* Name der Redaktion bekannt
Ein bisschen krank bin ich noch, aber ich fühle mich bereit zum Losfahren. Das Wetter ist gut und ich komme auch gut durch.
Zwischen Beiseförth und Binsförth gibt es eine Seilfähre über die Fulda. Ist ganz nett. Aber im Allgemeinen sollten wir wieder anfangen, in Brücken zu investieren. Aber nicht in solche: Der Weg, den mir cycle.travel ausgegeben hat, führt über eine Brücke zwischen Rotenburg und Lispenhausen, die sich als Treppauf-treppab-Brücke herausstellt. Na toll! Zum Glück ist da gerade ein netter Mensch, der mir beim Rübertragen hilft. Er sieht aus wie ein Jäger, hat aber Ahnung von Landwirtschaft wie ein Bauer. Ich sage ihm, dass ich auf dem Weg zum Tannenhof bin. Den kennt er und er macht mir Mut, was den Anstieg angeht, den ich bis dahin noch zu überwinden habe. Das sollen wohl mehrere Wochen Ernteunterschied sein.
Bebra macht irgendwas mit Bibern. Es gibt eine Biberkampfbahn. Ich eruiere das jetzt aber nicht weiter. Die Steigung geht voll klar. Nur das letzte Stück von Imshausen zum Tannenhof hoch schiebe ich.
Oben ist ein Schild, das die „Kommunität Imshausen“ vorstellt. Das ist eine christliche Wohngemeinschaft. Mal gucken, wie das wird. Ich treffe den Vater von Jonas*, bei dem ich unterkommen kann. Der ist schon mal ultrafreundlich.
Jonas* und ich abendbroten und schnacken noch lange. Die Gemeinschaft hier ist christlich, zölibatär und ökumenisch. Wir verabreden, dass wir morgen zusammen die Pferde verarzten und mit den anderen essen. Es ist sehr angenehm mit ihm. Obwohl er klar christlich ist und vor dem Essen was murmelt, habe ich viele Anknüpfungspunkte. Das wundert mich. Der Tag ist gerettet. Gegen zwei gehen wir ins Bett.
Soundtrack zum Tag: Funny van Dannen – Junge Christen
Oberkaufungen, Niederkaufungen, Papierfabrik, Kassel, Dennhausen, Dörnhagen, Guxhagen, Grebenau, Wagenfurth, Lobenhausen, Röhrenfurth, Melsungen, Malsfeld, Beiseförth, Fuldaseilbahn Beiseförth, Binsförth, Morschen, Heinebach, Baumbach, Rotenburg an der Fulda, Lispenhausen, Bebra, Gilfershausen, Imshausen
80 km, 500 m (zuzüglich 90 m auf dem letzten Kilometer)
Eigentlich wollte ich heute losfahren. Mach ich aber doch nicht, weil ich noch gesund werden will. Mit Anja rede ich über CB, Georgia, RT und die Potsdamer Leute, die sie zum Teil auch kennt. Wieder Zusammenhänge aufgedeckt. Der Tag ist gerettet. Ansonsten chille ich und genieße das Sein.
Soundtrack zum Tag: The Skartes – Camino del sol
Ich bin immer noch krank und schlafe erstmal aus und frühstücke nachmittags. Der Tag ist gerettet. Mit Anja* schnacke ich über RT und meine weiteren Reisepläne. Dann chille ich weiter.
Soundtrack zum Tag: Funker Vogt – Mein Weg
Der Tag beginnt mit einer Tour zur Kommune Niederkaufungen und einer Führung. Das Leben dort ist megastrukturiert und die Leute beschäftigen sich viel intern. Ich würde da nicht wohnen wollen, weil ich ein externes Leben mitbringe. Das scheint da nicht so reinzupassen. Wenn man einziehen will, steigt man erstmal in die Gemeinsame Ökonomie ein.
Wahrscheinlich wäre ich hier unsicher, ob ich mich genug einbringe, ob vielleicht mehr oder anderes von mir erwartet wird. Ich frage einen Bewohner, der auch RT- und TA-erfahren ist, ob darüber gesprochen wird. Erstaunliche Antwort und schöne Anregung: Nein. Man wird damit alleingelassen. Wer mit verschiedenen Arten, sich einzubringen, nicht umgehen kann und nicht selbst für sich sorgen kann, sollte an sich arbeiten und vielleicht solange nicht in einer Kommune wohnen. Der Tag ist gerettet.
Abends ist ein Workshop zu Politik in politischen Kommunen.
Statt Lagerfeuer gehe ich containern. Es sind erstaunlich wenige Autos unterwegs. Mir ist unklar, was hier auf einmal los ist, dass ich ganz in Ruhe durch die Gegend fahren kann. Beim Einpacken höre ich dann das unisono Geschrei, das alles erklärt. Sogar so schön in zwei Wellen, so dass ich die prozentuale Verteilung von Kabel und IPTV raushören kann. Erwartungsgemäß wird die Rückfahrt deshalb umso anstrengender. Die Ausbeute ist gut. Ich lasse sogar Sachen da.
Ich suche mir noch den Weg zur Villa Locomuna raus, wo die anderen morgen mit der Straßenbahn hinfahren.
Soundtrack zum Tag: Die Kassierer – Kommste mit ins Stadion
Die Truppe fährt nach Escherode zu den gASTwerken. Das würde mich schon interessieren, aber ich schlafe lieber aus und fahre jetzt nicht größere Strecken durch die Gegend, weil ich immer noch krank bin. Danach ist ein Kommunikationsseminar, bei dem ich wahrscheinlich das meiste schon kenne. Das lasse ich auch weg und schreibe lieber Reisetagebuch. Aber bei dem Vortrag über die Gemeinschaft Lebensbogen bin ich gern dabei.
Der Lebensbogen ist ganz neu im Interkomm-Netzwerk dabei. Die Gruppe, die die Kommune gegründet hat, gibt es so und mit dem Ziel Kommunegründung schon seit zwanzig Jahren. Diverse Orte hatten sie schon in Aussicht und diverse Rückschläge mussten sie erleiden. Zwischendurch ist eine Teilgruppe, der das zu lange gedauert hat, abgesprungen und hat in Waltershausen die alte Puppenfabrik gekauft. (Ahahaa! So schließt sich der Kreis.) Jetzt haben sie es endlich geschafft und sich bei Kassel niedergelassen.
Der eine von den Lebensbogenleuten gibt mir beim Abendbrot den Tip, ich soll doch mal in Basel am Hafen nach kleinen Kähnen Ausschau halten. Da gibt es wohl welche, die wenig Tiefgang haben, die den Rhein-Rône-Kanal runterfahren können und Richtung Südfrankreich fahren. Die Leute freuen sich wohl auch immer über Gesellschaft. So könnte ich schnell ein ganzes Stück dichter an Spanien rankommen.
Beim Lagerfeuer erfahre ich von einem Wagenplatz „Kesselberg“ in Erkner, wo die Leute wohl ziemlich cool und offen sind und wo dieses Lari-fari-Punkige, was ich ja suche, gelebt wird. Da komme ich jetzt zwar erstmal nicht vorbei, aber ist vorgemerkt.
So erfolgreich wie gestern bin ich nicht beim Containern, aber es gibt ein bisschen Joghurt. Am Lagerfeuer sitzen nur noch Nina* und, klar, Jördis*. Es geht um politische Perspektiven und Weltrevolution. Das ist natürlich völlig belanglos, aber ein witziges Spiel, wie wir immer wieder die Teams wechseln. Wer eigentlich mit wem und gegen wen argumentiert, ist im Fluss. Nina* als clevere Anarchistin und Jördis* als resignativ-antipolitisch Eingestellte sind beide Charaktere, an denen ich mich reiben kann. Die Lagerglut-Stimmung spät am Abend zu dritt ist sehr schön. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Knorkator – Alter Mann
Wegen krank schlafe ich erstmal aus und mache mit Ines* dann die Eierkuchen und einen Salat. Die Johannisbeerpampe von gestern ist sogar marmeladenfest geworden. Wie schön! Also merke: Man kann aus Johannisbeeren ganz einfach kalt Marmelade machen, indem man sie mit Zucker zermatscht und das Ergebnis über Nacht im Kühlschrank stehen lässt. Mehr nicht. Außerdem gibt es Schokoaufstrich, Ketschup, Grüne Soße und Erfurter Analogkäse zum Belegen. Also das Angebot ist reichhaltig. Wir finden aber nur noch ein Kilo Mehl. Das stellt sich dann als zu wenig für zehn Personen heraus. Man braucht mindestens anderthalb Kilo für zehn mittelhungrige Personen. Aber es gibt ja noch Brot.
Die anderen SeminarteilnehmerInnen trudeln so langsam ein und es gibt eine Geländeführung. Ich trage mich für ein paar Dienste ein. So richtig mitmachen will ich nicht beim Seminar, weil mir das Geld zu viel ist, aber ich höre gern mal hie und da als Gast mit.
Nach der Abendsuppe von Bart* gibt es einen Workshop zu Gemeinsamer Ökonomie, bei dem ich nicht mitmache. Stattdessen schreibe ich Reisetagebuch. Danach gehe ich auf Containertour. Erst in Niederkaufungen bin ich erfolgreich. Das ist eine Stunde weg. Nächstes Mal will ich also gleich mit dem Fahrrad los.
Tief in der Nacht komme ich zurück und bin erstaunt, noch Jördis*, auch eine Seminarteilnehmerin, vor der Draußenküche im Dunkeln kontemplierend zu treffen. Sie kann nicht schlafen, weil sie gerade eine persönlich schwierige Zeit durchlebt. Wir unterhalten uns über das Reisen, ihre Heimat Leipzig, die Liebe und die Politik. In den wenigsten Punkten sind wir uns einig. Das tut auch mal wieder gut, eine ganz andere Sicht auf viele Dinge einnehmen zu können. Einig sind wir uns darin, dass man was tun muss, damit was passiert. Sie will ans Meer nach Nicaragua und dort ihren Biodoktor weitermachen. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Hasenscheisse – Eierkuchen flieg
Um 9 ist Baubesprechung, wie jeden Tag. Heute mache ich bei der auch mal mit und helfe Joseph* danach bei seiner Tür. Die Holzarbeiten mit ihm sind wenig gemeinschaftlich, aber produktiv. Wir kommen gut voran, ich lerne dabei, und mit etwas mehr persönlichem Commitment von mir könnte es sogar Spaß machen. Ich setze mich aber zu sehr unter Druck, gut und schnell zu arbeiten.
Zum Mittag gibt es Grüne Soße. Das kannte ich gar nicht. Aber hier ist das ein regionales traditionelles Gericht. Als ich es dann sehe, wird mir klar, worum es sich handelt. Bei uns heißt das Quark mit Leinöl. Es ist im Prinzip das Gleiche, nur ohne Leinöl und mit vielen Kräutern im Quark. Den Begriff Quark mit Leinöl wiederum kennt hier niemand.
Am Nachmittag mähe ich den Rasen. Was das angeht, gibt es hier viel zu tun. Viel Grasfläche ist vorhanden und wenig Motivation, die betretbar zu halten. Dabei entdecke ich auch schwarze Johannisbeeren, die anscheinend die BewohnerInnen hier nicht so präsent haben. Zumindest hängt alles voll mit Beeren. Das ist auch gut für morgen. Ich habe mich nämlich zum Mittagessen-Machen eingetragen. Es wird Eierkuchen geben.
In dem Mitgliederladen (Mila O. – unschwer zu erraten, wofür das steht) wurden braungewordene Bananen aussortiert, die jetzt in Unmengen bei uns stehen. Ich mache also noch Schokoaufstrich. Das ist auch gut für die Eierkuchen morgen.
Ines*, die erste Teilnehmerin des Interkomm-Seminars, kommt schon an. Sie wohnt in einer Landkommune im Münsterland. Auch praktisch. Ich muss gar nicht zu den Projekten hinfahren, um sie kennenzulernen. Manchmal kommen sie auch einfach zu mir. Der Tag ist gerettet.
Ich geh ins Schwimmbad, um mal den Seminarplan auszuchecken, Klavier zu spielen und Erich Fromm zu lesen. Containern gehe ich dann doch nicht mehr, weil ich krank bin.
Sountrack zum Tag: Rummelsnuff – Gerüstbauer
Die Dusche von der Haus-WG kann ich mitnutzen. Juhuu! Und den Küchenwagen von einer Wagen-WG auch. Der Tag ist gerettet.
Ich laufe durch die verschiedenen Stadtteile von Kaufungen und nach Kassel. Das ist ganz schön weit. Anja* ruft mich an, um mir Bescheid zu sagen, dass Essen gemacht wird. Voll cool, aber ich laufe lieber entspannt noch ein bisschen rum und erkunde die Gegend. Joseph* ist wohl verwundert, dass ich ihm heute nicht bei seiner neuen Werkstatttür geholfen habe. Er hat es als Abmachung verstanden. Mir wurde gestern auch seine Baustelle gezeigt, als ich gefragt habe, was es denn hier so alles zu tun gibt.
Abends komme ich zurück und treffe Bart*, der gerade aus dem Urlaub zurückgekommen ist. Ihn kenne ich auch vom RT-Ostertreffen 2014.
Soundtrack zum Tag: Holger Burner – Cuzzela
Am kommenden Wochenende ist Interkomm-Seminar. Da kommen Leute, die am Kommuneleben allgemein oder auch konkret hier interessiert sind. Es gibt Führungen durch die verschiedenen Kommunen hier in der Region und man bekommt einen Einblick, wie das alles hier so funktioniert. Ich kann daran teilnehmen. Das kostet ein Geld.
Heute baue ich mit. Das Haus ist noch zu einem großen Teil Baustelle. Nur ganz wenige Leute wohnen da drin. Gerade steht der Boden der zukünftigen Küche an. Außerdem stapel ich gehacktes Holz unter Schleppdächer und helfe Gerald* bei seiner Anhängerelektrik. Später setze ich noch Kerstin*, die Stress mit ihrem Windows-Laptop hat, ein Debian auf.
Morgen ist nach dem Plenum (19 Uhr) ein gemeinsames Essen auf dem Hof. Dass ich erstmal noch ein paar Tage bleibe, ist gut. Ich bin auch sehr zufrieden mit meinem Wohnei. Der Tag ist gerettet. Es gibt Strom, Trinkwasser und eine gut ausgestattete und funktionierende Draußenküche. Also so lässt es sich angenehm leben.
Soundtrack zum Tag: San blas posse – El ala de la mariposa
Ich bringe mir Frühstück ans Bett und esse reichhaltig an einem bequemen Tisch (dem Sitzbrett). Für diese höchst praktischen Unterstände allerorten brauchen wir das Jagdgewerbe. Halb elf fahr ich los. Das Ziel ist Oberkaufungen, der Lossehof. Das Höhenprofil sieht gut aus: Erst geht es nur hoch bis Hessisch Lichtenau, danach nur runter. Das Wetter ist gut, aber ich strampel mich bis Hessisch Lichtenau ganz schön ab. Hab ja auch viel Essen dabei. Danach ist alles kein Stress.
Ich komme beim Lossehof an und werde sehr freundlich aufgenommen. Anja* zeigt mir einen Wohnwagen, in dem ich erstmal für ne Nacht sein kann. Danach mal sehen. Sie führt mich ausführlich rum, obwohl ihre Freundin da ist und sie sagt, dass sie mich schnell abwimmelt. Hier sind viele Leute auf den Beinen und sehr aufgeschlossen. Ich lerne noch viele weitere Menschen kennen.
So ein bisschen hatte ich schon damit gerechnet, Thorben* hier zu treffen. Er war mal vor Jahren mit zwei anderen aus der hiesigen RT-Gruppe in Potsdam, wegen RT-Erfahrungsaustausch und gemeinsamer Gruppensitzungen. Cooles Wiedersehen. Wir haben uns viel zu erzählen.
Beim Grillen geht es um Anti-Ds, Revolution und Containerspots. (Es gibt einen guten in Helsa.)
Gerald* lädt zum Hail-Caesar-Gucken ein und wir gehen mit Thorben* zu dritt rüber ins Schwimmbad. Der Tag ist gerettet. Dort ist ein Gemeinschaftsraum, in dem auch die Plena stattfinden und wo ein Klavier und eine schnieke Auswahl an Büchern steht. Erich Fromm – Wege aus einer kranken Gesellschaft werde ich noch lesen.
„Das Schwimmbad“ ist eine Außenstelle des Lossehofs, nebst einer WG in der Nähe des projekteigenen Mitgliederladens.
Es wirkt hier recht unkompliziert – Leute wohnen wie sie wollen im Wagen, im Haus, im Schwimmbad oder in der WG –, obwohl es den Running Gag gibt, dass in Kommunen das Zusammenleben nie funktioniert. Mir ist der Begriff Kommune noch nicht so ganz klar. Es gibt hier im Großraum Kassel ein Interkomm-Netzwerk, in dem neben dem Lossehof noch die Kommune Niederkaufungen, die gASTwerke Escherode, die Villa Lokomuna in Kassel und der Lebensbogen verbunden sind. In dieser Gruppe scheint es eine ziemlich klare Vorstellung davon zu geben, was Kommune bedeutet.
Den Lossehof gibt es erst seit vier Jahren. Der ist damals aus einem Workshop auf dem Los geht’s entstanden, an dem auch Thorben* als damals noch weit weg Wohnender teilgenommen hat. Die Idee war, auf diesem Gelände eine neue Kommune aufzubauen, und dieses Ziel wurde dann in je einem Wochenendtreffen pro Monat mit den Interessierten weiterverfolgt. Das finde ich diszipliniert. So kann es auch gehen.
Thorben* kennt auch Ferdi* und andere aus Wichmar, die hier waren, weil sie ein kleines privates Kommuneseminar bekommen haben, wegen gemeinsamer Ökonomie und so, initiiert von Calli* aus Berlin. Hier hängt schon wieder alles mit allem zusammen.
Soundtrack zum Tag: The inchtabokatables – The birthing of a day
Netra, Röhrda, Datterode, Wichmannshausen, Hoheneiche, Bischhausen, Waldkappel, Harmuthsachsen, Hasselbach, Küchen, Walburg, Hessisch Lichtenau, Fürstenhagen, Eschenstruth, Helsa, Oberkaufungen
53 km, 400 m
Ich komme gegen 13 Uhr los. Das Ziel ist erstmal Eschwege. Das scheint mir ein passables Zwischenziel zu sein. Da gibt es ein AJZ. Vielleicht treffe ich da angenehme Leute. Das Wetter ist recht gut. Und es stellt sich raus, dass es ganz gut ist, dass ich nicht früher losgefahren bin. Ab Eisenach ist der Boden nass und es liegen Äste rum. Auch größere. Hmm. Was da wohl passiert sein mag?
Vor Netra zieht ein Sturm auf und ich pausiere erstmal in einem Schießstand und telefoniere mit Homies. Es regnet eine ganze Weile vor sich hin und ich entscheide mich, nicht mehr weiter zu fahren, sondern hier zu übernachten und Eschwege nicht mehr anzufahren. So spar ich mir auch einen Umweg.
Es ist wegen der Grundfläche von einem Meter mal einem Meter sehr ungemütlich beim Schlafen, aber irgendwie auch geil. Und es mangelt mir nicht an Essen. Ich habe den Eintopf von gestern, containerte Sachen (Brot, Käse und Erfurter Vegangedöns), Äpfel, Süßigkeiten und Wasser. Gott in Frankreich. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Wum – Ich wünsch mir ne kleine Miezekatze
Waltershausen, Laucha, Mechterstädt, Sättelstädt, Kälberfeld, Schönau, Kahlenberg, Wutha Farnroda, Rothenhof, Fischbach, Eisenach, Stedtfeld, Hörschel, Pferdsdorf, Ifta, Lüderbach
47 km, 400 m
Ich bin noch fix und alle von gestern. Erstmal befülle ich eine Waschmaschine mit meinem Kram und schleiche Milch kaufen. Und es ist eine Hiitze! Hier steht in der Küche Löwenzahnhonig aka. falscher Honig. Voll gut! Das merk ich mir und mach ich auch irgendwann mal, wenn ich dereinst sesshaft bin.
Im Flur hängt eine Höhenkarte der BRD. Das nutze ich doch mal für eine grobe Tourenplanung: Erstmal werde ich weiter Richtung Kassel fahren und dann die Fulda entlang nach Fulda; danach dann im Wesentlichen am Rhein entlang.
Es ist mir, nach Anleitung, doch noch gestattet, was zu kochen. Es gibt ein pünktliches gemeinsames Abendbrot mit meinem Eintopf und Aufgewärmtem von gestern und vorgestern. Ich stürze mich auf meins, was das einzig vegane ist, und fülle mir noch was für die morgige Tour ab.
Der Garten ist auch durchorganisiert. Er ist groß und hier wird erstaunlich viel und professionell angebaut. Und das alles macht zur Zeit im Wesentlichen ein Bewohner. Ich setze mich in den Garten und telefoniere zwei Stündchen mit Zurückgelassenen. Der Tag ist gerettet.
Am Abend gehe ich auf Containertour. Geht gut. Ich finde viel mehr als ich wegtragen kann und will (keine Ahnung, wie viel das hier gegessen wird). Ich mach zwei große Schüsseln Erdbeeren zurecht. Außerdem gibt es High-Society-Käse, Toast und Milch. Meine Unterwegsverpflegung wird also wieder reichhaltig und vielseitig sein.
Soundtrack zum Tag: Herricht und Preil – Die Tigerjagd
Es liegt Gewitter in der Luft, bei der Demse die letzten zweieinhalb Tage. Meine Hoffnung ist ja, dass es heute Nacht noch rumst und ich morgen entspannt weiterfahren kann.
Jemand vom Wagenplatz gibt mir, während ich gerade losfahre, noch die Info, dass ich mal lieber bei der Kowa vorher anrufen soll, weil die es mit spontanem Besuch wohl nicht so haben. Es ist unfassbar krasses Wetter. Die Tour ist ja eher kurz, aber ich finde es megaschlimm, so zu fahren. Noch einen Tag länger warten will ich aber trotzdem nicht. Ich weiß ja auch gar nicht, wann das Wetter fahrtauglicher wird. Hinter Marbach schnabulier ich Kirschen (Der Tag ist gerettet.) (Privatkirschen auf einem Privatgrundstück! Betreten verboten! Leute, Leute.) und ruf bei der Kowa an. Tatsächlich: Da muss erstmal jemand gefunden werden, der sich um mich kümmert. Dass sie einfach nur da sein wollen und keine Führung brauchen, sagen sie alle. Wie lange ich bleibe, ist eine wichtige Frage. Dass ich die Frage jetzt gar nicht beantworten können will, sage ich nicht, sondern ich sage zwei Tage.
Hinter Alach finde ich endlich mal ein bisschen Schatten und lege mich da rein. Ächz. Es ist alles voller Autos. Auf den Straßen um Gotha herum pesen sie wie die besengten Säue. Das Kreuze-Aufkommen ist hier nochmal speziell erhöht. Aber autofahren und schnell fahren scheint hier zum allgemeinen Lifestyle zu gehören. So ein paar Kreuze haben darauf nicht den massiven Einfluss. Fahrradwege gibt es nicht so. Die Ausschilderung ist schlecht bis nicht vorhanden.
In der Kommune Waltershausen finde ich den ersten Eindruck voll gut: Alles ist offen. Das Gemeinschaftszimmer ist einladend ausgeschildert. Die meisten wissen Bescheid, dass ich komme, obwohl ich mich ja erst vor zweidrei Stunden angekündigt habe. Es gibt hier ein Buch, in das man Infos an alle eintragen kann und das die Leute auch im Vorübergehen immer wieder lesen.
Der räumlichen Offenheit steht eine generelle Unpunkigkeit entgegen. Der Mensch, der die Verantwortung für mich als Gast übernommen hat, zeigt mir ausführlichst alles und bittet anschließend um Verzeihung, dass er mich nur so kurz über das Gelände führt, weil er noch was zu tun hat.
Die Menschen sind hier sehr unterschiedlich. Mit einem komme ich gut ins Gespräch. Ich nehme eine emotionale Sterilität wahr. Hängt vielleicht auch mit dem Alter der BewohnerInnen zusammen. Es gibt zwei Kinder und einen Jugendlichen, die familiär mit den anderen Leuten verbunden sind, die alle deutlich älter sind als ich. Wie lange ich bleiben will, ist immer wieder Thema. Gäste scheinen ein Stressfaktor zu sein.
Hier ist alles voll durchorganisiert. Es gibt Kochdienste. Morgen und übermorgen ist noch unbelegt. Ich biete mich an, aber jemand muss mit mir zusammen kochen, weil dafür eine Kücheneinweisung nötig ist. Niemand ernährt sich hier vegan. Containert wird auch nicht.
Ich setz mich mit zum Skatabend.
Soundtrack zum Tag: Staatspunkrott – Kreuze (Zaunpfahl-Cover)
Erfurt, Marbach, Salomonsborn, Alach, Zimmernsupra, Tröchtelborn, Friemar, Tüttleben, Siebleben, Gotha, Sundhausen, Leina, Wahlwinkel, Waltershausen
43 km, 300m
Ich schmier mir ein paar Stullchen, kaufe Klopapier fürn Wagenplatz und wurschtel dann in der Sonne: Reisetagebuch schreiben und in den E-Books von der Uni hier stöbern. Der Tag ist gerettet. Morgen Abend ist wohl Festplenum (demnächst ist Wagenplatzfest) und Lagerfeuer, aber ich will los. Ich bin schon zu lange hier.
Soundtrack zum Tag: Einleben – Sommer
Heute ist Fête de la musique; deswegen fällt die Küffa im Stattschloss aus. IngSteph&Ko spielen. Das hatte ich gar nicht mehr präsent, dass die aus Erfurt sind. Megageil. Macht Spaß. Der Tag ist gerettet. Die Capoeira-Session fetzt auch.
Auf dem Unicampus ist ein Campusschulgarten. Der sieht sehr gepflegt aus. Es gibt viel Essbares und Sitzgelegenheiten. Dann kommt eine Dozentin, die mir erklärt, dass 40 Leute daran beteiligt sind, den zu bewirtschaften, weil das in Thüringen zum Lehramt dazugehört, einen Schulgarten zu pflegen. Normalerweise ist das hier wohl auch zugeschlossen. Das finde ich ja voll seltsam. So ein schöner Garten, und dann ist der zugeschlossen. In Erfurt liegt Abgrenzung in der Luft. Sie zeigt mir die Jostabeeren, die hier auch Jockelbeeren heißen, und die Erfurter Puffbohnen, die mit Erfurt überhaupt nichts zu tun haben, aber wegen des Namens natürlich obligatorisch sind.
Die Kommentare zur wieder mal erfolgreichen Containerei spar ich mir mal. Das ist das Paradies hier. Außerdem schlage ich mir den Bauch mit Kirschen voll. Die weißen Kirschen beachtet fast niemand, weil sie unreif aussehen.
Soundtrack zum Tag: IngSteph&Ko – Informatiker
Nach dem Frühstück (fürstlich wie immer bei diesem Angebot) genehmige ich mir in der Stadt eine warme Dusche. In der Uni lese ich den Eric Berne weiter. In einer Frische-Luft-Pause komme ich mit zwei Mädels über das Kirschbaumangebot auf dem Campus ins Gespräch. Sie zeigen mir einen Baum mit weißen Kirschen, die noch besser schmecken als die anderen alle und größer sind.
Um zehn macht die Bibliothek zu. Beim Rausgehen grinse ich, erheitert über die Titelstory-Überschrift auf der aktuellen ECOS. Die Bibliothekarin am Ausgang ist erschreckend freundlich und wünscht mir überschwänglich einen schönen Abend. Das reißt mich aus meinen ganz der Realität entrückten Gedanken und ich merke jetzt erst, dass ich grinse. So viel Freundlichkeit und gute Gefühle induziere ich, wenn ich fröhlich aussehe. Das ist mir in Potsdam auch schon mal so ähnlich passiert. Es überrascht mich trotzdem wieder. Und ich habe etwas zum Nachdenken. Der Tag ist gerettet.
In der Stadt nehme ich noch drei Karottensäcke und einen Joghurt mit, bevor ich zu dem Großhandelslager gehe. Auf dem Weg zum Wagenplatz sehe ich zum allerersten Mal meines Lebens Glühwürmchen. Wahrscheinlich gibt es die in Brandenburg nicht. Ich komme ja vom Dorf und bilde mir ein, alles, was die Natur dort zu bieten hat, schon mal gesehen haben zu müssen.
Mein Mitternachtsmahl ist ein ordentliches Fresserchen mit dem geretteten Brot, von dem hier einiges eingelagert ist.
Soundtrack zum Tag: M cee T feat. Mäc Doof – Ihre Bestellung bitte
Heute laufe ich massivst viel rum. Das Krämerbrückenfest ist wirklich nicht so der Rede wert. Ich check so ein bisschen die Freifunk-Infrastruktur in der Stadt aus.
Im Wirgarten sind Leute. Ich helfe einer beim Schneckensammeln, die sagt, dass der Wirgarten gerade nicht geöffnet hat. Aber da ich jetzt schon mal hier bin, könne ich mir das hier ja auch mal angucken. Der Tag ist gerettet. Gerade ist Baueinsatz. Sie sagt, dass es nötig sei, Öffnungszeiten zu haben und zuzuschließen, weil die Leute sonst Pflanzen mitnehmen und der Ort nicht so schön bleibe wie er ist. Aber man könne ja, wenn man sich gut benimmt, einfach trotzdem reingehen. Die Öffnungszeiten sind auch eher unklar und hängen unter anderem vom Wetter und der spontanen Lust der Verantwortlichen ab.
Ich setz mich noch ne Runde in die Unibibliothek und gehe dann auf Containertour. Ich container zum ersten Mal bei einer Apotheke. Geht auch, aber ich brauche das ganze Zeug ja nicht. Ich nehme in paar rezeptfreie Sachen gegen Schmerzen und Fieber, Menstruationsbeschwerden, Blasenentzündung und so Zeug mit. Vielleicht braucht das auf dem Wagenplatz jemand.
Soundtrack zum Tag: Funker Vogt – Faster life (XPQ-21-Remix)
Es gibt hier lauter krassen Scheiß von diesem ultimativen Containerspot. Vor allem so Imitatzeug aus Sojaprotein, Weizenprotein und Kokosfett, aber auch Süßigkeiten und Tofu. Ich frühstücke erstmal fürstlich. Der Platz hat Strom. Also Kühlschrank geht. Internet wahrscheinlich auch. Hab ich nicht gefragt. Wasser kommt aus dem Brunnen. Das sollte man nicht in Massen trinken. Daneben steht ein Badwagen, von dem das Abwasser in einer Grube aufgefangen wird. Das lassen sie gegen teuer Geld abpumpen, weil eine Abwasserleitung für dieses Gelände anscheinend aus bürokratischen Gründen nicht vorgesehen ist. Ich verstehe nur überhaupt nicht, wozu man das braucht. Auf Abwasser würde ich als allererstes verzichten. Es gibt einen Kompostkloturm ohne Trennung. Pissen kann man aber auch in der Buschemie.
In der Uni bringe ich in Erfahrung, wann und wo genau das Konzert ist. Gerhard Schöne hat sogar einen erstaunlich langen Auftritt und ich finds sehr geil, der Tag ist gerettet. Er selbst anscheinend nicht so. Aber die Gesamtstimmung auf diesem Fest ist auch eher nicht so, dass er da mit seinem Programm besonders gut reinpassen würde.
Abends ist Grillen am Stattschloss.
Soundtrack zum Tag: Gerhard Schöne – dieses Lied, das er da gesungen hat, das ich jetzt aber nicht finde, in dem er besingt, wie er einst durchs Land reiste und „Guten Tag!“ sagte, woraufhin die Leute sagten, dass man hier nur „Grüß Gott!“ sage, wie er also durchs Land reiste und „Grüß Gott!“ sagte, woraufhin die Leute sagten, dass man hier nur „Glück auf!“ sage, wie er also durchs Land reiste und „Glück auf!“ sagte, woraufhin die Leute sagten, dass man hier nur „Hi!“ sage, wie er also durchs Land reiste und „Hi!“ sagte, woraufhin die Leute sagten, dass man hier nur „Moin!“ sage, wie er also durchs Land reiste und „Moin!“ sagte, woraufhin die Leute sagten, dass man hier nur „Guten Tag!“ sage.
Aber damit es auch einen richtigen Soundtrack zum Tag gibt, lautet der alternative Soundtrack zum Tag: Gerhard Schöne – Alles muss klein beginnen
In der Grolmann9 macht mir niemand auf. Von außen sieht es eher nach gemieteter WG als nach Kommune aus.
Jeden Freitag ist abends für wenige Stunden in der L50 das Foodproject. Das ist sowas wie Foodsharing, aber es ist mit Foodsharing überhaupt nicht vernetzt, und es gibt keine Fairteiler. Es gibt ein nettes Beisammensein bei Obst und Kuchen und man kann diverses gerettetes und containertes Zeug mitnehmen. Hier erfahre ich, dass morgen auf dem Krämerbrückenfest (ein städtisches Fest, das man wohl früher noch halbwegs ertragen konnte, das aber mittlerweile nur noch eine Konsumorgie mit anstrengender Musik sei) Gerhard Schöne spielt. Na das ist ja mal gut zu wissen. Dann weiß ich schon, wo ich morgen hingehe. Der Vollständigkeit halber frage ich hier auch nochmal, wie die Leute so die politische Gesamtsituation in Erfurt einschätzen und was sie an dieser zu verbessern gedenken. Alle so am Resignieren. Na ja. Das glaube ich auch, dass aus Erfurt nie was wird, wenn das die Grundeinstellung der Leute ist.
Beim Foodproject lerne ich auch Till* kennen, der Dauergast auf dem Wagenplatz ist und auch am Stattschloss mitbaut. Mit ihm fahre ich zum Wagenplatz und sichere mir dort einen angenehmeren Pennplatz mit freiem Rein- und Rausgehen. Der Tag ist gerettet. Ein Gästewagen ist zwar nicht mehr übrig, aber Till* leiht mir sein Zelt.
Soundtrack zum Tag: Jeff Wayne et al. – The spirit of man
Heute geht Ingo* noch früher zur Arbeit. Er schließt zu und ich lieg lange im Bett und frühstücke ausgiebigst, bevor Leute zum Bauen kommen und ich raus kann.
Ich laufe zur Uni. Die hat hier nur einen kleinen Campus. Es ist ja auch eine kleine Uni. In der Bibliothek ist eine angenehme Atmosphäre, um Reisetagebuch zu schreiben. Außerdem fange ich an, Eric Berne – Spiele der Erwachsenen zu lesen. Er schreibt genauso vom Stil her wie Claude Steiner, verständlich, polemisch, aufrüttelnd. Macht Spaß. Der Tag ist gerettet.
Am Abend ist die Vokü im AJZ. Dort lerne ich Kai* kennen. Ich erwähne die Grolmannstraße und frage ihn, was das ist. Er sagt, das sei „eine Kommune, die ihr Geld zusammenschmeißen“. Klingt interessant aus dem Munde dieses Skeptikers. Da will ich mal hin. Ich erfahre auch, dass der Wagenplatz entstanden ist, nachdem das einzige besetzte Haus Erfurts 2008 geräumt wurde. Das war die Beruhigungspille. Das Gelände wird von der Diakonie gepachtet, für 30 Jahre, beidseitig jährlich kündbar. Das klingt mir nach einem Provisorium.
Soundtrack zum Tag: Leæther Strip – Jagtvej 69
Ingo* geht früh raus zur Arbeit. Wir frühstücken zusammen und ich komm mit raus, weil das hier immer zugeschlossen sein soll und ich keinen Schlüssel habe. Das ist wohl wichtig wegen der Nazis. Nicht dass es hier total viele Nazis gäbe; eher so normal viele für eine 200'000-Menschen-Stadt, die nicht gut organisiert sind und nicht viel machen. Die AfD war nerviger, die hier in letzter Zeit einige Male in Erscheinung getreten ist. Aber die Linke ist sehr klein, man sieht überall die gleichen 30, 40 Leute. Und im März gab es einen Faschoangriff aufs AJZ. Das war zwar eine absolut alberne Aktion von ein paar Kindernazis, die nur mal was Tolles reißen wollten und natürlich auch schnell von den Bullen aufgegriffen wurden. (Wie vorhersehbar: Das AJZ ist von der Stadt finanziert.) Aber die Geschichte zeigt, dass man sich nicht zurücklehnen kann und Angriffe passieren. Die Reaktion darauf ist leider nicht Soliaktionen, Demos, mehr Kultur und Offenheit, Nazis gemeinsam aus der Stadt verjagen, sondern Rückzug, aktive und passive Sicherheit, bloß nicht auffallen. Das Stattschloss soll deshalb auch von außen noch nicht als zukünftiges Hausprojekt erkennbar sein, solange das Sicherheitskonzept noch nicht steht. Ich sehe das ja kritisch. Was ist das für eine Perspektive, immer nur Angst haben zu müssen? Außerdem sollen Freiräume dem Namen nach frei sein, und nicht von Mauern mit Stacheldraht umgeben. Also frei wie in Freibier und freie Meinungsäußerung; nicht wie in Freibad.
Ich laufe an der Schmalen Gera entlang zum Wagenplatz. Das ist hier wirklich alles ganz schön autolastig. Es gibt Autostraßen ohne Beiwege. Dass Menschen durch die Gegend laufen, ist teilweise gar nicht vorgesehen. Im Norden ist ein Industriegebiet, das zu einem Großteil nur aus autospezifischer Industrie besteht. Dort ist natürlich auch viel Autoverkehr und wenig anderes und es ist sehr beängstigend, zu sehen, wie sich dort ausschließlich Autolackierereien, Tankstellen, Autohäuser, Scheibenwerkstätten, Fahrschulen und ähnliches Gedöns aneinanderreihen.
Der Wagenplatz ist schwer zu finden, da sehr abgelegen und versteckt. Letztlich finde ich ihn dann und stehe vor einem mit schwarzem Molton verhangenen hohen Zaun und komm nicht rein. Davor hängen Küchenutensilien zwecks Krachmachen, aber das ist mir jetzt auch nicht wichtig genug und ich geh wieder weg.
An der Gera laufe ich zurück und zum Wirgarten. Innerhalb einer größeren urwüchsigen grünen Fläche mitten in der Stadt – wie schön! –, zu der man sich den Zugang allerdings auch erst erschleichen muss, liegt der Wirgarten als umzäuntes und derzeit zugeschlossenes bewirtschaftetes Gebiet. Nicht dass man nicht trotzdem reinkäme. Die Zäune hier sind anscheinend eher als Handlungsempfehlung zu verstehen, aber bei dem Namen habe ich was Offeneres erwartet. Unten an der Gera ist ein schöner, offiziell nicht zugänglicher Weg. Von dort zeigt ein Wegweiser in Richtung Wirgarten, auf dem ein Kreis mit einem A drin ist.
Zwischenfazit: Ich glaube, diese Stadt hat Potenzial, aber die Stadtplanung scheint kaputt zu sein. Erfurt müsste mal konzeptuell gründlich überarbeitet werden.
Die Altstadt hat einen ganz anderen Stil. Hier hat sich die High Society so ein kleines Holländerviertel, um mal einen Potsdamvergleich zu bringen, eingerichtet. Da ist Shopping, flanieren und teuer absteigen angesagt. Bei Edeka genehmige ich mir ein paar Tafeln Schokolade. Der Tag ist gerettet.
Im L50-Umsonstladen finde ich Käfigstangen für Kanarienvögel (aka. Diabolostöcker) und eine Stehlampe (fürs Stattschloss).
In der Saline34 ist niemand, aber das sieht auch wirklich nur nach Kunst aus, wie Ingo* schon gesagt hat. Da wohnt niemand.
Soundtrack zum Tag: Sundayers – En la calma
Heute fahr ich los Richtung Erfurt, aber ich dudel langsam in den Tag. Erstmal guck ich, was so läuft in Erfurt, und pack die ersten Inhalte in den Blog. Nach einem Monat wird das ja auch mal Zeit. Es ist erstaunlich, wie ich immer zu nix komme, weil so viele spannende Dinge passieren und ich mir nicht die Zeit nehme, zu bloggen. Nach 15 Uhr fahr ich los, was ich dann doch recht spät finde.
In Weimar überlege ich hin und her, ob ich hier doch zum Wagenplatz fahre, auf den mich Tim* eingeladen hat, denn zu 19 Uhr zur Küfa ins Veto nach Erfurt schaff ich es sowieso nicht mehr. Letztlich fahr ich dann doch weiter. Weimar ist bestimmt auch schön, aber ich will jetzt mal ein paar Kilometer machen, nachdem ich über zwei Wochen in der Wichmar-Jena-Gegend abgehangen hab.
Da, wo laut allen Ankündigungen das Veto und die Küfa sein soll, ist um halb neun erstmal nichts. Der Laden, wo wahrscheinlich theoretisch mal das Veto war, steht zu vermieten. Keine Graffitti, keine Aufkleber deuten darauf hin, dass hier das Leben tobt(e). Das ja höchst eigentümlich!
Ich geh in die L50 rüber, die ja zum Glück nicht so weit weg ist. Da ist gerade ein Spieleabend. Die Leute sagen, dass ich in der L50 wahrscheinlich gerade nicht gut penntechnisch unterkommen kann, und dass das Veto umgezogen ist und jetzt Stattschloss heißt.
Zwischendurch guck ich noch beim AJZ rein. Dort ist am Donnerstag Vokü; und ich erfahre, dass die Saline34 hier schräg runter wohl auch noch ein Hausprojekt sei. Das Stattschloss bzw. neue Veto kennen die beiden, mit denen ich da rede, nicht, obwohl das hier in der Nähe sein müsste. Ist ja auch noch ganz neu.
Im Stattschloss (Man muss schon ganz genau wissen, wo es ist, um es zu erkennen.) ist dann auch tatsächlich die Küfa. (Küffa in dem Fall, denn gewisse Personen mussten wohl des Platzes verwiesen werden.) Ich komme mit Ingo* ins Gespräch. Er ist bislang der einzige Bewohner dieses Hauses, das komplett eine Baustelle ist. Er lädt mich ein, hier zu wohnen. Der Tag ist gerettet. Ich finde das schön: Ich komme abends spontan unangekündigt in eine Stadt, in der ich noch nie war und mich niemand kennt, die Angaben im Internet sind falsch und ich habe innerhalb einer halben Stunde einen Pennplatz. Diese Offenheit finde ich sehr sehr geil. Es gibt viel Platz, aber baustellentypisch wenig kleinbürgerlichen Komfort wie elektrisches Licht, Sauberkeit und so Gedöns.
Mit einem Fahrradkenner fachsimpele ich über Liege- und Lastenfahrräder. Hier gibt es ein kostenlos leihbares Lastenfahrrad. Das ist ein Zweirad, weil Erfurt wohl voll die Autostadt ist und man mit einem Fahrrad viele Absätze zu überwinden hat.
Dann schnacke ich noch ne Stunde mit Martha* und Edgar* über Wichmar, den Wagenplatz von Erfurt, das Leben im Wagen überhaupt, Containerei (Hier kann man superentspannt bei der überregionalen Lagerhalle eines Bioveganökohipster-Lebensmittelzulieferers containern. Davon steht auch einiges hier in den Regalen. Ich hatte mich schon kurz wundern wollen, wer hier so einen teuren Scheiß kauft.), den Wirgarten und die Möglichkeiten veganer Ernährung in der Stadt. Sie nennen mir die Adresse vom Wagenplatz, die man so offiziell nirgendwo findet. Edgar* wohnt da und sagt, dass ich willkommen bin.
Soundtrack zum Tag: ASP – Ich will brennen
Wichmar, Würchhausen, Dorndorf, Golmsdorf, Porstendorf, Kunitz, Jena, Großschwabhausen, Kleinschwabhausen, Lehnstedt, Mellingen, Weimar, Tröbsdorf, Hopfgarten, Utzberg, Mönchenholzhausen, Linderbach, Azmannsdorf, Erfurt
65 km, 500 m
Der Tag ist sehr vom Essen dominiert. Zuerst Frühstück mit Svenja* und Jakob*. Dann kommt Thalia* vorbei und lädt mich zum Essen an der Saale ein. Wir kochen bei ihr und essen mit Tim* vom Weimarer Wagenplatz, der gerade hier zu Besuch ist, und Laila* im Tipi im Saalegarten, während es draußen pieselt. Der Tag ist gerettet. Ich geh auf ne Hunderunde mit Tim*. Jetzt bin ich ja sogar schon ortskundig. Jeah!
Nachdem ich Thalia* was von RT erzählt habe, geht sie auf Jagd. Eine spannende Person. Sie ist ein paar Jahre mit ihrem Hund vagabundiert. Ich kann viel von ihr lernen. Ich will noch viel von ihr lernen.
In der Hof-WG gibt es ein schniekes Yogazimmer. Da gucken wir am Abend „The wind that shakes the barley“ mit Svenja*, Tim* und Thalia* und natürlich mit – nochmal warmem Essen. Ich mäste mich hier so, unglaublich.
Soundtrack zum Tag: Illute – Viva la ignorancia
Ich rede mit Manu* und verstehe ihn jetzt besser, da ich ihn in seiner Verletzlichkeit sehe. Seine persönliche Geschichte ist wichtig zum Verständnis seiner Person. Diese Mauer musste eingerissen werden. Der Tag ist gerettet.
Ich gehe nach Würchhausen zu Madlen* und bringe gleich noch was von dem vielen Aufstrich rüber in die Würchhausen-WGs. Madlen* kommt aus Frankreich und kennt sich dort aus. Sie empfiehlt mir, die Atlantikküste entlang zu fahren. Wir haben die Idee, morgen Abend im Atelier eine Kuschelparty zu schmeißen.
Auf dem Rückweg rede ich noch mit Daniel*, Bine* und Ferdi* darüber. Sie finden die Idee ok. Jetzt bin ich mir doch nicht mehr so sicher, ob ich es machen will, wenn die Begeisterungsstürme sich in Grenzen halten.
Soundtrack zum Tag: L’âme immortelle – Dort draußen
Beim Frühstück sind wir wieder acht, aber andere acht. So große Runden mag ich ja.
Wir packen Sachen fürs Picknick auf der Saaleinsel in Dorndorf mit Bine*, Selim*, Laila*, Manu*, Thalia*, Joseph* und Ferdi*. Ferdi* probiert, mit dem Liegefahrrad zu fahren, und kriegt es gleich voll gut hin. Auf der Rückfahrt fährt er sogar schon mit den Klickpedalschuhen. Es ist sehr abenteuerlich, hier rüberzuwaten auf die Insel und im Gestrüpp zu liegen. Der Tag ist gerettet. Wir werden zu 19 Uhr zurückbestellt, weil Charlotte* groß kocht und Leute einlädt.
Es gibt ein richtiges Festessen mit so zwanzig Leuten im Atelier. Das ist ein großer Raum in einem Nebengebäude der Hof-WG. Nach dem Essen gucken wir die Doku „Vivir la utopia“ über die AnarchistInnen im Spanischen Bürgerkrieg. Die Doku ist so lala, sehr einseitig. Die Diskussionsrunde danach ist von der einnehmenden Art von Joseph* und Manu* dominiert und ich zieh mich zurück. Ich verabrede mich für morgen mit Madlen*.
Ich habe Schwierigkeiten mit Manu*. Er riecht unangenehm, redet aufdringlich, fällt ins Wort und er fragt das, was viele oft fragen, statt von seiner Erfahrung zu erzählen.
Objektiv war der Tag extrem geil. Wenn das einer der ersten zwei Tage hier gewesen wäre, dann wäre ich absolut zufrieden und hätte mich angekommen gefühlt, obwohl ich noch nicht angekommen wäre. Jetzt, da ich angekommen bin, fühle ich mich nach diesem Tag nicht angekommen. Ich kenne die sozialen Verstrickungen jetzt besser und habe nicht mehr diese Leichtigkeit im Erkunden des Neuen. Ich versuche, nicht zu stören und mich möglichst gut einzugliedern.
Ferdi* hat sich auf der Saale gewundert, dass er schwer an mich rankommt, und dass er mit mir nackt kuscheln konnte, was er nicht gewohnt war. Bei mir ist emotionale Nähe über körperliche Nähe vermittelt; bei den meisten anderen ist es anscheinend andersrum.
Soundtrack zum Tag: Röyksopp – Triumphant
Hier ist eine sonnenbeschienene Terrasse, auf der wir chillen. Dann gehen wir schräg rüber in den Park zum Tischtennisspielen. Am Nachmittag pack ich meine Sachen und fahre zurück nach Wichmar.
Ferdi* überredet mich, noch ein paar Tage zu bleiben, weil er noch mit mir über Politik quatschen will. Es ist nicht soo schwierig, mich zu überreden. Außerdem wollen Thalia*, Laila* und Daniel* noch RT erklärt bekommen.
Es ist sehr schön heimelig, wie am Abend langsam alle eintrudeln (Ferdi*, Thalia* und Charlotte* machen noch gemeinsam Musik), ich einen Kartoffeleintopf koche und wir zu acht abendbroten und lustige Grimassenspiele spielen. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Dritte Wahl – Zeit bleib stehen
Es ist angenehm, hier zu sein. Aber schon wieder ist das nichts Dauerhaftes. Die Vermieterin ist garstig und wahrscheinlich besteht diese WG nur noch bis Ende nächsten Jahres. Da hier nur Studis wohnen, ist der persönliche Leidensdruck aber auch gering. Hmm. Mag ja in Ordnung sein. Ich habe nur gerade so einen Wo-und-wie-will-ich-einst-wohnen-Blick. Und das hier ist es nicht.
Die Leute containern hier viel bei einem Großmarkt außerhalb der Stadt. Heute will niemand außer mir hinfahren. Ich klimper tagsüber auf dem E-Piano rum und latsch abends auf den Jenzig, den mir die Leute vom Freiraum im Kuba schon empfohlen haben.
Da oben treffe ich Marie*. Ein wunderschöner Mensch. Der Tag ist gerettet. Wir schnacken stundenlang übers Wandern, übers Reisen, über RT, das Psychologie-Studium, die Campuscouch, die Nightline, Polyamorie, das Leben und die Wohnprojekte in Jena, über Leipzig, Wichmar, Freiburg, Kempten im Allgäu, Bern, die Schweiz, Dialekte, Containern, Kryptologie und das Leben in Gemeinschaften. Also einmal alles. Vielleicht fährt sie im August mal im Süden rum und wir besuchen einander.
Es wird spät, aber ich fahr noch zu diesem Großmarkt. Joar. Ist ganz gut.
Soundtrack zum Tag: Früchte des Zorns – Unsa Haus
Hier wird viel Zwergenwiese konsumiert. Ich fühle mich immer schlecht dabei, das zu essen, wenn es gekauft ist, weil ich weiß, was der Scheiß kostet. Zum Frühstück mach ich erstmal einen Linsen-Möhren-Aufstrich und kann dann ruhigeren Gewissens reinhauen. Beim Frühstück findet ein Krisengespräch statt; ich darf mich später aber dann doch dazu setzen.
Ich setz mich an die Saale und bastel Portemonnaies. Eins für mich, und vielleicht wollen die anderen ja auch welche haben.
Zum späteren Nachmittag fahr ich los nach Jena, weil ich ja mit der Campuscouch verabredet bin. Das Treffen ist beidseitig ein großer Gewinn. Ich gucke mal über meinen Nightline-Tellerrand und sehe, wie andere Aktives Zuhören an der Uni betreiben – mit deutlich weniger Leuten, nicht anonym, mit persönlichen Gesprächen statt am Telefon, mit einer komplett anderen internen Organisierung. Die Campuscouch-Leute freuen sich auch sehr, dass ich da bin, und sind schwer beeindruckt von dem Professionalisierungsgrad bei den Nightlines. Ich sage, dass ich das meiner Nightline zurückberichten werde, und wir verbleiben so, dass wir den Kontakt aufrecht erhalten und einander zu Schulungen und Weiterbildungen einladen wollen.
Mit Laurin* von der Campuscouch geh ich dann noch zur Inselvokü, und wir schnacken weiter über das ideale Zuhörangebot, über PR-Möglichkeiten von Hochschulgruppen und über Vernetzungsideen. Bei der Vokü lerne ich auch Nicki* und Simone* kennen, bei denen ich übernachten kann – in der Biberburg auf dem Friedensberg. Ich bin ja mega geflasht von dieser Gastfreundlichkeit. Wenn ich unangekündigt irgendwo aufkreuze, und auf einmal wird mir sogar ein bezogenes Bett angeboten, und ich muss nicht mal meinen Schlafsack ausrollen – das hat schon was. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Die Wallace-und-Gromit-Titelmelodie
Mir fehlt Schokoaufstrich. Deshalb mach ich welchen. Der Tag ist gerettet. Laila* fährt auf den ja voll ab. Schön, wenn Menschen mit so einfachen Mitteln glücklich zu machen sind.
Ich bringe Details zur Organisationsform in Erfahrung. Es sind zwei WGs in Wichmar und drei in Würchhausen, zirka zwanzig Menschen. Alle BewohnerInnen haben einzelne Mietverträge. Einen Trägerverein gibt es nicht. Das ist so irgendwie auch das richtige Modell für die Menschen hier, weil viele studieren und keine langfristige Perspektive haben. Hmm. Der Kommuneansatz an diesem Ort müsste eigentlich mehr geschützt werden. Was Dauerhaftes wäre gut.
Es fühlt sich immer mehr wie zu Hause an. Wir liegen kuschlig zu dritt in der Hängematte und sind so nah wie ich es sonst auch bei langjähriger Freundschaft nicht gewohnt war.
Morgen fahre ich zum Treffen der Campuscouch, zwecks Erfahrungsaustausch.
Soundtrack zum Tag: Lena Stoehrfaktor – Freu dich
Noch mehr Klavier. Außerdem In-der-Sonne-Liegen. Und sitzen, baden, (vor-)lesen, spielen, Hängematte und Gartenerdbeeren an der Saale mit Svenja*, Laila*, Dagobert*, Soumya*, Thalia* und Charlotte*. Megasozial und schön. Der Tag ist gerettet. Die Hof-WG macht ein Kleinplenum und ich koche nebenbei einen Linsen-Kartoffel-Eintopf. Am Abend kuschel ich mit Ferdi* im Lichtzimmer. Wir klassifizieren Hippies und eruieren den Unterschied zwischen Emohippies, Esohippies, Ökohippies und Hedohippies.
Soundtrack zum Tag: Technohead – I wanna be a hippy
Ich hab Lust auf Eierkuchen und mach welche zum Frühstück. Voll gute Idee. Der Tag ist gerettet. Dann spiele ich Klavier und unterstütze Ferdi*. Am Abend gucke ich mit Soumya* und Thalia* in Würchhausen nen Film. Die allgemeine Kuschlichkeit der DorfbewohnerInnen macht mich entspannt.
Soundtrack zum Tag: Hasenscheisse – Eierkuchen flieg
Ich wache schön kuschlig auf. Mehr davon! Der Tag ist gerettet. Den Tag verbringe ich damit, noch mehr Klavier zu spielen und auf den Bergen hier in der Gegend rumzukraxeln. Es sollte wohl ein Dorfausflug zu Früchte des Zorns werden. Wir sind dann aber doch nur zu dritt mit Charlotte* und Soumya*. Soumya* kennt auch die Projekte in Brück, genauso wie Charlotte*. Voll gutes Gefühl, wenn alles mit allem zusammenhängt. Wir holen erst was bei Grünfutter, der Foodcoop, ab und gehen dann zum Konzert. Das ist in der Jugendgemeinde von Lothar König. Wusste ich gar nicht, dass der hier aktiv ist. Die Jugendgemeinde ist ein richtiger linker Anlaufpunkt. Hätte ich gar nicht gedacht.
Mein Portemonnaie fällt auseinander und wir reden übers Portemonnaiebasteln. Das könnte ich noch mehr verbreiten, weil das immer wieder auf Begeisterung stößt.
Soundtrack zum Tag: Früchte des Zorns – Passt aufeinander auf
Aus Halle hab ich noch containertes Müsli. Das mach ich jetzt endlich mal auf. Hier steht ein Klavier. Jeah! Der Tag ist gerettet. Ich spiele erstmals mit Noten. Dafür ist der E-Book-Reader auch sehr gut geeignet.
Ich laufe mit Laila* nach Würchhausen rüber und lerne Menschen aus den anderen WGs dort kennen. Mit Nihat* führe ich ein wunderschönes Gespräch über politische Perspektiven und Weltrevolution, Polyamorie und Erfahrungen damit, das Studileben und Lohnarbeit, das Reisen und das Leben ohne Geld (Dabei und dafür ist Kommunikation immenst wichtig, genau wie bei Polyamorie, womit sich der Kreis unserer Debatten wieder schließt.); genährt durch Nudeln. Mir ist nach einem Spieleabend. Nihat* hat Dixit. Das würde ich gerne mit diesen großartigen Menschen hier spielen. Nihat* sagt, dass morgen in Jena Früchte des Zorns spielen. Au ja! Er selber wird nicht dabei sein, weil er ins Kloster geht, aber andere wollen wohl hingehen.
Abends spielen wir dann doch nicht, weil niemand will. Die Leseabend-Idee geht ein paar Mal hin und her. Es wird dann mehr eine Quatsch- als eine Leserunde mit Jakob* und Charlotte*. Wir pennen zu dritt ein.
Soundtrack zum Tag: Funny van Dannen – Blauer Vogel
Tagsüber fahre ich entspannt nach Wichmar. Der Weg ist doch recht bergig und wasserfallig und gar nicht soo kurz wie ich dachte. Ich komme an und treffe erstmal niemanden von den Leuten, aber fühle mich gleich voll heimisch und aufgenommen. Hier ist nichts zugeschlossen. Es gibt eine schöne Küche und eine Bibliothek im Esszimmer. Insgesamt ist die ganze Bude politisch und hippiesk gestaltet. Sehr gut. Hier müssen angenehme Leute wohnen. Der Tag ist gerettet. Später kommt Charlotte* von der Uni und wir treffen die Meute im Garten an der Saale, mit Picknick, baden und Hängematte. Die freundliche Offenheit, die diesen Freundeskreis durchzieht, und die selbstverständliche Nacktheit machen mich mich fallen lassen und ganz ankommen. Ich entscheide mich, dass ich ein paar Tage hier bleibe.
Es gibt noch drei Tagesschmetterlinge, mit denen ich viele Anknüpfungspunkte habe. Sie sind hier, weil sie so aussahen, als wenn sie einen Pennplatz bräuchten, und Menschen aus dem Dorf sie darauf angesprochen haben und sie nach Wichmar eingeladen haben. Witzig.
Am Abend ist Plenum, genauer gesagt Sozialplenum. Es geht um die Frage: Warum will ich hier wohnen und was erwarte ich von dem Zusammenleben? RT ist auch ne Frage. Einige wollen jetzt mit einer Gruppe beginnen. Uns Schmetterlingen wird angeboten, dass wir teilnehmen. Also das meine ich mit dieser krassen Offenheit. Wir sind aber froh, das Urlaubsprivileg nutzen zu können und nicht plenieren zu müssen. Ich entscheide mich stattdessen dafür, für alle zu kochen. Es gibt Buletten, Stampfkartoffeln und Majonnaise.
Hier werden voll die fetten Verbrauchsgüterlager hochgezogen, weil die Einkaufsmöglichkeiten so schlecht sind. Trockenwaren werden bei Bode bestellt. Frisches gibt es bei Grünfutter, einer Foodcoop in Jena im Kulturbahnhof. Die anderen vier WGs in Wichmar und Würchhausen bedienen sich auch an diesen Vorräten hier in der Hof-WG. Die Wohnfläche ist nicht besonders groß, aber die Lagerei ist gut strukturiert. Es fühlt sich nicht beengend an. Hier liegt einfach nicht so viel Müll in der Gegend rum. Die Menschen sind achtsamer als anderswo.
Es gibt Funktionales Wohnen. Ich schlafe im Lichtzimmer, dem einzigen hellen Zimmer.
Soundtrack zum Tag: Götz Widmann – Landkommunenhippie
Jena, Kunitz, Porstendorf, Golmsdorf, Dorndorf, Würchhausen, Wichmar
17 km, 100 m
Es ist regnerisch und ich bin wieder so wetterfühlig und habe Schwierigkeiten, rauszukommen. Endlich schaffe ich es zum späteren Nachmittag dann aber doch und laufe im Regen zum Kassablanca. Das ist ein professionalisiertes Veranstaltungslokal, so in der Art wie das Spartacus. Ich bekomme eine freundliche Führung. Wenn ich irgendwann mal keinen anderen Pennplatz habe, kann ich auch einfach hier in einem der Waggons schlafen. Das Kassablanca ist neben den Gleisen und es sind auch alte Gleise und ein paar von der Bahn ausrangierte Waggons auf dem Gelände, die teilweise als Lagerfläche genutzt werden.
Neben dem Kassablanca ist das „Haus“. Das ist ein Wohnprojekt; mit dem kreativsten Namen ever! Die Leute, die dort den Sportraum nutzen, sind beschäftigt und nicht so gesprächig. Von den BewohnerInnen treffe ich niemanden. Es gibt aber auch keine Klingel. Angeblich ist die Inselvokü schon in vollem Gange. Deshalb will ich nicht lange im Garten rumsitzen und warten.
An der Insel kann ich noch ein bisschen beim Aufbau helfen. Es spielt eine Band und um acht gibt es Essen. Ich setze mich zu einem Grüppchen aus Wichmar, zwei Dauerbewohnerinnen und zwei Schmetterlinge. (Menschen, die nur vorübergehend dort sind, heißen Schmetterlinge.) Wunderschöne Menschen! Ich muss ihr Dorf kennenlernen, und selbstverständlich bin ich auch für mehrere Tage willkommen. Juhuu! Der Tag ist gerettet.
Die Insel füllt sich währenddessen. Das sind auf jeden Fall gut über hundert Leute hier. Crazy horse! Ich hab noch nie eine so angesagte Vokü gesehen. Nach Feuerchen, Fresserchen und langen Gesprächen über alles gehe ich beschwingt nach Hause. Morgen habe ich ein Date mit Wichmar. Auf dem Rückweg nehme ich noch Tomaten aus einer Tonne mit.
Soundtrack zum Tag: Loikaemie – Good night white pride
Am Saalbahnhof ist der Kulturbahnhof (Kuba), das sind einige Ateliers und der Freiraum (nicht verwechseln mit dem Freitraum), in dem auch ein Foodsharing-Regal steht. Ich schnacke sehr angenehm mit den Menschen dort (Der Tag ist gerettet.) und bekomme auch einen Pennplatz angeboten. Der Freiraum muss Ende Juni raus. Einige Ateliers sind schon geräumt. Der komplette Kulturbahnhof wird wohl dichtgemacht. Im Juni ist eine Demo für den Erhalt von Kulturräumen. Nebenan ist eine alte Lagerhalle von der Bahn, die wohl dann und wann mal illegal für Goapartys und so genutzt wurde. Die wird auch demnächst plattgemacht. Wir räumen einiges brauchbares Zeug wie riesige Traumfänger und Pappmaschee-Masken und so raus. Das ist gut für die Demo. Sonst ist hier aber gerade weniger die Stimmung, noch mehr Zeug anzuschleppen, weil alles raus muss.
Soundtrack zum Tag: Megaherz – Mann von Welt (Captive-of-society-Remix)
Lisa* sagt, dass die Insel am Inselplatz ein Hausprojekt ist, das ich mal so als Anlaufpunkt auschecken kann. Am Mittwoch ist Vokü. Dann guck ich mir das mal genauer an. Es gibt einige Freeboxen. Bei der Insel zum Beispiel. Und eine lebhafte Foodsharing-Infrastruktur mit einigen Fairteilern gibt es auch. Ich besorge was zu essen für die nächsten Tage. Im Freitraum an der Uni (sowas wie das Lesecafé, nur viel kleiner und weniger los) hängt ein Transparent von der Campuscouch. Es ist kompliziert, rauszufinden, was das ist, aber letztlich bringe ich irgendwie eine Website in Erfahrung, auf der das dann genauer steht. Sowas wie die Nightline, nur in nicht ganz so anonym. Klingt sauspannend. Ich laufe viel in der Stadt rum und spüre wieder den Entdeckergeist, den ich schon in Leipzig und Halle hatte. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Rainald Grebe – www.gelee.de
Ein paar Leute sind noch hier und ich verabschiede mich. Alter, ich komme auf jeden Fall wieder her. Das war soo cool. Bei der Abschlussrunde singt Barbara* Keep you in peace. Das ist mein Soundtrack zum Tag.
Es ist mir endlich gelungen, mit Lisa* zu telefonieren. Ich kann bei ihr in Jena pennen. Kein Problem. Die Fahrt ist wieder mal total schön. Gutes Wetter, und am schönsten ist die Schlucht, durch die man von Großschwabhausen nach Jena fährt. Das geht Richtung Jena bergab, und es ist schon recht dämmerig. Da ist Bodennebel. In so einer grünen urwüchsigen Schlucht. Sauhübsch.
Ich komme gut bei Lisa* an, und wir basteln erstmal Memorykarten für ihren Ethik-Unterricht morgen. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Keep you in peace (irisches Volkslied)
Beichlingen, Battgendorf, Kölleda, Vogelsberg, Kleinbrembach, Großbrembach, Haindorf, Buttelstedt, Daasdorf, Großobringen, Schöndorf, Weimar, Mellingen, Lehnstedt, Großschwabhausen, Jena
60 km, 500 m
Ich hab mich gestern ganz schön ausgepowert, während ich bemerke, dass andere hauptsächlich schnacken, die Zeit genießen und gar nicht so viel in Workshops hängen. Ich erinnere mich an den Chaos Communication Congress, wo mir das auch so gegangen ist. Ich habe eine Weile gebraucht, um rauszukriegen, dass die Vorträge dort das Unspannendste sind. Deshalb habe ich mir auch für heute vorgenommen, weniger den Terminen nachzurennen und mehr Stimmung aufzuschnappen. Erstmal stehe ich später auf und frühstücke in Ruhe. Den ersten Slot lass ich sausen und bin damit nicht allein. So können die Tischgespräche mehr Tiefe entfalten. Ich gehe zum Flügelkonzert. Das ist quasi der zweite Teil des Kuschelkonzerts. Karo*, die ich schon vom RT-Ostertreffen kenne, fragt mich, ob sie mit mir kuscheln darf, und wir finden zueinander. Großartig. Der Tag ist gerettet. Später verabreden wir uns zu einer Arbeitszeit.
Es ist ein Workshop zu Polyamorie im Alltag, in dem es um Fragen geht wie: Metamours genauer kennenlernen oder nicht? Was wollen meine PartnerInnen, wie einigen wir uns auf gemeinsame Zeiten? Gibt es Verlustangst? Neid? Was soll oder darf ich von meinen anderen PartnerInnen erzählen? Gibt es Abstufungen, wie einen harten Unterschied zwischen Sex und Essengehen? Hmm. Das sind so Fragen, die mich wenig anheben. Vielleicht mangels Konfliktpotenzial bislang. Wahrscheinlich bin ich tief im Innern zu sehr Punk, um mir über sowas theoretisch Gedanken zu machen. Mein Lieblingssatz von Emil* fasst das ganz gut zusammen: „Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis größer als in der Theorie.“
Am Abend ist der zweite Teil des orientalischen Basars. Dabei lerne ich Raufkuscheln kennen. Au ja! Das entspricht meinem Naturell.
Beim Kleinkunstabend soll ich meinen Text nicht lesen, weil schon sehr viel geplant ist. Beim nächsten Mal werde ich schneller sein.
Soundtrack zum Tag: Wave in head – Noch immer
Jetzt lerne ich schon wieder was cooles Neues kennen: einen orientalischen Basar. Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Die eine Gruppe bietet irgendwas an, Massagen, Kuscheln, sowas halt. Die andere Gruppe läuft von Station zu Station und hat überall zehn Minuten Zeit, das Angebot in Anspruch zu nehmen. Dann wechseln die Gruppen. Sowas kann auch den Zusammenhalt stärken. Schöne Idee. Ich biete eine Handmassage an. Der Tag ist gerettet. Ich zähle jetzt nicht alles auf, was ich heute gelernt habe, aber später ist dann noch eine Kontaktimprovisationssession. Das ist eine Art, miteinander zu spielen und wortlos zu kommunizieren, wobei man einander die ganze Zeit berührt.
Nach der Blauen Stunde ist noch eine Kuschelparty, diesmal angezogen. Die beginnt nach den erklärenden Worten auch wieder mit Aufwärmspielen: Wir teilen uns in zwei Gruppen. Die Menschen in der einen Gruppe stehen irgendwo mit geschlossenen Augen rum. Die von der anderen Gruppe stellen auf verschiedene Arten Nähe ohne Berührung und mit Berührung her. Die Kuschelparty wird dann später zur Sexparty.
Soundtrack zum Tag: Deichkind – Urlaub vom Urlaub
Es gibt ein Treffen für die ErstteilnehmerInnen im Diwanzimmer. Dort bekomme ich auch einen Paten. Aber die Leute sind hier alle soo lieb, dass das kaum nötig ist. Es gibt eine Münchenverschwörung. Im Laufe der Zeit dämmert mir im Gespräch mit den Menschen, dass es auch eine Informatikverschwörung gibt. Die KIF (Konferenz der Informatikfachschaften, hab ich noch nie von gehört) ist wohl auch ein Schmelztiegel der Kuschligen, Weltoffenen und Polyamorösen. Die Uni Potsdam ward dort aber noch nie gesehen, wie mir eine Informatikerin erzählt.
Es ist eine Nacktkuschelparty. Ich bin skeptisch, höre mir aber erstmal skeptisch den Theorieteil an und mache dann skeptisch mit. Wenn ihr mal die Gelegenheit habt, an einer Kuschelparty teilzunehmen, dann nehmt teil! Wir klären erstmal, was eine Kuschelparty nicht ist und was eine Kuschelparty ist. Im Praxisteil spielen wir Spiele zum Warmwerden: Wir stehen in Sechsergruppen eng zusammen im Kreis, so dass sich die Ellbogen berühren, mit den Händen nach innen und Augen zu. Dann betasten wir einander an den Händen und Unterarmen. Einzelne werden in andere Gruppen umgestellt, sodass unklar ist, mit wem man einander betastet. Als nächstes spielen wir: Wir ziehen uns alle nackig aus, stehen im Kreis und betrachten einander wertschätzend. Dann laufen wir im Raum herum, bleiben stehen, wo es uns gefällt, und beginnen, zu kuscheln. Ich nehme viel Freude aus der Nacktkuschelparty mit. Der Tag ist gerettet.
Die Blaue Stunde findet jeden Abend statt und ist eine Gelegenheit, um im kleineren Rahmen (insgesamt sind wir so hundert Menschen) auf den Tag zurückzublicken, das Befinden zu äußern und Wünsche für den heutigen Abend und den morgigen Tag zu formulieren. Das ist recht kurz und alle werden gehört. Ich halte das für eine sehr gute Idee.
Am Abend ist ein Kuschelkonzert mit Klampfe. Das heißt: Alle liegen irgendwie kreuz und quer auf Matratzen und jemand klampft.
Soundtrack zum Tag: Frozen Plasma – Tanz die Revolution
Den Vormittag verbringe ich damit, mir den besten Weg nach Beichlingen rauszufriemeln. Sonst habe ich immer mit Openrouteservice meine Routen geplant. Aber das ist ja gut bergiges Gelände und ich gucke mir erstmal auf Höhenkarten an, wo die Berge verlaufen. Aber eigentlich will ich ja einen Routing-Algorithmus, der Steigung, Weglänge und Bodenqualität irgendwie gewichtet und gemeinsam optimiert. Cycle.travel scheint mir das brauchbarste Angebot zu sein, obwohl man da gar nichts konfigurieren kann.
Auf der Strecke gibt es teilweise sehr geile Aussichten. Nachdem ich die erste Hälfte der Strecke konstant bergan fahre, gibt es vor Nebra einen starken Abfall. Da kann man schön gucken. Ohne die extreme Autolastigkeit der Straße wäre es noch deutlich besser. Der Wald, durch den der Himmelsscheibenradweg führt, ist urig und ich sehe einiges Getier. Die Himmelsscheibe von Nebra wurde hier gefunden. Habe ich nicht gewusst. Die Wege an der Unstrut sind auch voll schön. Und die haben ja auch den Vorteil, dass sie unbergig sind. Gleich nördlich von Beichlingen erstreckt sich ein Bergkamm, der bei Heldrungen unterbrochen ist, wo die Unstrut durchfließt. Dort fahre ich durch, und das ist ein sehr schöner Ort: Schon Stunden vorher sehe ich aus der Ferne, wie die dichte Wolkendecke an dieser Lücke aufgerissen ist und die Sonnenstrahlen das Tal beleuchten. Ich stehe fünf Kilometer vorm Ziel in der Bergkammlücke, links Berg, rechts Berg, oben Sonne, unten Wasser. Hach. Der Tag ist gerettet.
Zum Ende wird der Weg nochmal richtig blöd mit miesem Untergrund und viel Steigung. Ich komme deshalb doch erst 22 Uhr an, drei Stunden später als angepeilt. Die Leute sind meganett, alles kein Stress. Ich bin übelst alle von der Tour. Das Kennenlernspiel lass ich weg. Ich will nur noch ein paar Stullen essen und dann ab ins Bett. Also nachdem ich mir eine Matratze besorgt habe, wobei ich gleich noch dreivier Menschen, das Diwanzimmer (ein kuschliger geheizter Ort zum Klönen) und die Bar kennenlerne. Und das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft, die dieses Gelände „Am Windberg“ hier bewohnt, und den Menschen vom Polyamorösen Netzwerk – das geht ziemlich ineinander über und ich merke nicht, dass wir, die Netzwerktreffen-TeilnehmerInnen, hier irgendwie ein Fremdkörper wären. Und den prinzipiellen Umgang miteinander – die Türen zu den Wohnbungalows sind eh nicht abschließbar und alles läuft sehr kommunikativ und freundlich.
Soundtrack zum Tag: Kraftwerk – Tour de France
Halle, Rockendorf, Delitz am Berge, Bad Lauchstädt, Großgräfendorf, Schafstädt, Nemsdorf Göhrendorf, Querfurt, Roßleben, Schönewerda, Gehofen, Reinsdorf, Bretleben, Heldrungen, Gorsleben, Hemleben, Beichlingen
95 km, 590 m
Halle zu durchstromern, macht Spaß. Es gibt eine Fahrradselbsthilfewerkstatt, die quasi die ganze Woche offen hat, und eine Open-Air-Freebox am August-Bebel-Platz, und wieder lauter vegane Imbisse. An der Hafenstraße 7, genannt Hasi, ist niemand. Auf dem Hof der Reil78 sitzen Leute, und ich erfahre unter anderem, wo ich heute Abend noch containern kann. Mit Franzi* gehe ich nach ihrer Arbeit am August-Bebel-Platz ein Eis essen. Der Tag ist gerettet. Beim Containern bin ich ordentlich erfolgreich mit Toast, Süßigkeiten und anderem Kram und fühle mich bezüglich Essen gut gerüstet für die morgige Riesentour.
Soundtrack zum Tag: Zaunpfahl – Subkultur
Franzi* ist erst am Abend in Halle. Ich nutze den Tag hier ohne Cryptocon, um noch Leipzig ein bisschen kennenzulernen. Ich laufe durch den Wildpark und schreibe am Cospudener See Reisetagebuch. Während ich unterwegs bin, kommen in der G16 zwei neue Gäste an. Es stresst mich immens, dass sie meine Sachen in diesem zugemüllten Gästezimmer an unterschiedlichen Orten verstaut haben und ich sie mir jetzt erst wieder zusammensuchen muss. Die Fahrradjacke vergesse ich beim Einpacken. Über einer Packtasche ist ein Aschenbecher ausgekippt. Nach dem Abwaschen vergesse ich das Besteck. Bisschen Schwund ist wohl immer.
Abends pieselt es sich so ein. Aber ich finde, es geht noch, und fahre nach Halle. Das dauert mal wieder länger als gedacht. Und ordentlich nass werde ich auch. In Halle werde ich gleich wieder von der Gastfreundlichkeit aufgemuntert, die mir an der Bahnhaltestelle entgegenschlägt, an der ich nach der Großen Ulrichstraße frage. „Die Große Ulli!? Ja, da musste da und da lang.“ Sie ist sehr glücklich, mir den Weg beschreiben zu dürfen. Der Tag ist gerettet. Franzi* beginnt zwar umgehend das Projekt Schlafen, aber es ist schön, jetzt hier zu sein, und wir planen, beim Frühstück einander alles zu erzählen.
Soundtrack zum Tag: Die Lassie singers – Regen
Leipzig, Lützschena, Schkeuditz, Großkugel, Gröbers, Bruckdorf, Halle
40 km, 150 m
Nördlich der Karl-Heine-Straße zwischen Westwerk und Gießerstraße ist eine kleine Freifläche mitten in der Stadt. Das ist wie ein Garten, etwas verwinkelt; zum Teil betoniert, zum Teil mit Gras bewachsen. Das Gebiet ist nicht bewirtschaftet und wird anscheinend nicht offiziell für irgendwas genutzt. Dort findet heute ein Hippietreffen statt, das Jahr1000-Festival: verschiedene Stände mit selbstgemachten Sachen, flotte Esosprüche mit Kreide auf dem Boden, ein Acroyogaworkshop, Musik mit diversen holzigen Instrumenten, Kinder, Seifenblasen. Ich setze mich zur gemütlichen Runde hinter einen Milchshakestand, genehmige mir ein Gläschen und bringe in Erfahrung, was ich in der wenigen mir in Leipzig verbleibenden Zeit noch sehen sollte. Der Tag ist gerettet. Ein Wagenplatz macht wohl heute noch Vokü. In der Nähe der Eisenbahnstraße ist das Café Nur, das wohl sehr gemütlich sein soll. Außerdem kann ich mir noch den Cospudener See angucken, und auf dem Weg dahin den Wildpark. Das schaffe ich aber alles nicht mehr, weil der Abbau der Kunst noch länger dauert und ich mich erst später mit Tiffy* zur Besichtigung des Eisenbahnstraßenhauses treffen kann. Danach gehen wir zu ihrer WG, wo auch Nicole* aus Potsdam ist, und andere Menschen, mit denen ich die restliche Zeit bis zur völligen Dunkelheit versacke. Also alles anders als geplant, aber insgesamt ein schönner Tag und ein schöner Abend.
Das Projekt in der Eisenbahnstraße ist ein echter Kraftakt. Sie haben das Grundstück und das Haus für die gute Lage relativ günstig in unbewohnbarem Zustand gekauft. Und sie wohnen auch alle noch woanders derzeit. Das ist eine reine Baustelle, und ich bin beeindruckt, wie motiviert das zu klappen scheint. Funktionales Wohnen ist kein Thema mehr und Tiffy* wünscht sich etwas mehr Einfach-nur-Zusammenwohnen und etwas weniger Gruppenprozess, damit mehr Zeit bleibt für die richtigen Aktivitäten da draußen. In dem Gespräch bin ich zum ersten Mal in der Situation, dass ich gegenüber einer mit Gruppenprozessen erfahrenen Gesprächspartnerin, die weiß, wovon ich rede, darlege, was mir an der Arbeit an der Gemeinschaft, mit der ich zusammenwohne, liegt, und warum es mir nicht genügt, einfach mit mehr oder weniger coolen Leuten ein Dach zu teilen. Ich weiß, was Tiffy* nervt, und ich sehe auch die Gefahr, dass Gruppenprozesse zum Selbstzweck werden und man sich nur noch mit sich selbst beschäftigt. Mich nervt das auch, wenn Leute in so ein Emoloch fallen. Es ist wichtig, die Balance zu halten, und wenn es eigentlich darum geht, zusammen zu wohnen, auch einfach zusammen zu wohnen. Aber die Basis dafür, dass ich mit Menschen einfach zusammen wohnen kann, ist, dass ich gehört und verstanden werde, dass ich mich frei fühle, meine Bedürfnisse zu äußern und für die Einhaltung meiner Grenzen zu sorgen. Das ist in der Pseudogemeinschaft so mancher Hausprojekte jedenfalls nicht erfüllt. Kommunikation ist alles.
Soundtrack zum Tag: Des Wahnsinns fette Meute – Herr Krug
Es ist ein voller Cryptocon-Tag. Am Morgen helfe ich beim Frühstücksbuffetbrutzeln. Dass es hier immer mal wieder was zu essen gibt, finde ich sehr gut. Das hält die Veranstaltung zusammen.
Tiffy* aus Potsdam ist auch da. Ich war mir nicht sicher, ob sie es ist. Aber sie hat mich angesprochen. Schön, dass wir uns so wiedersehen. Der Tag ist gerettet. Sie wohnt jetzt in Leipzig und ist in einer KünstlerInnen-Gruppe. Die Kunstinstallation hier im Sublab ist unter anderem von ihr. Deshalb ist sie hier. Wir unterhalten uns über neue und alte Zeiten und das Leben in Wohnprojekten. Sie ist mit anderen dabei, ein Haus im Osten der Stadt, in der Eisenbahnstraße, bewohnbar zu machen. Wir verabreden uns für morgen, dass ich mir das angucke.
Das Sublab macht jeden Sonnabend Vokü. So auch heute. Es gibt Nudeln mit Gulasch – voll toll und lecker.
Soundtrack zum Tag: Rummelsnuff – Weil wir fressen (Steinkind-Cover)
Es ist immer noch schwierig, hier im Haus anzukommen. Jetzt habe ich schon ein paar Leute gesehen, aber die sind auch schnell wieder weg gewesen. Ich hatte noch gar keine Führung über den Hof, und auch keinen persönlichen Austausch. Das Haus scheint aber Einiges an Außenwirkung zu haben. Es gibt einen U-Laden, ein Kino, eine Fahrradwerkstatt und viele andere Sachen, die am Eingang an einem Schild stehen. Teilweise sind das Begriffe, mit denen ich nichts anfangen kann. Es gibt hier eine sehr große Küche mit einem ordentlich fetten Esstisch. Anscheinend wird die nur von denen genutzt, die hier auf der Etage wohnen. Also so … sechs? Für alle zu kochen und gemeinsam zu essen, scheint nicht so üblich zu sein.
Ich gucke mir auf der Landkarte die Standorte der Leipziger Hochschulen an, um einen zu finden, der grün aussieht (WLAN-Wiese!) und nicht so weit weg ist. Bei den Spowis werde ich fündig. Ich internette auf der Spowiese im Sonnenschein, laufe durch die Stadt (Der Tag ist gerettet.) und gehe dann zum Film über Alan Swartz und zur Cryptocon. Die Keynote vom Peng-Kollektiv ist zu empfehlen.
Soundtrack zum Tag: Essenzia de lapo – Nosotrxs odiamos
Hier ist wenig los in der Küche. Die Leute scheinen zu tun zu haben. Ich suche mir alleine meinen Weg. Überall liegen die Aschenbecher voller Kippen rum. Das stinkt und ist eklig. Insgesamt mag ich aber diesen leicht dreckigen Lari-Fari-Flair in diesen Gemäuern. Von dem, was ich bisher so gesehen habe, scheinen in dem Projekt eher punkige Leute zu wohnen. Ist vielleicht antideutsch geprägt, wenn ich die Lektüre auf dem Küchentisch richtig interpretiere. Ich gehe ins Westwerk rüber. Praktisch, dass ich jetzt genau nebenan wohne. Die Cryptocon fängt wohl erst abends an. Ich kann noch ein bisschen beim Aufbau mithelfen, aber eigentlich weiß ich gar nicht, wie, also geh ich lieber spazieren und lerne die Stadt kennen.
Ich fühle mich jetzt schon richtig zu Hause und angenommen hier. Wenn ich in Plagwitz bin, merke ich, dass das die Hood ist, in der ich mich wohlfühlen kann. Vegane Dönerläden an jeder Ecke, Menschen mit Dreadlocks, bunt bemalte Wände, offene freundliche Gesichter. Der Tag ist gerettet. Der Vöner (Karl-Heine-Straße, Ecke Zschochersche Straße) ist relativ teuer, aber lecker und vielseitig. Im Sublab gibt es ein Buffet. Also an Essen mangelt es mir nun nicht.
Am Sonnabend ist eine Demo für Wohnraum, habe ich auf Plakaten gesehen. Aber die scheint als nicht so ultrarelevant wahrgenommen zu werden. Zumindest ist sie nicht das Gesprächsthema Nummer 1 und viele wissen erst gar nicht, wovon ich rede.
Soundtrack zum Tag: Lex Barker Experience – Lugares
Super Wetter, ich habe angenehm geschlafen und werde von einer Stimme geweckt, die mir zugarstet: „Morjn! Inner halben Stunde biste verschwunden, sonst rufick die Polizei!“, „Mach hinne!“ und „Is allet Privatjelände hier.“ Ich beschließe, mich nicht stressen zu lassen. Ich bin fit und ausgeschlafen, sortiere mich in Ruhe und schiebe dann das bepackte Fahrrad vor zum Weg, der bestimmt nicht Privatjelände is. Der Typ kommt an den Gartenzaun. „Haste keen Zuhause?“ Ich so: Nein, gerade nicht. Ich bin auf einer Reise. Ich will als nächstes nach Leipzig fahren. Gestern Abend war es zu spät und ich zu feddich, um den letzten Meter noch zu fahren, und ich habe mir hier einen Ort zum Pennen gesucht, wo ich hoffentlich niemanden störe. Es seien wohl schon Leute mit Fahrrädern hier gewesen, sagt er, die ihm auf den Weg gekackt haben und das Tor geöffnet haben, um Schafe oder Hühner zu klauen. Ich kann ihn überzeugen, dass ich das nicht vorhatte, und wir gehen in Ordnung auseinander. Sein Doppelhaushälftennachbar, der denselben Garten bewohnt, hat das Gespräch anscheinend nicht mitbekommen und lädt mich zum Frühstücken auf seine Gartenbank ein, weil das gemütlicher ist als auf dem Boden am Wegesrand. Wegen der Witzigkeit der Situation wäre ich darauf schon gerne eingegangen, aber ich will auch weiterziehen. Um mich nicht länger hier aufzuhalten, lehne ich ab.
In Leipzig dann der Kulturschock: Ich will mich nur kurz versichern, dass ich auf dem richtigen Weg bin, und frage jemanden an der Bushaltestelle, ob ich zum Hauptbahnhof weiter geradeaus fahren sollte. Er bejaht und erklärt mir dann aber den schönsten Fahrradweg, wo man dieses Autogedöns besser vermeiden kann. Sehr hilfsbereit. Vielleicht sind die Leute hier so. Die Frau vor Dahlen gestern, die mir den Weg erklären und gar nicht mehr aufhören wollte, ist ja auch aus Leipzig. Das scheint eine gastfreundliche Stadt zu sein. Das probiere ich am Hauptbahnhof gleich noch einmal aus, weil ich orientierungslos bin und die Katharinenstraße nicht finde. Einige wissen es nicht. Letztlich fahre ich mit einer, die auch in die Richtung will und mich mitnimmt.
Bei Heidi* angekommen, gekackt, geduscht, zähnegeputzt und neuesachenangezogen bin ich wieder Mensch. Das ist nötig gewesen nach so langer Zeit draußen. So, wie ich dort bin, fühle ich mich als zusätzliche Last, weil Heidi* und David*, die zu zweit in dieser recht kleinen Bude hausen, sehr viel mit Arbeit zu tun haben, und wir in unserer Unterschiedlichkeit keine freie emotionale Ebene finden. Ich fühle mich unwohl dabei, dort zu sein, laufe ein bisschen rum, telefoniere mit Susi*, sie empfiehlt mir die Zollschuppenstraße. Ich gehe am Bahnhof pissen (Vorteil an Kopfbahnhöfen: Man kann immer gut dort pissen.), checke im Buchladen aus, wo die Zollschuppenstraße ist, und laufe hin. Die Leute dort sagen, ich solle mal in der Gießer16 fragen. Ich finde ein Haus, das die G16 sein könnte, ich bin mir aber nicht sicher, und den Eingang habe ich auch noch nicht gefunden. Davor steht ein Typ. Ich frage ihn, und er sagt, dass das die G16 ist. Nachdem wir also anderthalb Sätze gewechselt haben, bietet er mir an, dass ich ja auch bei ihm pennen kann. Gastfreundlichkeit Leipzig check. Das ist aber ne Einzelwohnung. Deshalb lehne ich vorläufig ab.
Die G16 ist auch sehr offen. Ohne dass ich mich erstmal in einem Kennenlerngespräch lang und breit vorstellen müsste oder meine wohlwollenden Absichten in Zweifel gezogen würden, bekomme ich das Gästezimmer gezeigt, in dem der andere Gast Luis* verweilt. Wir teilen uns das Zimmer. Allet schick. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Gerhard Gundermann – Sag wolltest du nicht
Machern, Gerichshain, Leipzig
20 km, 50 m
Ich gucke mir den Weg bis Leipzig an und plane, mindestens bis Wurzen zu kommen. Das ist ein bisschen weiter als die Strecke von Proschim bis Elsterwerda. Vielleicht schaffe ich es auch bis Leipzig, weil ich ja früher losfahre und nicht auf Fremdbedürfnisse eingehen muss. Unterwegs snacke ich immer wieder Eierlikörpralinen und Marzipan. So lebt es sich nicht schlecht. In Mühlberg gibt es einen Edeka. Da finde ich Himbeeren, Joghurt, Minibananen, Maxibananen und Möhrchen. Der Tag ist gerettet. Am Stadteingang ist ein Wohnblock, vor dem sogar Fahrräder stehen. Da probiere ich es doch gerne mal, meine Wasserflaschen aufzufüllen. In den meisten Wohnungen meldet sich niemand. Die anderen haben keine Lust, sind dabei aber meistens sehr freundlich ablehnend. Die eine Omi brüllt mir noch aus dem Fenster nach: „Ditt kamman doch ooch koofn für 20 Cent!“ Der Handwerker, der dann angeradelt kommt, lässt mich problemlos auffüllen. Noch eine Banane schnabulierend klinke ich mich in den empörten Monolog derselben Omi mit einer Mitbewohnerin ein. Letztere nutzt ihre Gelegenheit zur Flucht. Ich frage Omi, ob sie denn schlechte Erfahrungen gemacht habe. Sie sagt Ja, aber welche, das sei völlig egal. Es gehe ums Prinzip. Ich bestätige sie darin, dass man ja viel Schlimmes hört und mache ihr explizit keinen Vorwurf, dass sie generell niemanden mehr reinlässt. Hat ja auch gut geklappt mit dem Wasserauffüllen. Ich wünsche ihr einen schönen Tag und sie mir eine gute Reise. Pseudo-Gemeinschaft wiederhergestellt.
Von Mühlberg bis Dahlen merke ich, wie wichtig Höhenmeter bei meinem Gepäck sind. Vor Dahlen beschreibt mir eine Ex-Leipzigerin sehr genau und immer wieder, bis ich es auch wirklich auswendig aufsagen kann, den besten Weg bis Leipzig. Ich winke zuerst ab, aber sie ist sehr hartnäckig. Ich schwöre, den besseren Weg zu fahren. Hinter Dahlen hört dann wohl auch die Hügellandschaft auf.
Hinter Schwarzer Kater sehe ich den ersten schwarzen Kater meiner Tour. Zuerst kreuzt er von links nach rechts, dann von rechts nach links. Was heißt das? Heiter bis wolkig? Später kreuzen weitere, mal in die eine, mal in die andere Richtung.
Wurzen durchfahre ich ohne anzuhalten offenen Auges, ohne zu erwarten, hier tatsächlich etwas Spannendes zu sehen. Die Elsterwerda-Erfahrung lässt auch Wurzen nicht so interessant erscheinen. Hinter Wurzen liegt Machern. Da pausiere ich erstmal. Wunden lecken, Lage checken. Es ist 19:30. Zeitlich würde ich das noch bis Leipzig schaffen, zumal es ja dann bald auch beleuchtet wird. Durch die Stadt kann ich auch nachts fahren. Ich bin ganz schön kaputt. Ist das jetzt ein Argument pro oder contra weiterfahren? Ich entscheide mich dafür, weiterzufahren und rufe Heidi* an. Sie sagt, dass ich gerne vorbeikommen und bei ihr pennen kann. Beim Anfahren am Berg merke ich, wie kaputt ich wirklich bin, weil ich umkippe (das erste Mal mit Gepäck). Ich entscheide mich, dass es doch nicht mehr geht. Ich komme kein Stück mehr weiter, die Muskeln sind schlapp. Ich haue mich genau hier auf diese Wiese. Beste Entscheidung des Tages. Kurz vor völliger Dunkelheit gehe ich schlafen.
Ich bin tatsächlich den ganzen Tag gefahren; habe nicht gelesen oder so. Und aufgehört habe ich dann wegen Muskelerschlaffung in den Beinen. Sonst habe ich keine Beschwerden. Das ist schon was besonderes am Liegefahrrad. Das Fahren geht gar nicht auf Rücken, Schultern oder was auch immer.
Soundtrack zum Tag: Doctor Krápula – Bombea
Elsterwerda, Kotschka, Stolzenhain, Schweinfurth, Kröbeln, Kosilenzien, Neuburxdorf, Burxdorf, Altenau, Mühlberg, Oelzschau, Wohlau, Treptitz, Olganitz, Zeuckritz, Bucha, Dahlen, Schwarzer Kater, Meltewitz, Mark Schönstädt, Kühren, Wurzen, Deuben, Machern
84 km, 400 m
André* war gar nicht in der Gesa. Er wurde gleich freigelassen, weil er keinen Ausweis dabei hatte und die Bullen nicht die Kapazitäten haben, lauter Identitäten aufzuklären und Leute ewig festzuhalten. Das ist natürlich megachillig so, wenn alle keine Ausweise dabei haben. Beim Einpacken fällt mir auf, dass meine Diabolostöcker weg sind. Ich kann sie nirgendwo finden, an den Orten, wo meine Sachen rumstanden, und auf dem Lost-&-found-Tisch sind sie auch nicht. Hmpf. Bisschen Schwund ist wohl immer. Die hatte ich auch sehr unsicher außen in den Rucksack gesteckt.
Uns schließen sich noch zwei an, die nur bis Senftenberg mitfahren und dann mit dem Zug nach Leipzig fahren. Wir fahren dann von dort aus weiter und nehmen uns vor, bis Elsterwerda zu kommen. Ich brauche aber mit dem ganzen Gepäck etwas länger; vor allem Anfahren ist schwierig. Ich habe Karla* schon meine fette Woody-Guthrie-Biografie mitgegeben, die mitzuschleppen wohl eine blöde Idee war. Aber es ist trotzdem immer noch alles sehr schwer. Ich muss mehr aussortieren. Nickis habe ich ganz schön viele. Dabei habe ich mich schon von so vielen getrennt. Die verbleibenden zu dezimieren, ist schwierig, weil alle gut sind. Und was ist mit dem Diabolo? Bastel ich mir irgendwann Stöcker oder kauf ich welche oder geb ich das Diabolo in einen U-Laden?
André* dauert das zu lange und er verlässt mich früher als geplant und nimmt den Zug. Das ist entspannt für mich. So kann ich in meinem eigenen Tempo weiterfahren und muss mich nicht auf seinen Charakter einstellen. Der Tag ist gerettet.
19 Uhr komme ich entspannt in Elsterwerda an. Kurzbeschreibung von Elsterwerda: Nur Nazis, nichts los, kein Leben. Ich bin auf der Suche nach jungen Menschen, vielleicht WGs, wo ich unterkommen kann und etwas über die Gegend und das Leben hier erfahre. Am Bahnhof schließe ich Bekanntschaft mit einer patriotischen Alkoholikerin mittleren Alters, die mir verklickert, dass die Menschen hier eher nicht so gastfreundlich seien. „Die haben ihre Leute.“ WGs gibt es wohl nicht. Das erfahre ich, nachdem wir geklärt haben, dass es sich bei meinem Gefährt um ein Fahrrad etwas unkonventionellerer Bauform handelt und ich nicht behindert bin (ernstgemeinte Frage, aber klar, man kann ja nie wissen).
Auf meiner Odyssee durch die Stadt sehe ich finstere Gestalten, die ich aus Intuition lieber nicht ansprechen will, weil mir deren Blicke schon so misstrauisch erscheinen. Ich sehe auch immer wieder (so groß ist die Stadt ja nicht) zwei dunkelhäutige Jungs ziellos herumlaufen. Ich versuche, sie anzusprechen. Mit deutsch, spanisch und englisch klappt es nicht. Wir einigen uns darauf, dass wir uns nicht gut unterhalten können. Bei einem Laden gibt es Reis in der Tonne. Gut, hilft mir unmittelbar nicht weiter, aber kann ich später vielleicht gebrauchen. Essen hab ich erstmal eh noch genug vom Camp. Ne Paprika finde ich auch noch.
Immer wieder sehe ich diese eine Bullenstreife. Hier ist überhaupt nichts los. Den Leuten ist stinkelangweilig. Wenn man verzweifeln will, dann ist das hier sicher der richtige Ort dafür. Aber die Staatsgewalt tut was gegen Kriminalität. Das muss man ihr lassen.
Fahrräder gibt es nicht. Vielleicht ist es hier eher nicht so üblich, sich fit zu halten und auch mal drei Meter weiter vor die Tür zu gehen. Ich laufe an Straßen mit vielen Wohnungen entlang und suche nach Klingelschildern mit mehr als zwei Namen. Es gibt wirklich keine. Vielleicht sollte ich einfach irgendwo klingeln und bei Omi auf der Couch schlafen? Eigentlich habe ich auf diesen sozialen Clash der Generationen gar keine Lust. Auf dem Reweparkplatz verbringt die halbstarke Dorfjugend den Abend: Mit dem roten brummenden Auto Kreise drehen, mit hochgezogenem Vorderrad Fahrrad fahren, rumstehen, quatschen. In einer Tonne finde ich Turnschuhe. Auch nicht schlecht. Ich frage die Dorfjugend, ob ich denn bei jemandem unterkommen könne. Sie können mir auch nicht helfen und wiederholen nur das, was ich schon vor anderthalb Stunden von der Frau am Bahnhof erfahren habe. Die politische Einstellung scheint man in Elsterwerda üblicherweise recht offen vor sich herzutragen. Auch hier werden schnell Themen angeschnitten, die ich jetzt mit diesen Menschen, die anscheinend nicht meine Meinung teilen, nicht vertiefen möchte.
Ich beschließe, dass ich mir bei dem schönen Wetterchen auch einen Schlafplatz irgendwo am Waldesrand suchen kann und lege mich dann am Stadtausgang an einen Feldrand.
Soundtrack zum Tag: Unheilig – Spielzeugmann
Proschim, Lieske, Sedlitz, Senftenberg, Schwarzheide Ost, Schwarzheide, Plessa, Elsterwerda
60 km, 150 m
Heute helfe ich an der Waschstraße. Das ist intensiv. Weil die Essenszeiten sowieso obsolet sind, kocht die Küche einfach einen Eintopf nach dem anderen. Heute gibt es nach dem Frühstück so schätzungsweise neun verschiedene Eintöpfe und Suppen. Es wird also auch dauerhaft gegessen und man kann pausenlos abwaschen. Zwei parallele Waschstraßen mit je vier bis fünf HelferInnen sind nötig, um den Durchsatz zu schaffen.
Beim Plenum gibt es die Ankündigung, dass die Bürgermeisterin von Welzow das Camp für ab 15 Uhr verboten hat, wegen der Kraftwerksstürmung gestern. Es macht aber niemand Stress und wir gucken erstmal.
Ich esse viel und rede mit den bunten fröhlichen Menschen, von denen dieser Platz erfüllt ist. Noch bevor ich anfange, aktiv nach einem Pennplatz zu suchen (Karla* ist mit Zelt heute Morgen abgefahren), wird mir schon einer angeboten. Lea* ist bei der BUND-Jugend und hat ein immens großes Zelt (Der Tag ist gerettet.); zumindest für eine Person; aber auch für die drei, die wir dann am Ende sind.
An der Marktplatzwand hängt die Info, dass 14 Uhr Leute nach Leipzig fahren. Ich bekomme von ihnen ne Telefonnummer von André*, der noch auf einer Blockade ist und morgen fährt. André* sagt mir, dass er im Kessel ist und wahrscheinlich bald verhaftet wird. Ich sag dem EA Bescheid, suche seinen Fahrradschlüssel, schließe sein Fahrrad an und hoffe, dass er bald rauskommt.
Die IG BCE, in der die Vattenfall-ArbeiterInnen organisiert sind, schmeißt den Protest gegen uns. An deren Demonstrationen nehmen wohl auch geduldete Nazis teil und von deren Pro-Kohle-Protesten gehen physische Angriffe mit Steinwürfen auf unsere Blockaden aus.
Am Abend, während des Konzerts von The incredible Herrengedeck, schreibt André*, dass er wieder zurück ist. Es gibt Gerüchte wegen eines eventuell bevorstehenden Naziangriffs. Das Konzert wird unterbrochen, damit sich die Bezugsgruppen finden können. Wieder ist alles gut organisiert: Es sind Leute um das Camp herum postiert und in der weiteren Region unterwegs, das Konzert wird fortgesetzt, von gelegentlichen Lagemeldungen unterbrochen. Der Umgang der Orgagruppe mit solchen Situationen wirkt geübt. Seltsam ist, dass dann die Bullen mit einbezogen werden. Sie fahren Patrouille und sperren die Zufahrten zum Camp. Die Bullen. Der Verein, der uns schon seit Stunden hätte räumen sollen, weil das Camp seit 15 Uhr illegal ist. Der nicht aus prinzipiellen, sondern höchstens vielleicht aus taktischen Gründen was dagegen hat, dass das Camp von Nazis zerlegt wird.
Soundtrack zum Tag: The incredible Herrengedeck
Die Küche hat ordentlich zu tun bei den Massen an Leuten hier. Mit so vielen hat niemand gerechnet. Die Essenzeiten sind nicht einzuhalten. Es gibt Essen, wenn es Essen gibt. Ich helfe beim Schnibbeln. Die Kochcrew sind eingeschworene fünfsechs Leute, die alles unter Kontrolle haben, gestresst sind und wenig schlafen. Schnibbeln, Ausgabe und Abwaschen sind massiv outgesourcet. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal so viel Gemüse und so viele schnibbelnde Menschen auf einen Haufen gesehen zu haben. Es gibt Engpässe. Heute Morgen sind wohl Leute mit zu wenig Proviantbrot zu den Blockaden gegangen. Die Organisation läuft professionell hinter den Kulissen.
Am Nachmittag ist die Demo von Welzow nach Proschim. Man kann mit einem der Busse hinfahren, die auch Leute zwischen dem Camp und den Blockaden shuttlen und Freigelassene aus den Gesas ins Camp bringen, oder man schließt sich den Fahrrad- und Laufgruppen an. Ich laufe und bin deshalb an dem Tag sechs Stunden unterwegs. Ich spüre am Ende, wie anstrengend das sein kann. Die Demo ist eher unpolitisch und leise. Sie wird auch von bürgerlichen Kräften getragen. Wir laufen Dorfstraßen entlang, durch den Wald und am Tagebau vorbei. Das ist lustig, weil ungewohnt, aber wohl von geringerem Effekt.
Zurück im Camp treffe ich Robert* aus Potsdam. Wir chillen in der Sonne, essen und tauschen uns über den Tag aus. Karla* ist blockieren gewesen, und wir haben einander viel zu erzählen. Ich freue mich, nach dem Tag bei ihr einzuschlafen. Der Tag ist gerettet.
Soundtrack zum Tag: Mañana me chanto – Arriba en la sierra
Wie schwer das ist, alle Zelte abzubrechen. Ich versuche, meine Erinnerungsstücke irgendwie im Freundeskreis zu verteilen, arrangiere mich mit Menschen, koordiniere den Abschied und will noch gute Übergaben meiner Aufgaben schaffen. Was brauche ich unterwegs? Ich will nichts vergessen. Was brauche ich vor allem nicht? Es ist so schwierig, auszusortieren. Karla* fährt am Mittag. Puh, am Nachmittag bin ich so lala fertig. Ich will jetzt los und fahre mit dem Zug nach Neupetershain, weil ich heute am Lausitzcamp ankommen will, nachdem ich eigentlich schon vorgestern losfahren und gestern ankommen wollte. Die Hausis verabschieden sich wunderschön von mir. Sie stehen vorm Tor und winken mir bei der Abfahrt. Das ist echt.
Ich will nicht mehr zugfahren, wenn es sich vermeiden lässt. Zugfahren ist schlimm, aber in dem Fall die richtige Entscheidung. Es werden immer mehr Proschimreisende, je dichter ich komme. Die ersten schönen Bekanntschaften finde ich schon hier und auf der Fahrradtour von Neupetershain nach Proschim. Der Tag ist gerettet.
Ich finde GenossInnen aus Aachen. Bei denen kann ich auch pennen, aber ich ziehe dann doch zu Karla* um – ich hab Lust auf Kuscheln.
Es gibt Leckres zu essen, ich komm erstmal an, und bin sauzufrieden. Alles voller geiler Menschen. Ich beschließe final, nicht in die Grube zu gehen. Ich habe keine festen Schuhe, will keinen Stress und habe einfach keine Lust.
Soundtrack zum Tag: 17 Hippies – Cube
Potsdam Charlottenhof, Berlin Ostbahnhof, Cottbus, Neupetershain, Proschim
8 km, 30 m