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  3. Der deutsche Atomausstieg naht – doch jetzt regt sich neuer Widerstand

Wirtschaft CO2-Neutralität

Der Klimaschutz ist die letzte Hoffnung für die deutschen Atomkraftwerke

Wirtschaftsredakteur
Die letzten sechs Atomkraftwerke erzeugen so viel Energie wie die Hälfte aller deutschen Windanlagen
Die letzten sechs Atomkraftwerke erzeugen so viel Energie wie die Hälfte aller deutschen Windanlagen
Quelle: REUTERS
In Kürze schaltet Deutschland seine letzten AKW ab. Die Lücke, die durch das Aus der CO2-neutralen Energiequelle entsteht, lässt sich mit Solar- und Windkraft längst nicht schließen. Diejenigen, die am lautesten vor den Folgen dieses Zustands warnen, sehen sich als Umweltaktivisten.

Der Klimawandel wird für Hitzerekorde und Flutkatastrophen verantwortlich gemacht. Verfassungsrichter haben Deutschland auf ein sehr geringes CO2-Budget verpflichtet. An der Energiebörse steigen die Preise für Strom und CO2 auf Rekordwerte. Die Kosten für Benzin und Heizöl werden zur sozialen Frage.

Deutschland im Jahr 2021. Ist es klug, wenn die Bundesregierung in dieser Situation klimafreundliche Stromerzeuger vom Netz nimmt, deren Jahresproduktion größer ist als die aller Solaranlagen und aller in den vergangenen zehn Jahren errichteten Windräder? Genau das passiert gerade.

64 Milliarden Kilowattstunden Elektrizität fallen weg

Zum Jahreswechsel lässt die Bundesregierung die Kernkraftwerke Gundremmingen C, Grohnde und Brokdorf abschalten. Ein Jahr später folgen die letzten Meiler Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim II. Deutschland stellt also demnächst sechs Kraftwerke ab, die pro Jahr 64 Milliarden Kilowattstunden klimafreundliche Elektrizität erzeugen. Mehr als alle deutschen Solaranlagen und fast die Hälfte der deutschen Windräder. Der Effekt ist so, als würde der Klimabeitrag von 15.000 der aktuell 30.000 deutschen Windkraftanlagen schlagartig wegfallen.

Es würde viele Jahre dauern, bis neue Wind- und Solaranlagen diese Elektrizität zumindest der Menge nach ersetzen könnten. Zeit, die nach Einschätzung vieler Experten nicht mehr zur Verfügung steht. Um die jederzeit abrufbare Grundlast des Atomstroms zu ersetzen, brauchte es zudem gewaltige Speicheranlagen für den wetterabhängigen Ökostrom, die es noch nicht gibt.

Vorerst müssen Kohle- und Gaskraftwerke die Lücke füllen. „Mitten in einer Klimakrise die verfügbaren Nuklear-Kapazitäten abzuschalten“, schrieb der britische „Guardian“-Autor und Umweltaktivist George Monbiot, sei „eine verfeinerte Form des Irrsinns“.

Zwar werden die Folgen der Energiewende von einigen Wirtschaftsverbänden schonungslos benannt: „Strom wird durch ständige Markteingriffe zum Luxusgut“, mahnte vergangene Woche Reinhold von Eben-Worlée, Präsident der „Familienunternehmer“. „Die De-Industrialisierung ist bereits in vollem Gange.“ Die Standort-Sorgen sind massiv.

Doch eine Laufzeitverlängerung für AKW wird als Option nicht mehr wahrgenommen, obwohl diese Klimaschutz-Maßnahme nicht mit Kosten, sondern mit einem volkswirtschaftlichen Gewinn verbunden wäre. Selbst in Bayern, das schon in fünf Jahren laut einer Prognos-Studie zwei Drittel seines Strombedarfs importieren muss, gibt man sich tapfer: „Die Bayerische Wirtschaft steht zum beschlossenen Ausstieg aus der Kernkraft“, sagt Bertram Brossardt, Chef der Wirtschaftsvereinigung vbw.

So könnte der deutsche Weg des Klimaschutzes schon bald international zur Peinlichkeit werden. Und diejenigen, die nun der Bundesregierung die unschönen Folgen vorrechnen, sind ausgerechnet Organisationen, die sich als Umweltaktivisten sehen. Demnach wird Deutschland in zwei Jahren nicht weniger CO2 ausstoßen als bisher, sondern 50 bis 70 Millionen Tonnen mehr.

Ausgerechnet Braunkohle übernimmt die Rolle der Atomkraft

Das ist pro Jahr eine größere Menge, als die Industrie oder der Verkehrssektor laut Klimaschutzgesetz bis 2030 insgesamt einsparen müssen. Der Grund ist die sogenannte „merit order“, eine Regelung im Strommarkt. Aus ihr folgt, dass hauptsächlich die Braunkohle als billigste grundlastfähige Stromquelle die Rolle der Atomkraft übernehmen wird.

Zahlen wie diese hat Nuklearia publiziert. Dieser Klub der Atombefürworter ging aus einem Arbeitskreis der Piratenpartei hervor und wird seit 2011 von Rainer Klute als unabhängiger Verein geführt. Klutes Sohn hielt sich zur Zeit des Fukushima-Desasters in Japan auf, also arbeitete sich der Diplom-Informatiker und Physiker, nach eigenen Angaben „sehr schnell und sehr gründlich“ in das Thema atomare Risiken und Strahlengefahr ein. Am Ende empfahl Klute seinem Sohn, in Japan zu bleiben.

Seither bereitet Klute seine Erkenntnisse auf der Nuklearia-Website auf, veranstaltet Demos und vertreibt eine Broschüre mit dem Titel: „Klimakrise? Kernkraft! 12 unschlagbare Argumente für die beste Energiequelle der Welt“. Der Verein greift die Bedenken gegen die Atomkraft Punkt für Punkt auf und versucht, sie zu entkräften. Das Endlager-Argument. Die Explosions- und Strahlungsrisiken. Die Versicherbarkeit. Sie werden mit wissenschaftlicher Akribie ins Verhältnis gesetzt, die Nuklear-Unfälle von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima analysiert.

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Als das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 2019 zu beweisen suchte, dass Atomkraft „zu teuer“ sei, widmeten sich die Nuklearia-Mitglieder Anna Veronika Wendland und Björn Peters den Aussagen in einem zehnseitigen Artikel im Fachmagazin „atw“. Peters und Wendland, eine Technik-Historikerin, kamen zu dem Urteil, dass bei der DIW-Rechnung „willkürlich ungünstig gewählte Eingangsparameter das Resultat vorherbestimmten und die Methoden der Investitionsrechnung nicht vollumfänglich beherrscht werden“.

Inzwischen setzt sich eine Reihe neuer Klimaschutz-Organisationen für Kernkraft ein. Als im Frühjahr in Brüssel darüber gestritten wurde, welche Energie im Sinne der Taxonomie als „sauber“ gelten können, riefen 49 Pro-Atom-Vereine in einem offenen Brief dazu auf, die Atomkraft auf die Liste zu setzen, darunter Fota4climate aus Polen, Clean Air Task Force aus den USA, Mothers for Nuclear aus der Schweiz oder Nuclear Mythbusters aus Taiwan.

Gemein ist den Gruppen, dass ihre Angst vor dem Atom klein, die vor dem Klimawandel groß ist. „Uns treibt im Grunde dieselbe Motivation wie Fridays for Future“, sagt Amardeo Sarma, Sprecher des Vereins Ökomoderne: „Allerdings halten wir technische Lösungen wie die Kernkraft für entscheidend im Kampf gegen die Erderwärmung.“

Technisch gesehen, könnten die sechs Kraftwerke länger laufen, teilt der Verein der AKW-Betreiber, Kerntechnik Deutschland, mit. Aber es gebe „inzwischen erhebliche Hürden zum Beispiel bei der Verfügbarkeit qualifizierten Personals und der Beschaffung von Brennelementen“.

Es deutet allerdings nichts darauf hin, dass die Politik mitten im Wahlkampf das Thema noch einmal aufwärmt. Klute entmutigt das nicht. „Nach dem Ausstieg kommt der Wiedereinstieg“, sagt der Nuklearia-Gründer. Sein Verein arbeite schon an einer Strategie.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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vor 19 Stunden
Deutschland ist inzwischen eines der technikfeindlichsten Länder auf dieser Welt. Nur noch ideologisch geführte Diskussionen auf Bullerbü-Niveau lassen schlimmes erahnen. Wir sind auf dem besten Weg in die Deindustrialisierung und beklatschen dies noch frenetisch. Unsere Kinder und Enkel werden dies noch massiv zu spüren bekommen, wenn man erkennt, dass man eine Wirtschaftsnation nicht nur mit Mediengestaltern, Künstler und Genderwissenschaftler erhalten kann.

vor 19 Stunden
Welchen Anteil die „Konventionellen“ an der deutschen Stromerzeugung haben, eröffnet sich für den Interessierten durch einen Blick in den Internetauftritt der Bundesnetzagentur unter „SMARD“ (Stromerzeugung und -verbrauch in Deutschland). Nach dem sich danach ergebenden Eindruck noch einen weiteren Ausbau der „Erneuerbaren“ zu fordern, kann sich nur noch aus absoluter Unkenntnis oder partieller Ignoranz erklären. Nach dem exorbitanten Aufwand in jeder Hinsicht – ob Verwüstung von Natur oder Kosten – von der existentiell betroffenen Bevölkerung weiteren Aufwand für ein praktisch längst gescheitertes Bemühen zu verlangen, kann, angesichts des Ignorieren des Dramas im aktuellen Wahlkampf, nur noch schiere Verzweiflung und tiefe Depression bewirken. Der einzig zu verzeichnende „Erfolg“ liegt bisher darin, dass Deutschlands Kraftwerke den eigen Bedarf häufig nicht mehr bedienen können und das weiß dargestellte Defizit aus ausländischen Kraftwerken, mehrfach in der Laufzeit verlängerte altersschwache AKW oder dem weltgrößten Braunkohlekraftwerk Elektrownia Bełchatów ergänzt werden muss. Die letzte Hoffnung für die deutschen Atomkraftwerke liegt sicher noch am ehesten in einer von Ideologie und Klassenkampf befreiten Vernunft.

vor 58 Minuten
Sehr gut zusammengefasst!

vor 20 Stunden
Eine Energieversorgung mit Kernenergie als Rückgrat wäre wirtschaftlich und klimafreundlich. Und mit neuen Kraftwerken auf dem neusten Stand der Technik auch sicherer und effizienter denn je. Aber in Deutschland lassen sich solche Bauprojekte nicht umsetzen. Jede kleine Minderheit kann mit lautem Getöse alles lahmlegen. Egal wie sinnvoll es ist.

vor 21 Stunden
"Der Klimaschutz ist die letzte Hoffnung für die deutschen Atomkraftwerke" Könnte es nicht einfach der E-Wunsch nach ein Wenig E-Strom für Millionen alternativlose E-Vehikel werden?

vor 22 Stunden
Jeder normal denkende Mensch weiß, dass das aktuell die einzige klimaschonende Variante ist. Deshalb kommen Politiker und auch grüne nicht auf die Möglichkeit

vor 22 Stunden
Wir werden von unseren Nachbarländern, Türkei und Russland immer erpressbarer. Was soll das?

vor 23 Stunden
"Die letzten sechs Atomkraftwerke erzeugen so viel Energie wie die Hälfte aller deutschen Windanlagen" Mit dem großen Unterschied, dass die Energie bei Atomkraftwerken planbar abrufbar ist!

vor 21 Stunden
"Mit dem großen Unterschied, dass die Energie bei Atomkraftwerken planbar abrufbar ist!" Auch bei Windstille und Dunkelheit und dann können die sogar planbar soviel Strom herstellen wie sie gerade müssen, ohne das man Überkapazitäten ins Ausland verschenken muss bzw. dafür zahlt das das Ausland diese annimmt.

vor 23 Stunden
Zu der Frage: „Ist es klug, wenn die Bundesregierung… ? Nein, ist es nicht. Die Entscheidung gegen die Kernkraft war emotional, ideologisch getrieben und ich finde es grob fahrlässig und verantwortungslos, das Herzstück unserer Industriegesellschaft, eine funktionierende Energieversorgung, so zu gefährden. Ausstieg, obwohl Alternativen noch gar nicht stehen, ist sogar ziemlich dumm. Wie gut, dass unsere Nachbarn vernünftiger sind. Intakte Wälder roden für Windanlagen, das empfinde ich als Verbrechen an unserer Natur.

vor 23 Stunden
Es gäbe nur ein Ereignis, dass KKW`s in D ein längeres Leben ermöglichen würde: Ein großflächiger Stromausfall. Ist nicht zu erwarten, zumindest nicht in dem Zeitraum bis zu Abschaltung des letzten AKW. Ein AKW dann, nach Jahren, wieder anzufahren, könnte schwierig und teuer sein. Wer würde das bezahlen, wer die KKW betreiben? - die Unternehmen wohl kaum. Wie es um die Kernkraft in D steht, zeigt der Endlager-Irrsinn: Ohne belastbare fachliche Begründung hat die BGE Gorleben als Endlager ausgeschlossen, nun wird es aufgefüllt mit Salz. In meinem beruflichen Leben, das sich zeitweise mit den Konzepten für die Sicherung des Endlagers Gorleben gegen eine Entwendung des künftig einzulagernden Spaltmaterials für militärische Zwecke (Safeguards) befasste, habe ich eine große Zahl von unabhängigen, verantwortungsbewussten Fachleuten getroffen, die keinerlei Zweifel an der Eignung des Salzstockes hatten. Leider hatten sie "alternative Wissenschaftler", die sich "unabhängig" gaben, gegen sich - diese konnten sich auf die ÖR Medien und große Teile der Presse stützen. Mit Hilfe von NGOs, Grünen, dann auch SPD und ängstlichen CDU-Leuten wurde die fachliche Diskussion zu einer Haltungsschlacht. Da verliert immer das Fachliche. Fazit: Wir importieren immer mehr Strom, und bis die Leitungen und Kupplungen alle stehen, machen wir es mit Kohle. Ob jemand Gaskraftwerke baut? So wie jetzt die Strompolitik läuft, eher nicht. Wohin wir gehen, ist offen. Sicher nicht "der Zukunft zugewandt".

vor 24 Stunden
"Eine verfeinerte Form des Irrsinns" nennt Georg Monbiot unser Abschalten des Atomstroms. Ich nenne es groben Unsinn, grundlastfähige Kraftwerke abzuschalten, ohne zu wissen, wie der Energiebedarf unseres Industrielandes gesichert werden soll. Ich habe das Gefühl, man will uns mutwillig nachhaltig schaden.


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