeit der „Volksgenossen“ wurde beschworen und seit Mitte der 1930er Jahre das Prinzip der Freiwilligkeit zumindest bei allen neuen Impf-Programmen zur Leitlinie erhoben. In dieser Hinsicht war das „Dritte Reich“ weiter als die Wei-marer Republik, hier zeigt sich jener Zusammenhang von „Medicalization and Modernization“, den Paul Weindling beschrieben hat137.Gleichwohl ist diese Art der Modernisierung im „Dritten Reich“ zu differen-zieren. Sie war zum einen einem Pragmatismus geschuldet, der auf das Nachwir-ken öffentlicher Impf-Kritik, auf ideologische Widersprüche sowie auf das Fehlen klarer Vorsorge-Konzepte zurückzuführen ist. Zum anderen galt das Prinzip der Freiwilligkeit nur partiell, wie die soziale Praxis belegt. Der soziale Druck, der in Massenimpfungen als Inszenierungen der „Volksgemeinschaft“ ausgeübt wurde, und die Instrumentalisierung elterlicher Ängste waren wahrscheinlich wirksamer als jeder Impfzwang. Treffend brachte dies ein Zeitgenosse aus dem Reichsinnen-ministerium mit seinem Hinweis auf den Punkt, dass die „geeignete Propagan-da“ ungleich effektiver wirke als frühere polizeiliche Maßnahmen: „Weshalb also Zwang anwenden, wenn [es] freiwillig geht.“138 Hinzu kam, dass man sich eine „elastische“ Handhabung des Impfzwanges beim Pockenschutz insofern leisten konnte, als die Bedrohung durch diese Seuche rapide abgenommen hatte und im Zeichen einer allgemeinen Militarisierung der Gesellschaft beträchtliche Teile gar nicht betroffen waren; in Wehrmacht und RAD wurde ohnehin systematisch geimpft.Dass das NS-Regime auf eine Selbstverpflichtung im Dienste des „Volkskör-pers“ setzte, hing außerdem damit zusammen, dass die Zustimmung zur Vorsorge auch der „Volksstimmung“ zu Gute kam. Diese Beobachtung unterstreicht das Potenzial einer Impfgeschichte für die NS-Forschung, geraten damit doch neue Aspekte der Gesundheitspolitik in den Blick. Hier lassen sich Auswüchse der „völ-kischen Wohlfahrtsdiktatur“ betrachten, wie sie Uwe Lohalm beschrieben hat139. Die Bemühungen um einen „immunisierten Volkskörper“ zielten auf die Exklusi-on „Gemeinschaftsfremder“, mehr noch aber auf eine Optimierung der „Volksge-meinschaft“, was der Zustimmung des Volkes ebenso bedurfte wie der Etablierung neuer Strukturen. Der NS-Staat übernahm damit beim Impfen – anders als der autoritäre Interventionismus des Kaiserreichs oder der Weimarer Republik – zu-137 Vgl. Paul Weindling, Medicine and Modernization. The Social History of German Health and Medicine, in: Science in History 24 (1986), S. 277–301; Manfred Berg/Geoffrey Cocks (Hrsg.), Medicine and Modernity: Public Health and Medical Care in Nineteenth- and Twentieth-Century Germany, Washington 1997.138 BArch Berlin, R 1501/3686, Bericht „Luftterror und Seuchenverhütung“, o.Dt. [Anfang 1945].139 Uwe Lohalm, Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozia-listischen Hamburg, München 2010.
VfZ 1/2013Malte Thießen: 63 Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“ 63nehmend die Rolle einer „appellierenden Instanz“, wie sie ansonsten postmoder-nen Gesellschaften zugeschrieben wird140. Allerdings waren solche Appelle mit beträchtlichem sozialen Druck verbunden und sie fielen nicht zuletzt deshalb auf fruchtbaren Boden, weil in der Bevölkerung die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes vor Diphtherie und Fleckfieber ungleich größer empfunden wurde als der gegen Pocken.Gesagt werden muss schließlich auch, dass die Auswirkungen des Kriegsall-tags die Akzeptanz des Impfens erhöhten. Der Zweite Weltkrieg fungierte hier nicht nur deshalb als Katalysator, weil der militärische Bedarf an Impfungen zu-nahm. Dieser Zusammenhang war ja schon früher, im Ersten Weltkrieg ebenso wie 1870/71, offen zu Tage getreten. Das substanziell Neue war die Verwandlung der Heimat zur „Heimatfront“ – zuerst durch den massierten Arbeitseinsatz von Ausländern, später durch den Luftkrieg, noch später dann durch die Kriegsnie-derlagen, die eigene und feindliche Truppen und damit auch die Kriegsseu-chen „heim ins Reich“ brachte. Seither war der individuelle Erfahrungsraum der „Volksgenossen“ von Sorgen über Krankheiten ausgefüllt, was die Eigeninitiative für Impfungen beförderte.Hier also hatte die „Sorge um sich“, auf der die Präventionskonzepte der Nach-kriegszeit aufbauten, ihre Wurzeln: in der atomisierten Gesellschaft des totalen Krieges, in der der „Rückzug auf sich selbst“ den Grundstein legte für spätere Jahrzehnte „mit ihren Individualisierungs- und Modernisierungsschüben“141. Eine Individualisierung gab nun den Tenor beim Thema Gesundheitsvorsorge vor, zumal Seuchenherde jetzt überall zu lauern schienen: in zerbombten Städten, in überfüllten Transportmitteln und unter den Millionen „Fremdarbeitern“, die Reich und Rüstungswirtschaft bevölkerten. Dass dieser „neuen Sorge um sich“ im Laufe des Krieges immer seltener entsprochen werden konnte, weil notwendige Ressourcen an Impfstoff fehlten, relativiert dieses Ergebnis keineswegs, im Gegen-teil: Der sich verschärfende Kontrast zwischen privaten Impf-Bedürfnissen und mangelnden Impf-Ressourcen dürfte die Attraktivität der Vorsorge noch erhöht haben. In diesem Sinne ist die Geschichte des Impfens auch eine Geschichte der Gefühle. Einerseits versprachen Impfungen das Ende alter Seuchen-Ängste, die Europa bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Atem hielten. Andererseits schür-te sie auch neue Ängste: die Sorge vor Nebenwirkungen und Impfunfällen oder die Furcht vor einem rigiden Impf-Regime, dem vor allem Kleinkinder ausgesetzt waren.Das Impfen im „Dritten Reich“ kann daher als erzwungene Modernisierung und Individualisierung wider Willen begriffen werden. Der sich verschärfende hygienische Ausnahmezustand, die zunehmenden Migrationsbewegungen, die 140 Philipp Sarasin, Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge. Das Verhältnis von Selbstsorge und staatlicher Intervention im 19. und 20. Jahrhundert, in: Cardiovascular Medicine 14 (2011), Heft 2, S. 41–45, hier S. 44.141 Frank Bajohr, Hamburg – Der Zerfall der „Volksgemeinschaft“, in: Ulrich Herbert/Axel Schildt (Hrsg.), Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Sta-bilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948, Essen 1998, S. 318–336, hier S. 320.
VfZ 1/201364 AufsätzeRückkehr von Kriegsseuchen, alles das erhöhte die Attraktivität des Impfschutzes im Reich. Hinzu kam der Mangel an Ärzten und Arzneien, so dass immer mehr Deutsche ihre Immunisierung fast zwangsläufig selbst in die Hand nehmen muss-ten und auf diese Weise zu ihrem „präventiven Selbst“ fanden.