Kaum ist „Joseph Beuys. Die Biografie“ im Buchhandel, und schon steht die Beuys-Gemeinde Kopf. Was der Autor Hans Peter Riegel nach akribischer Recherche über den Jahrhundertkünstler herausgefunden hat, ist beachtlich. Zum einen widerlegt er zahlreiche Legenden, die Beuys selbst gestrickt hat: Etwa hat Beuys nie Abitur gemacht, sich dafür aber für zwölf Jahre bei der Nazi-Luftwaffe verpflichtet. Bisher unbekannt waren auch seine Rot-Grün-Blindheit sowie eine langjährige Beziehung neben seiner Ehe.
Aber die eigentliche Sprengkraft des Buches liegt in dem Nachweis, welchen gewaltigen Einfluss die anthroposophische Lehre Rudolf Steiners auf Beuys’ Werk hatte. Riegels These: Beuys habe zeit seines Lebens unter einem grünen, anarchistischen Deckmäntelchen die Welt mit völkischen und totalitären Ideen in der Nachfolge Steiners missioniert. Wer die 500 Seiten starke Abhandlung mit mehr als 1300 Fußnoten gelesen hat, wird Beuys in einem anderen Licht sehen.
Die Welt: Wenn man „Beuys + Steiner“ googelt, findet man 184.000 Einträge. Es gibt kaum ein Beuys-Buch, das sich nicht mit Steiner beschäftigt. Warum haben auch Sie sich auf diese Fährte begeben?
Hans Peter Riegel: Die häufig zitierten Biografien von Heiner Stachelhaus oder von Götz Adriani, Winfried Konnertz und Karin Thomas zum Beispiel sind aus meiner Sicht Hofberichterstattung. Benjamin Buchloh sprach in diesem Zusammenhang einmal von „kollektiver Verblendung“. Die Autoren haben keine kritische Distanz zu dem untersuchten Gegenstand. Es existiert eine Interpretengemeinde, die Beuys’ Leben und Werk zum Wohl des Künstlers auslegt. Von dieser Seite wird die Bedeutung Steiners für Beuys marginalisiert. Vermutlich, weil sie um die Gefährdung ihres Heroen durch die esoterischen und völkischen Aspekte wissen.
Die Welt: Über Beuys’ Leben zu forschen, heißt, sich auf vermintes Gelände zu begeben. Das geht den meisten Biografen so.
Riegel: Das war mir von Beginn an bewusst. Da sind nicht nur die Beuys-Anhänger, sondern auch die Anthroposophen und nicht zuletzt Eva Beuys, die Witwe des Künstlers, die seit Jahrzehnten hartnäckig versucht, ihre Deutungshoheit zu verteidigen.
Die Welt: Haben Sie mit Eva Beuys über Ihr Vorhaben gesprochen?
Riegel: Zu Beginn meiner Recherche habe ich ihr in einem Brief mein Projekt erklärt – ohne Reaktion. Ich kenne Eva Beuys aus meiner Zeit, als ich für Jörg Immendorff gearbeitet habe. Mein Kunstlehrer Wilfrid Polke war ein Schüler von Joseph Beuys. Er hat mich zu seiner Kunst hingeführt. Ich bin Beuys um 1973 erstmals begegnet und dann Ende der Siebzigerjahre häufiger, als er für die Grünen nominiert wurde und Jörg Immendorff eine Art Wahlhelfer für ihn war. Später habe ich beispielsweise für seine Tochter Jessica ein Fest zu deren 18. Geburtstag ausgerichtet. Schließlich habe mich an die VG Bild gewandt. Dort war man mir behilflich und hat Frau Beuys angerufen. Ihre Antwort war äußerst knapp: Sie stehe für ein Gespräch nicht zur Verfügung.
Die Welt: Wenn man diese Woche die Geschichte im „Spiegel“ liest, glaubt man, Sie hätten es ausschließlich darauf angelegt, Beuys reißerisch zu demontieren. Gerhard Pfennig, Eva Beuys’ Anwalt, sagte im „Deutschlandfunk“, Sie handelten „unredlich, Beuys’ Leben während der Zeit des Nationalsozialismus auszugraben“. Assistiert hat ihm Klaus Staeck, Beuys’ langjähriger Verleger. Dabei ist vieles, was Sie geschrieben haben, schon lange bekannt.
Riegel: Ich war nicht überrascht, dass der „Spiegel“ primär das NS-Thema herausgegriffen hat. Es gibt so viele Aspekte in dieser Biografie, die Zuspitzungen auf einzelne Themen unvermeidbar machen. Beuys war ohne „Skrupel“ in der HJ, das bekannte er selbst. Dass er sich nicht nur freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, sondern sich gleich für zwölf Jahre verpflichtet hat und damit Berufssoldat wurde, war nicht bekannt. Es ist evident, dass damit eine latente Akzeptanz des NS-Regimes sowie von Militarismus im Allgemeinen verbunden gewesen sein musste. Dass sich in seinem direkten Umfeld so viele alte Nazis befanden, war auch nicht bekannt. Keiner hat sich je für die Rassismusforschungen seines Schwiegervaters Hermann Wurmbach interessiert, der NSDAP- und SA-Mitglied sowie stellvertretender Gaudozentenführer war. Die Biografien seiner Mäzene Karl Ströher und Erich Marx beginnen offiziell erst 1945. Da wird man skeptisch. Schließlich finden sich auch in diesen Fällen tiefbraune Schatten. Letztlich kooperierte Beuys politisch mit ehemaligen Nazis und Rechtsradikalen. Das kann ich vielfach nachweisen. Selbst Staeck räumte in dem Interview ein, dass Beuys „zeitweise auf falsche Leute gesetzt hat“, oder wie er mir sagte, mit einer „ziemlich rechten Truppe“ paktierte.
Die Welt: War Beuys ein Nazi?
Riegel: Es hat Autoren gegeben, die versucht haben, Beuys zu einem Nationalsozialisten zu machen. Die nationalsozialistische Ideologie war durch Rassenhass geprägt, das kann man Beuys nicht nachsagen. Er war kein Antisemit. Aber er hat sich als erwachsener Mensch nie von dem Regime und seinen eigenen Rollen in jenen Jahren distanziert. Beuys sah es nicht als Manipulation an, die HJ-Uniform getragen und in Reih und Glied gestanden zu haben. Er habe sich damals „frei und unabhängig“ gefühlt. Beuys, der auch sagte, es als „moralisch richtige Entscheidung“ empfunden zu haben, freiwillig an Hitlers Vernichtungskrieg teilzunehmen. Auch nach dem Untergang des „Dritten Reichs“ war Beuys von der Sonderrolle der Deutschen in der Weltgeschichte überzeugt. Da folgte er nahtlos den Ideen Steiners. Wenn man seine Münchner Rede „Über das eigene Land, Deutschland“ liest, die er 1985, also kurz vor seinem Tod, gehalten hat, erkennt man seine Gesinnung. Da spricht er von „Heilungsprozess am Boden“, von „deutschem Genius“, von „Auferstehungskraft des deutschen Volkes“. Das ist völkische Diktion in Reinkultur.
Die Welt: Nun spricht er in dieser Rede auch von der Selbstbestimmung des Menschen, davon, dass „jeder Mensch ein Künstler“ sei. Er spricht von der „Überwindung der schrecklichen schwarzen Male“ der deutschen Geschichte. Er hat ein Büro für „direkte Demokratie“ gegründet. Dies alles widerspricht doch Ihrer These.
Riegel: Auf den ersten Blick wirken solche Gedanken fortschrittlich. Vieles von dem, was er verkündete, klang nach linker Ideologie. Tatsächlich machte Beuys keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Linken. Der SDS und später die Linken innerhalb der Grünen wussten, dass Beuys nicht gefährlich ist, weil er ein „verrückter“ Künstler ist, sondern weil er eine völkische Gesinnung hat.
Die Welt: Sie sprechen über die Anthroposophie, als handele es sich um eine gesellschaftszersetzende Sekte.
Riegel: In Beuys’ Weltsicht ist der Mensch nur dann frei, wenn er sich in die Hände der Anthroposophie begibt. In einem Gespräch mit Michael Ende sagte er: „Die Anthroposophie ist der einzige Weg“. Die Anthroposophen eine Sekte zu nennen, wäre jedoch fatal. Man handelt sich schnell eine einstweilige Verfügung ein. Aber betrachtet man Steiners organisches Gesellschaftsmodell, das im ersten Moment wunderbar klingt, einmal genau, dann muss man zu dem Schluss kommen: Es ist totalitär. Der Mensch steht bei Steiner in der Hierarchie auf der untersten Stufe der Existenz. Dann kommen „Erfinder, Künstler und Forscher“, dann die „geheimwissenschaftlichen Eingeweihten“ und schließlich „übermenschliche Wesen“. Der Mensch überantwortet seine Freiheit übergeordneten Instanzen. Nur die Eingeweihten sind erkenntnisfähig. Das nenne ich totalitär. Und solches Denken ist wohl auch Sekten zu eigen. Joseph Beuys war geradezu besessen davon, derartige Überzeugungen Steiners weiterzutragen. Wie Steiner hat auch er sich offenbar als Eingeweihter empfunden. Beuys’ existenzielle Krise 1956/57 mündete in eine Überhöhung der eigenen Person. Er selbst beschrieb sie als eine Art Erweckungserlebnis. Seitdem fühlte er sich, wie er selbst bekundete, von Rudolf Steiner beauftragt, dessen Weltanschauung und letztendlich ihn selbst zu vertreten. Beuys nahm den Habitus Steiners an, die Vorträge, dessen verquaste grammatische Konstruktionen. Zuletzt glich sogar die Fraktur, mit der Beuys seine Tafeln beschrieb, dem Schriftbild Rudolf Steiners.
Die Welt: Gehen Sie nicht von einer falschen These aus? In Steiners Philosophie ist der Mensch ein freies Wesen, das sich gemäß seiner Fähigkeiten entwickeln kann.
Riegel: Steiner hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie und eine Abneigung gegen Liberalismus und Sozialismus. Das ist bekannt. So, wie auch sein rassistisches und völkisches Gedankengut, die Verknüpfung von deutschem Wesen und Geist und der damit verbundenen Weltmission nichts Neues ist. Was ich für meine Untersuchung gemacht habe, ist, Steiners zahllose Schriften und Vorträge sehr akribisch mit Beuys Werken, Schriften und Interviews zu vergleichen. Niemand hat bislang in dieser Konsequenz Beuys’ Werk auf diese Einflüsse hin untersucht. Und niemand konnte demzufolge entsprechende Schlussfolgerungen ziehen.
Die Welt: Sie machen einen methodischen Fehler, indem Sie dem geschriebenen Wort die Deutungshoheit über Kunstwerke geben. Beuys’ avantgardistische Werke verweigern sich doch geradezu der Steinerschen Ideologie.
Riegel: Das sehen Sie leider zu sehr aus der kunsthistorischen Schule. Das Wort ist zentral in Beuys’ Werk. Es hat für ihn die gleiche Bedeutung wie das bildnerische Werk. Beuys hat jedoch nicht etwa Literatur verfasst, sondern aus seiner Sicht Wahrheiten verkündet. „Tatsachen“ gemäß anthroposophischer Lehre. Darüber hinaus können Sie jedes einzelne Werk einer Analyse unterziehen. Es gibt nur wenige Ausnahmen, bei denen der Zusammenhang mit Rudolf Steiner erst nach näherer Betrachtung aufscheint. Nehmen wir „Dschingis Khan“. Der brutale Mongolenführer, ein Massenmörder, war für Steiner eine Art Weltenretter, von Atlantiern beauftragt, das „Licht des Ostens“ in den Westen zu tragen, um die dekadenten Entwicklungen der Menschheit auszumerzen. Es gibt zahlreiche Beuys-Werke, die sich mit „Dschingis Khan“ und dessen von Steiner beschriebenen Rolle befassen. Ein anderes Beispiel sind die Bewegungen, die Beuys vollführte, die berühmten „Ö“-Laute, die er während seiner Performances ausstieß. Das war pure Eurythmie.
Die Welt: Es könnten aber auch Anleihen bei Dada-Künstlern sein.
Riegel: Dass Beuys insbesondere während seiner Aktionistenjahre Eurythmie studiert hat, ist verbindlich belegt.
Die Welt: Das überzeugt mich noch nicht. Nehmen wir die Materialien, mit denen er gearbeitet hat. Fett, Filz, Kinderspielzeug, Gefundenes – Dinge, die ein Avantgardekunstwerk jener Jahre charakterisierte. Hinzu kommt Beuys’ formalästhetische Vorreiterrolle.
Riegel: Auch das ist ein Irrtum. Bis zu seiner Begegnung mit Nam June Paik hatte Beuys nur bescheidene Werke mitunter handwerklicher Art hergestellt. Die Nähe zu seinem Lehrer Ewald Mataré war deutlich. Beuys war weit entfernt davon, Avantgardekunst zu machen. Erst als er Ende der Fünfzigerjahre eine Performance von Paik sah, begriff er, dass es Möglichkeiten gibt, Kunst anders auszuüben. Alltagsgegenstände und Assemblagen, die Beuys seit dieser Zeit in sein Werk einführte, finden sich auch bei Beuys’ Weggefährten Dieter Roth oder Daniel Spoerri. Fett, das für Beuys vielleicht wichtigste Material, war für Steiner von „Geistern der Bewegung“ in die Welt gebracht worden. Steiner deutete diese Bewegung als paraphysikalisches Phänomen, bei dem Wärme erzeugt wird. Und Beuys folgte ihm im Wortsinn exakt.
Die Welt: Und wie beurteilen Sie eine bahnbrechende Inszenierung wie „Pallazo regale“?
Riegel: Bei „Palazzo regale“ ist es offensichtlich. Die Arbeit behandelt das Ideal des Sonnenstaates, auf das sich Steiner bei der Grundidee seines Gesellschaftsentwurfs, der sogenannten Dreigliederung, berief. Man muss sich immer vor Augen führen: Auch wenn die Werke von Beuys auf den ersten Blick avantgardistisch und demokratisch daherkommen, so ist ihre Botschaft problematisch, weil die Anthroposophie, denkt man ihre verqueren Ideen zu Ende, eine autoritäre und damit letztlich undemokratische Weltanschauung ist. Wenn man es zugespitzt sagen will, sind Beuys’ Werke anthroposophisch determinierte Kultobjekte. Und damit bekommt das Werk eine andere Qualität.
Die Welt: Falls Ihre These Widerhall finden wird, wird das weitreichende Konsequenzen haben.
Riegel: Das wäre möglich. Manche Museumsleute werden sich vielleicht einmal mehr überlegen, Beuys’ Werke auszustellen.
Die Welt: Erschreckt Sie Ihre eigene Schlussfolgerung nicht?
Riegel: Nein, die Konsequenz meiner Arbeit war mir früh bewusst. In gewisser Hinsicht bin ich jedoch traurig. Wie wohl manch anderer, habe ich Beuys vor einiger Zeit noch mit anderen Augen gesehen.