Russische Geheimdokumente "Stalin hatte a l l e Informationen"
Lange geheim gehaltene Dokumente der Moskauer Auslandsaufklärung zeigen, wie umfassend Stalin über Hitlers Angriffspläne informiert war und wie früh. Deutsche Topquellen riskierten ihr Leben, russische Agenten waren verzweifelt - doch der Diktator spielte auf Zeit.
Die beiden Besucher, die sich am 17. Juni 1941 bei Josef Stalin angemeldet haben, überbringen eine Botschaft, die dramatischer nicht sein kann. Wsewolod Merkulow, Volkskommissar für Staatssicherheit, und Pawel Fitin, Chef der sowjetischen Auslandsaufklärung, sind sich nach Auswertung zahlreicher Agentenberichte sicher: Hitlerdeutschland steht unmittelbar vor einem Angriff auf die Sowjetunion.
Eine Vielzahl von Quellen aus Deutschland, Finnland, Rumänien, Italien und Ungarn lässt keinen Zweifel: An den Grenzen des Sowjetreiches vollzieht sich der gewaltigste militärische Aufmarsch der Weltgeschichte. Ziel der Naziführung ist es, den größten Flächenstaat der Welt zu zerschlagen.
Doch Stalin ist gegenüber Informationen seiner Aufklärer notorisch misstrauisch. Denn die stützen sich, so seine paranoide Logik, auf Ausländer und damit häufig auf Agenten feindlicher Geheimdienste. Am 17. Juni 1941 hält er die "geheime Verschlusssache" Meldung 2279/M seiner Geheimdienstler in den Händen, die besagt, eine Quelle im Stab der deutschen Luftwaffe berichte, "alle Maßnahmen
Deutschlands zum militärischen Angriff auf die UdSSR" seien "vollständig abgeschlossen". Man könne "den Schlag in jedem Moment erwarten".
Wutentbrannt zückt der "Woschd", der Führer, wie sich Stalin auch nennen lässt, einen grünen Stift und schreibt auf den Bericht, der Genosse Merkulow solle seine "Quelle" in Berlin am besten "zur gef..kten Mutter schicken". Begründung: "Das ist keine Quelle, das ist ein Desinformant."
Spitzenquellen im Luftfahrt - und Wirtschaftsministerium
Die Quelle aber ist kein Desinformant, sondern Harro Schulze-Boysen, ein 31-jähriger Oberleutnant im Luftfahrtministerium, ein linkspatriotischer Romantiker, Russland-Freund und geschworener Feind Hitlers. Dessen SS-Männer hatten 1933 seinen Freund Henry Erlanger in seiner Gegenwart erschlagen. Schulze-Boysen ist eine der beiden besten Informanten der sowjetischen Späher in Berlin. Als zweite Topquelle fungiert sein Freund Arvid Harnack, ein unauffälliger Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, NSDAP-Mitglied seit 1937. Doch schon seit 1931 ist der promovierte Nationalökonom ein Anhänger des Sowjetstaats, den er 1932 in einer Studienreise besucht hat.
Die Beiden gehören zu einem Netz von Hitlergegnern, das die Gestapo später "Rote Kapelle" nennen und 1942 zerschlagen wird. Schulze-Boysen und Harnack werden am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Sie erfahren nie, wie sehr Stalin ihren unter Lebensgefahr übermittelten Informationen misstraut. Dabei bringt Moskau zur Betreuung der beiden Spitzenquellen im August 1940 ein Aufklärer-Ass nach Berlin, Alexander Korotkow (Deckname: "Stepanow"), 31, getarnt als dritter Sekretär der sowjetischen Botschaft in Berlin. Korotkow, der nahezu perfekt Deutsch spricht, Goethe liest und "Mein Kampf" studiert hat, ist ein Profi, der seine Gesprächspartner intellektuell und mit Charme fesselt.
Doch selbst hochrangige Geheimdienstkader sind machtlos gegenüber der politischen Führung in Moskau. Der Versuch der sowjetischen Aufklärungschefs Fitin und Merkulow, Stalin am 17. Juni 1941 angesichts des bevorstehenden Überfalls von sofortigen Gegenmaßnahmen zu überzeugen, schlägt fehl. Erst vier Tage später, am 21. Juni, gelingt es dem Verteidigungskommmissar Semjon Timoschenko und Generalstabschef Georgij Schukow, den Truppen den Befehl zur Gefechtsbereitschaft zu geben. Doch die Order erreicht die meisten Einheiten zu spät. Am Morgen des 22. Juni nach 3 Uhr greifen die Deutschen und ihre Verbündeten auf breiter Front an, "von Finnland bis zum schwarzen Meer", wie es in einem von Propagandaminister Joseph Goebbels mitgetexteten Kampflied hieß.
Etliche Warnungen
Dabei hatten Stalin seit Sommer 1940 detaillierte Warnungen seiner Aufklärer vorgelegen. Das zeigen bisher geheime Dokumente, die der russische Historiker und Generalmajor der Auslandsaufklärung "Sluschba Wneschnej Raswedki" (SWR) Lew Sozkow jetzt in Moskau in einem Buch herausgegeben hat.
Das Werk hat offenkundig das Ziel, den sowjetischen Auslandsnachrichtendienst von dem Vorwurf zu entlasten, sie habe nicht rechtzeitig, nicht umfassend oder genau genug über die drohenden Angriff informiert. "Unsere Aufklärung hat ihre Mission, die Führung über den Kriegsbeginn zu informieren, erfüllt", sagt Sozkow, der selbst sein Geheimdiensthandwerk als Mitarbeiter des legendären Korotkow erlernt hat, Ende der fünfziger Jahre in Ost-Berlin.
Damals hat Sozkow tief verinnerlicht, vorsichtig zu formulieren, wenn von der sowjetischen Führung die Rede ist. So sagt der Historiker auch jetzt nicht, Stalin habe versagt, er konstatiert: "Stalin hat a l l e Informationen erhalten". Die nur auf Russisch veröffentlichten Geheimunterlagen befeuern eine nicht enden wollende Diskussion über Stalins Rolle im Zweiten Weltkrieg. Bekannt war, dass der sowjetische Diktator über den drohenden Überfall informiert wurde, aber nicht, wie umfassend.
Sozkows These, Stalin habe nicht durch einen Präventivschlag als "Aggressor" vor seinen potenziellen westlichen Verbündeten dastehen wollen, klingt nicht überzeugend. Beim Krieg gegen Finnland 1939/40 hatten ihn solche Überlegungen nicht gebremst. Aus Geheimdienstberichten wusste der sowjetische Herrscher um den Zustand seines Landes wie seiner Armee. Und wollte nach einer Heeresreform 1940 und dem Ankurbeln der Rüstungsindustrie schlicht Zeit schinden, um jeden Preis.
Bericht aus Berlin
Umso erstaunlicher ist angesichts der Dokumente, dass der Staatschef die Fülle der Informationen über Hitlers bevorstehenden Schlag so lange verdrängen konnte. Womöglich bestärkten wechselnde falsche Angriffsdaten in Berichten seinen Argwohn. Doch schon im Sommer 1940 sind in den Geheimdossiers, die Stalin erhielt, Alarmsignale nicht zu übersehen.
Schon im Juli 1940, Hitler trägt sich bereits mit Angriffsabsichten, berichten Agenten aus dem von den Deutschen besetzten Polen von Truppenverlegungen und Straßenausbau im "Generalgouvernement Polen", nahe der sowjetischen Grenze. Im Oktober 1940 ist in einem Bericht aus Berlin die Rede davon, der Krieg könne "Anfang nächsten Jahres" beginnen. Die Warnung wird im selben Monat durch Meldungen über die Verlegung von Wehrmachtseinheiten nach Ostpreußen und Polen gestützt.
Dazu fügt sich ein Bericht aus Berlin über eine Hitler-Rede vor Offizieren am 18. Dezember 1940. Darin spricht er von Lebensraum und davon, das "diesem Volk die Zukunft Europas" gehören müsse. 13 Tage zuvor hatte Hitler seinen Militärs grünes Licht für den Angriffsplan auf die Sowjetunion gegeben, was die Sowjets nicht wussten.
Deutsche Angriffspläne ab Januar 1941 bekannt
Wenige Wochen später erfährt Korotkow von Schulze-Boysen, das sich das Luftfahrtministerium mit Kriegsplänen gegen die Sowjetunion befasst. Den Bericht erhalten Stalin und sein Außenminister Wjatscheslaw Molotow, der zwei Monate zuvor noch zu Gesprächen mit Hitler nach Berlin gereist war. Ebenfalls im Januar 1941 erzählt Harnack seinem Führungsoffizier Korotkow, dass das Oberkommando der Wehrmacht Landkarten mit der Lage von Industrieobjekten in der Sowjetunion anfertigen lässt.
Anfang Februar erhalten Stalin, Molotow und Politbüromitglied Anastas Mikojan von Aufklärungschef Fitin eine Analyse mit dem Titel "Über die Vorbereitung des Krieges gegen die UdSSR" mit der Einschätzung, eine "Reihe von Fakten" wiesen darauf hin, dass Deutschland "plant, 1941 einen Krieg gegen die UdSSR zu beginnen".
Genauer noch gibt ein Bericht an Stalin, Molotow und die Volkskommissare für Verteidigung und Inneres vom 6. März 1941 Auskunft. Darin heißt es unter Berufung auf Harnack, der deutsche Generalstabschef Franz Halder rechne mit einer "blitzartigen Besetzung der Sowjetunion durch die deutsche Wehrmacht", mit der Okkupation der Ukraine und der Ölquellen um Baku, damals noch eine Hauptversorgungsader der sowjetischen Wirtschaft.
Direkt auf Stalins Schreibtisch
Mehrfach erhält Stalin dank Schulze-Boysen etwa im März Geheiminformationen über eine intensive Luftaufklärung sowjetischen Gebietes durch in 6000 Meter Höhe fliegende deutsche Spionageflieger. Im selben Monat meldet Harnack deutsche Pläne zur Bombardierung Leningrads, Wyborgs und Kiews.
Geschwätzige Nazis verhelfen den Sowjets unbeabsichtigt zu Einblicken in die Pläne Hitlerdeutschlands. Georg Leibbrandt, in Odessa geborener Rußlanddeutscher und Chef der Ostabteilung im Außenpolitischen Amt der NSDAP, schwadroniert im Bekanntenkreis, die Frage des Angriffs auf die Sowjetunion sei entschieden. Er ahnt nicht, dass diese Information am 30. April 1941 in einem "streng geheimen" Rapport direkt auf Stalins Schreibtisch landet.
Doch ein führender Nazi und enger Vertrauter Hitlers, den Sowjetspione ausspähen wollen, schöpft Verdacht: Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. Dem Minister dient sich Anfang Juni der aus einem sowjetischen Lager geflüchtete Exilrusse Iwan Solonewitsch an. Der Autor antikommunistischer Werke wie "Die Verlorenen" bittet Goebbels um Unterstützung für ein neues Anti-Sowjet-Buch.
Kanonen aus den Skoda-Werken
Die Gestapo hat Goebbels vor Solonewitsch gewarnt, sie hält ihn für einen Lockspitzel. Goebbels reagiert prompt: "Ich lasse ihn beobachten", Begründung: "Man muss in diesen Zeiten sehr vorsichtig sein." Grundlos war der Verdacht der Gestapo nicht, wie die jetzt in Moskau publizierten Dokumente zeigen. Hinter dem Vorstoß des Exilrussen bei Goebbels standen, womöglich ohne dessen Wissen, Agenten der sowjetischen Aufklärung. Sie wollten herausbekommen, ob der Propagandaminister sich bereits auf dem kommenden Krieg eingestellt hatte.
Dass der Krieg näherrückte, war in den Geheimdokumenten, die Stalin fortlaufend in die Hand bekam, nicht zu übersehen. Anfang Mai 1941 berichten Späher aus Warschau von "ununterbrochenen" deutschen Truppentransporten ins besetzte Polen. Wenige Tage später nennt ein Geheimbericht aus Berlin erstmals als möglichen Angriffszeitpunkt den Juni und meldet, im Stab der deutschen Luftwaffe werde die Kriegsvorbereitung "im schnellstmöglichen Tempo vorangetrieben".
Die sowjetischen Späher vermerken im Mai auch den eiligen Bau von Militärflugplätzen bei Radom nahe der sowjetischen Grenze. Dort schuften achtzehnjährige Männer des Reichsarbeitsdienstes mit Schaufeln und Spaten bei frühsommerlicher Hitze.
"Sei vorsichtig, Russland"
Eindeutig sind auch die Informationen, die sowjetische "Kundschafter" ab Anfang Juni aus Prag, Bukarest und Helsinki beschaffen. Die deutsche Wehrmacht hat bei den Skoda-Werken Kanonen zur Verschiffung nach Finnland bestellt. Dort, bei Hitlers demokratischem Verbündeten im Norden, wurden die Parlamentsfraktionen über den bevorstehenden deutschen Angriff informiert, der auch von finnischem Gebiet aus erfolgen werde. In Rumänien gibt Staatschef Ion Antonescu die Weisung, bis zum 15. Juni Splittergräben gegen Luftangriffe auszuheben.
Dass den Aufklärungsprofis bewusst ist, dass sie selbst mit Spitzenmeldungen auf eine Mauer des Misstrauens im Kreml stießen, zeigt der verzweifelt klingende Hinweis in einem Bericht vom 19. Juni, Informationen der sowjetischen Grenztruppen seien "vertrauenswürdig". Die Grenzer hatten hatten mehrfach deutsche Deserteure und Soldaten befragt, die als Grenzverletzer festgenommen worden waren.
Bei dem Versuch, die sowjetische Führung für sich einzunehmen, greift die Berliner Residentur des sowjetischen Dienstes schon mal zu bizarren Kniffen. So übermittelt sie am 10. Mai nach Moskau den angeblich in der Botschaft Unter den Linden eingegangenen anonymen Brief eines deutschen Kommunisten an den "lieben und geliebten Führer Stalin" mit der Bitte: "Sei vorsichtig, Russland, denn bald wird Euch Hitler überfallen." Der womöglich fiktive, verdächtig im Jargon der Sowjetpresse gehaltene Brief forderte gar, die Deutschen "von der braunen Pest Hitlers zu befreien", auf das sie "glücklich leben, wie Euer russisches Volk".
Der Englandflug von Heß alarmiert Moskau
Elektrisiert sind die sowjetischen Geheimdienstler vom Fall des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, der am 10. Mai von Augsburg aus nach England fliegt. Die Sowjets fürchten eine deutsch-britische Verständigung gegen die UdSSR. Durch das Abschöpfen von Quellen in der NSDAP kommen Stalins Späher zu einer Einschätzung, die siebzig Jahre später auch westliche Experten teilen: dass vieles dafür spricht, dass Hitler von dem Plan seines Paladin wusste.
Ein Indiz dafür, dass Hitler mit Heß nicht gebrochen hatte und ihn keineswegs des Verrates bezichtigte, liefert den Sowjets ihr einziger Agent in der Gestapo, Kriminalinspektor Willi Lehmann. Der bestätigt den Sowjets, dass niemand aus der engeren Umgebung von Heß verhaftet worden war.
Letzte Gewissheit, welches Schicksal die Naziführung dem Sowjetland zugedacht hatte, liefert den Sowjet-Geheimen wenige Tage vor dem Angriff der NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg. Der russophobe Baltendeutsche, der 1918 in Moskau die bolschewistische Revolution erlebte, spricht vor Beamten des Reichswirtschaftsministeriums. Von denen erfährt Sowjetagent Harnack, Rosenberg habe verkündet, "der Begriff der Sowjetunion" müsse "von der Landkarte getilgt werden". Auch diese Information erhält Stalin, am 20. Juni 1941.
Am Tag zuvor hatte Gestapo-Mitarbeiter Lehmann seinen Führungsoffizier, den jungen Diplomaten Boris Schurawljow, über Datum und Uhrzeit des Angriffs informiert, die Vertretung sendet sie sofort in einem chiffrierten Telegramm nach Moskau. Am Abend des 21. Juni 1941 gehen die beiden sowjetischen Geheimdienstler Schurawljow und Korotkow im Restaurant der Krolloper nahe der Botschaft essen. An einem Nachbartisch sieht Korotkow eine Gruppe von sechs jungen Offizieren in fröhlicher Laune. Wie lange, denkt Korotkow, werden diese jungen Deutschen in dem Krieg, der jetzt beginnt, noch leben?
Korotkow, der mit seinen Botschaftskollegen gegen die deutschen Diplomaten in Moskau ausgetauscht wird, via Türkei, überlebt den Krieg. Im Mai 1945 kehrt er nach Berlin zurück und schaut am 8. Mai in Berlin-Karlshorst Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel zu, als dieser die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet. Das Gartenlokal der zerstörten Krolloper wird 14 Tag später wieder öffnen. Doch von Korotkows Informanten, die Stalin vor Hitlers Krieg warnten, hat niemand das NS-Regime überlebt.
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