 | Das Dumme an dem idealisierten Gandhi ist, dass er so verdammt langweilt und nicht viel mehr hergibt als ein Sprachrohr für Moralpredigten und Haussprüche«, kommentiert der indische Schriftsteller Salman Rushdie jene Figur, als die sein Landsmann Mohandas Karamchand Gandhi heute in vielen Geschichtsbüchern und Lobpreisungen von Friedensinitiativen auftaucht. Gemeinhin gilt der »Mahatma«, die »große Seele«, als der Mann, der kraft seiner moralischen Autorität die Engländer dazu gebracht hat, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Hobbyhistoriker und Hollywood-Filmer werden nicht müde, die Gewaltlosigkeit der indischen Revolution zu betonen. Allein mit dem Aufruf zum passiven Widerstand und dem Appell an moralische Grundsätze habe Gandhi die übermächtige Kolonialmacht in die Knie gezwungen. Rücksichtslos sei er dabei nur gegen sich selbst gewesen: Immer wieder trat er in den Hungerstreik, mehrmals warfen die britischen Herren ihn ins Gefängnis. Dabei sah der so Verklärte sich selber nie als Helden. In seiner Autobiographie schreibt er über seine Kindheit: »Ich war ein Feigling. Ich wurde geplagt von der Angst vor Dieben, Geistern und Schlangen. Ich traute mich nachts nicht vor die Tür. Dunkelheit war ein Horror für mich. Es war für mich fast unmöglich, im Dunklen zu schlafen, weil ich mir vorstellte, wie Geister aus der einen Richtung kamen, Diebe aus einer anderen und Schlangen aus der dritten.« Was im Zusammenhang mit der »Befreiung« Indiens von beseelten Gandhi-Jüngern gerne unterschlagen wird, ist, dass Indien 1947 nach Abzug der Briten in zwei separate Staaten geteilt werden musste: in das hinduistische Bharat (die Republik Indien) und das muslimische Pakistan. Der Hass zwischen Hindus und Muslimen, mühsam von den Briten unter Kontrolle gehalten, hatte sich unhaltbar hochgeschaukelt. Über eine Million Menschen verloren in der Auseinandersetzung um den rechten Glauben das Leben. Fast 26 Millionen mussten aus dem einen oder dem anderen Land fliehen, um ihr Leben zu retten. Es war die größte Migrationsbewegung in der Geschichte der Menschheit. Noch heute schwelt der Konflikt, Indien und Pakistan haben weiterhin Atomwaffen aufeinander gerichtet. Gandhi war, trotz all seines Einsatzes für ein freies Indien, bei den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit gar nicht anwesend. Zu enttäuscht war er von der gewalttätigen Eigendynamik, die der Freiheitskampf entwickelt hatte. Auch war, nüchtern betrachtet, seine Rolle bei der Befreiung Indiens weit weniger tragend, als manche Historiker es gerne darstellen. Entscheidend für den Rückzug der Briten waren weniger Gandhis Hungerstreiks als vielmehr die wirtschaftliche Schwächung Großbritanniens durch den Zweiten Weltkrieg und der schleichende freiwillige Rückzug aus der Verwaltungskontrolle in Indien bereits seit Mitte der dreißiger Jahre. Seine Vorliebe für Sex kostete ihn ein Schuljahr Nicht nur politisch wird er heute häufig überbewertet. Auch für ein »moralisches und geistiges Vorbild«, als das gerade viele Deutsche ihn bezeichnen, taugt er wenig. Der eher mittelmäßige Schüler wurde schon mit 14 Jahren verheiratet. Auch wenn er später die Kinderehe verurteilte, so sah er sie damals doch als Segen. Denn der spätere Asket hatte als Jugendlicher nichts als Sex im Sinn. Das kostete ihn ein ganzes Schuljahr. Schließlich rettete ihn nach eigenen Angaben nur, dass seine Frau Kasturbai, dem indischen Brauch folgend, immer wieder für lange Zeiträume zurück ins Elternhaus gerufen wurde und er sich wieder mit seinen Schulaufgaben beschäftigen konnte. War sie bei ihm, spielte er sich als rechthaberischer Ehemann auf und versuchte aus Eifersucht sogar, ihr Tempel- und Freundinnenbesuche zu verbieten. »Meine Strenge basierte auf reiner Liebe«, versuchte sich Gandhi später zu verteidigen. »Ich wollte meine Frau zu einer idealen Frau machen. [Sie sollte] lernen, was ich lernte, und ihr Leben und Denken mit mir identifizieren.« Gandhi hingegen setzte seine Treue zu Kasturbai dem einen oder anderen Experiment aus. Einmal nahm ein Freund ihn mit in ein Bordell. Doch allein mit der Prostituierten über- oder vielmehr entmannte Gandhi seine Schüchternheit, er konnte im wahrsten Sinne des Wortes kein Glied mehr rühren. »Ich fühlte mich in meiner Männlichkeit verletzt und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken«, beschreibt Gandhi die Szene aus seiner Jugend. Seine Familie schickte ihn 1888 nach der Schule mit großen Hoffnungen nach London und erwartete, dass Mohandas ein erfolgreicher Rechtsanwalt würde. Aber daraus wurde nichts. Bereits sein erster Fall blieb für lange Jahre auch sein letzter. Als er vor Gericht den Zeugen des Klägers ins Kreuzverhör nehmen sollte, brachte er vor Schüchternheit keinen Satz heraus – und gab den Fall umgehend ab. Obwohl er kein eigenes Geld verdiente, legte er größten Wert auf sein Äußeres. Er kleidete sich nach der neuesten Londoner Mode und ließ sich Anzüge in der vornehmen Bond Street schneidern. Die Familie zahlte, ohne zu murren. Währenddessen lebten Kasturbai und sein erster Sohn Harilal daheim in Indien in der Obhut der Verwandten. Seinen Vater sah das Kind während der ersten Lebensjahre nur auf seinen sehr seltenen Besuchen. Erst 1896 – Gandhi lebte mittlerweile in Südafrika – holte er seine Frau und seine mittlerweile zwei Söhne zu sich. In dem Land hatte er sich zunächst eine Existenz als Anwalt aufbauen wollen. Doch konfrontiert mit der Aggression der weißen Südafrikaner gegenüber allen nichtweißen Menschen, vernachlässigte Gandhi schon bald seine Arbeit und gründete stattdessen den Natal Indian Congress, der sich der Rechte der indischen Minderheit annahm. Das Schicksal der schwarzen Bevölkerung berührte ihn hingegen nicht: 1906 engagierte er sich während des Zulu-Aufstandes in einem Sanitätskorps aufseiten der Briten. Während der Arbeit an der Front fällte Gandhi – mittlerweile Vater von vier Kindern – die Entscheidung, keusch zu bleiben. Lange diskutierte er das Für und Wider mit seinen Freunden und politischen Bekannten, nur Kasturbai wurde am Schluss vor vollendete Tatsachen gestellt. »Sie hatte nichts dagegen«, bemerkt Gandhi lakonisch in seiner Autobiographie. »Wenn ich mich dem Dienst an der Gesellschaft verpflichten will, muss ich das Verlangen nach Kindern und Wohlstand dem Leben eines Vanaprastha opfern, der sich von allen häuslichen Aufgaben fernhält.« 1915 kehrte Gandhi nach Indien zurück. Mittlerweile hatte er durch seinen Kampf für die indische Minderheit in Südafrika auf nationaler Ebene einige Berühmtheit erlangt. Doch mehr noch als für Politik interessierte Gandhi sich für alternative Lebensweisen. Bei Ahmedabad gründete er einen Aschram, normalerweise die Bezeichnung für den Aufenthaltsort eines heiligen Mannes. Immer wieder betonte er vor seinen Anhängern die Wichtigkeit von Brahmacharya, von Keuschheit. Sie einzuhalten wurde für ihn zu einem zentralen Aspekt seiner spirituellen Lehre, der Satyagraha (Festhalten an der Wahrheit). Noch bis ins hohe Alter pflegte er Brahmacharya-»Experimente«, um die Beherrschung seiner körperlichen Triebe unter Beweis zu stellen. Dafür mussten junge Frauen, oft die Ehefrauen von Freunden und Kollegen, sich über Nacht nackt im Bett neben ihn legen. Gandhi lebte vom Geld seiner Anhänger. Reiche Förderer des »Mahatma« bezahlten ihm und seiner wachsenden Anhängerschaft das experimentelle Leben im Aschram, der sich allein finanziell nicht hätte tragen können. »Es kostet das Land ein Vermögen, Gandhi ein Leben in Armut zu ermöglichen«, beschrieb die Dichterin und Gandhis Nachfolgerin als Präsidentin des Indischen Kongresses, Sarojini Naidu, seine Lebensweise. Ohne die großzügige Unterstützung von mächtigen Industriellen wie Ghanshyam Das Birla hätte es weder einen Aschram noch das Satyagraha je geben können. Gandhi fühlte sich wohl in der Rolle des spirituellen Meisters. So konnte er auf seiner kleinen Aschram-Insel leben, umgeben von Jüngern, die ihn nie kritisierten. Er schreibt schon über seine Kindheit: »Der kleinste Fehler trieb mir Tränen in die Augen. Wenn ich einen Tadel verdiente oder es dem Lehrer so vorkam, als verdiente ich ihn, war das für mich nicht zu ertragen.« Dass Gandhi nie ein »offener Geist« war, bescheinigt sein früherer Schüler und späterer erster Premierminister Indiens, Jawaharlal Nehru. Vielmehr habe man bei ihm das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Gandhi sei so fest von seinen eigenen Auffassungen überzeugt, dass ihm alles andere als unwichtig erscheine. Kritisiert wurde Gandhi auch von Rabindranath Tagore. Der Dichter hatte ihn, inklusive seiner Familie und wachsenden Anhängerschaft, unmittelbar nach der Rückkehr aus Südafrika bei sich aufgenommen, weil er von seinem Wirken zunächst sehr beeindruckt war. Auch den Namen »Mahatma« verdankt Gandhi dem Literaturnobelpreisträger. Im März 1921 setzte sich dieser mit seinem ehemaligen Gast dann allerdings in einem offenen Brief auseinander. Aus passivem Widerstand wurden Orgien der Gewalt Ziel der Kritik war Gandhis Kampagne der Nichtzusammenarbeit. Um gegen die nach Ende des Ersten Weltkrieges eilig von den Briten erlassenen Ermächtigungsgesetze zu protestieren, hatte er zu Streiks und Boykotten aufgerufen. Es sollte ein passiver Widerstand sein, doch die Aktionen eskalierten mancherorts zu wahren Orgien der Gewalt. Und es waren nicht nur die Briten, die ihre Gewehre in die Menge der Demonstranten feuerten. Die Angriffe gingen ebenso vonseiten der Inder aus. Tagore fand nach diesen Ereignissen nur noch harte Worte über den ehemaligen Freund. Einen »Kampf, uns mit Herz und Verstand vom Westen zu entfremden«, nannte er die Nichtzusammenarbeitskampagne, einen »Versuch des spirituellen Selbstmordes«. Gandhi beendete schließlich die Aktionen, als in dem nordindischen Dorf Chauri Chaura der aufgebrachte Mob 21 Polizisten tötete. Die Menschenmenge hatte sie in die Polizeistation getrieben und das Gebäude angezündet. Seine Ermordung am 30. Januar 1948 durch den fanatischen Hindu Nathuram Godse machte Gandhi international zum Märtyrer. Die Welt erinnert sich an ihn wegen seines erfolgreichen »Salzmarschs« – einer Wanderung über 24 Tage mit zuletzt 2500 Anhängern an die Küste des Indischen Ozeans aus Protest gegen das Salzmonopol der Briten – und seinen Einsatz für die Unberührbaren. Doch aus Indien selbst schlugen ihm zuletzt viele kritische Stimmen entgegen. Anlass für seine Ermordung war die Forderung nach Ausgleichszahlungen an Pakistan, die Gandhi mit einem letzten Fasten durchgesetzt hatte. Die Aktion ließ ihn in den Augen vieler Inder als Landesverräter erscheinen, das Geld fehlte in der Staatskasse. Vom politischen Wirken Gandhis ist nach seinem Tod kaum etwas geblieben. Den Weg der Gewaltlosigkeit hatte das Land bereits zu seinen Lebzeiten verlassen.
Das Leben in Kürze 1869 Mohandas Karamchand Gandhi wird am 2. Oktober in Porbandar, Provinz Gujarat, geboren 1883 Heirat mit Kasturbai Nakanji 1888–1891 Jurastudium in London 1893–1914 Aufenthalt in Südafrika, Gründung des Natal Indian Congress, Entwicklung der Satyagraha-Lehre 1915 Gründung des Satyagraha- Aschrams bei Ahmedabad 1912 Ausrufung der antibritischen Nichtzusammenarbeitskampagne 1930 Salzmarsch 1947 Indien wird unabhängig, Teilung in Bharat und Pakistan 1948 Ermordung am 30. Januar
Literatur zum Thema Dietmar Rothermund: Mahatma Gandhi C. H. Beck, München 2003 Kurze, kompakte Biografie zur Einführung Mahatma Gandhi: Eine Autobiographie oder die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit Hinder & Deelmann, 2001 Gandhi über sich und seine spirituelle Lehre Sudhir Kakar: Die Frau, die Gandhi liebte C. H. Beck, München 2005 Biografische Studie der Engländerin Madeline Slade, die lange Jahre nicht von Gandhis Seite wich (c) DIE ZEIT 24.02.2005 Nr.9 |  |
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