Von Arndt Krödel
Kaum ein Thema hat in den politischen Debatten der letzten Zeit die deutsche Öffentlichkeit so stark polarisiert wie der Konflikt des Westens mit Russland. Ein bisschen fühlt man sich fast erinnert an die leidenschaftlichen Debatten um die Ostpolitik Anfang der 1970er-Jahre, als die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt die Verständigung mit der Sowjetunion und Osteuropa suchte, wobei sich glühende Verfechter einer neuen politischen Architektur und strikte Gegner unversöhnlich gegenüberstanden. Auch heute, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, liefern sich "Russland-Versteher" und "Russland-Kritiker" ein hartes verbales Gefecht um die Frage, wie der Westen mit der Entscheidung des russischen Präsidenten Putin vom März 2015 umgehen soll, die Krim im Zuge der Ukraine-Krise zu annektieren.
Eine differenzierte Kenntnis der Hintergründe des Konflikts scheint nötig, um sich in der komplexen politischen Situation eine fundierte Meinung zu bilden. Der Heidelberger Politologe Klaus von Beyme, weltweit einer der angesehensten Vertreter seines Fachs, hat eine Analyse der Russland-Kontroverse vorgelegt, die den aktuellen Stand aufarbeitet, die Protagonisten zu Wort kommen lässt und untersucht, welche historischen Bedingungen und politischen Veränderungsprozesse nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums auf das Verhalten Russlands einwirkten.
Dass er selbst eher dem Lager der "Russland-Versteher" zuzurechnen ist, wird schnell klar, tut der Qualität und Gültigkeit der Analyse aber keinen Abbruch, weil von Beyme die Hintergründe des Konflikts mit scharfsinniger Argumentation und überzeugender Plausibilität ausleuchtet und bewertet, ohne sich auf die Position eines "Putinisten" reduzieren zu lassen.
Der von Beyme zitierte russische Analytiker des Russland-Diskurses Vladislav Belov beklagt die fehlende Expertise in der deutschen Debatte und das ausbleibende Bemühen um Objektivität. Es kam zu persönlichen Angriffen, etwa gegen die frühere ARD-Korrespondentin Gabriele Krone Schmalz oder den Historiker Jörg Baberowski. Ähnliches antizipiert der Autor, seit 2010 Inhaber der Ehrenprofessur der Lomonossow-Universität in Moskau, auch für sich selbst nach Erscheinen die-ses Buches. Die etwa in TV-Talkshows geführte Debatte zwischen Russland-Kritikern und -Verstehern ist heftig und für von Beyme "häufig einseitig machtpolitisch orientiert". Psy-chologische Analysen, so bemängelt er, würden je nach Bedarf eingestreut, aber kaum systematisiert und historisch aufgearbeitet.
Viele Russland-Kritiker, die keineswegs nur im Westen angesiedelt sind, assoziieren mit der politischen Geschichte Russlands bis heute eine Folge von Aggression und Expansion. Zu wenig, so der Autor, werden dabei eine ganze Reihe von russischen Traumata berücksichtigt, die zwar eine imperiale Ausdehnungspolitik nicht rechtfertigen würden, aber doch erklären helfen. Müssen sich nicht gerade die Deutschen, fragt von Beyme, in die Positionen Russlands stärker einfühlen, 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Vergangenheit von 1919?
Hier sieht der Politikwissenschaftler eine Parallele mit der Situation von Russland im Jahr 1991: Denn beide Länder hätten gewisse Minderwertigkeitskomplexe durch Ausdehnungspolitik zu kom-pensieren versucht und sind dabei gescheitert. Von Putin stammt das Wort von der "größten geostrategischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts", gemünzt auf den Zerfall der Sowjetunion.
Die Russen haben 1991 ihren Sieg von 1945 nicht erhalten können - die Zeiten einer gleichberechtigten Großmacht auf Augenhöhe schienen vorbei, und Obamas hämische Bemerkung von der "Regionalmacht Russland" ist nur ein Ausdruck davon, wie man mit unbedachten Worten Porzellan zerschlagen kann.
Ganz zentral in von Beymes Analyse ist der Befund, dass Putin auch Wandlungen durchgemacht hat und sich bis 2004 dem Westen gegenüber kooperativ und kompromissbereit gezeigt hat. Vertane Chancen: Putin fühlte sich von den westlichen Partnern nicht ernst genommen, eine Ansicht, in der sich der Autor mit dem verstorbenen Ex-Kanzler Helmut Schmidt einig wusste. "Es wird in den Kommentaren viel zur Psychologie der Führungskräfte geredet, aber es fehlt an den schlichtesten Erkenntnissen hinsichtlich einer sinnvollen Behandlung eines problembeladenen Charakters wie Putin", konstatiert von Beyme.
Die Nato-Erweiterung nach Osten bis an die Grenze Russlands, bei der sich Europa von den USA treiben ließ, blieb für das Land eine offene Wunde. Die Bundesrepublik hätte nach von Beymes Auffassung "aus politischen Opportunitäts-gründen" diesem vorantreibenden Schritt nicht zustimmen dürfen.
Einkreisungsängste wurden geschürt und stärkten die Tendenz Russlands, sich an die Gruppe der Schwellenländer Brasilien, Indien, China und Südafrika - sie sind mit den Russen in der "BRICS"-Gruppe verbunden - "heran zu lieben", wie es der Autor ausdrückt.
Russland und die Ukraine hätte man mit Angeboten zur Wirtschaftshilfe wohl verhandlungsbereiter machen können, als sie heute erscheinen, bilanziert von Bey-me, der noch Zeit für einen Kurswechsel des Westens sieht. Und eine Allianz von Europa und Russland im Nahen Osten könnte auf Dauer sogar "mildernde Folgen" für die Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Ukraine entfalten.
Fi Info: Klaus von Beyme: "Die Russland-Kontroverse. Eine Analyse des ideologischen Konflikts zwischen Russland-Verstehern und Russland-Kritikern". Springer Fachmedien, Wiesbaden 2016. 133 S., 14,99 Euro.