Fußball-Namen
Preußen lebt – die Borussia aus Dortmund beweist es
Disziplin, Zucht, Vaterland? Was trieb vor 100 Jahren zahllose Sportvereine wie die Borussen aus Dortmund oder Mönchengladbach, sich mit dem neulateinischen Namen für Preußen zu schmücken? Von Ulli Kulke
Ruft man beim Fußballbundesligisten Borussia Mönchengladbach an und gerät in die Telefonschleife, so schmettern Dutzende Kehlen in bester Stadionlaune aus dem Hörer: "Es gibt nur eine Borussia ..." Ach, nur eine? Der Fan von Borussia Dortmund, kaum 80 Kilometer entfernt, wird dieser Tage – im triumphalen Bewusstsein der erneuten Meisterschaft seines Klubs und vor dem Endspiel um den Deutschen Pokal – souverän über die Anmaßung hinweghören.
Was aber mögen die Anhänger jenes halben Dutzends von Fußballvereinen dazu sagen, die allein im Raum zwischen Dortmund und Mönchengladbach genau denselben Namenszusatz tragen? Und was die Fans der insgesamt 68 anderen Fußballklubs im ganzen Land, die sich "Borussia" nennen, fünf davon mit Bundesligageschichte? Wohl nur wenige andere Begriffe finden sich so häufig in den Namen deutscher Fußballklubs. Aber warum eigentlich?
Wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Meyers Lexikon das Stichwort nachschlug, konnte dort lesen: "Borussia (neulateinisch), Preußen, Borussomanie, übertriebene Vorliebe für alles Preußische, Preußensucht, Borussophobie, Preußenfurcht". Der Name hatte es also in sich, betraf ein Gemeinwesen, das damals bereits die Gemüter bewegte. Preußen, das Gebilde zwischen Militarismus und Tugendhaftigkeit.
Von der Kirche bekämpft und diffarmiert
Ob die etwa 50 jungen Männer, die am vierten Adventssonntag im Jahr 1909 in der Dortmunder Gaststätte "Zum Wildschütz" zusammenkamen, sich darüber den Kopf zerbrachen? Sie gehörten der Jugendgruppe der Dreifaltigkeitsgemeinde an, einer "Jünglingssodalität", die von Kaplan Hubert Dewald angeführt wurde. Seit Langem war er bemüht, das Fußballspiel, das "rohe und wilde Treiben" auf dem benachbarten Bolzplatz zu unterbinden, das seine Jungen nur verderbe. Jeden Sonntagnachmittag schob er eine Sonderandacht ein, um das Gekicke zu unterbinden.
Jetzt aber wollten die "Sodalen" ihren Fußballverein gründen, den offenen Bruch wagen. Als der Gottesmann hörte, was sich da in der Bierstube zusammenbraute, eilte er hin und verlangte Zutritt, zornesrot. Er wurde ihm verweigert, "handgreiflich", wie es in der Zeitung dann hieß. Die Fußballwilligen vollzogen den Gründungsakt – und wurden von Kaplan Dewald in einer donnernden Predigt am Heiligen Abend aus der Sodalität ausgeschlossen.
Franz Jacobi, Vizepräsident des neuen Vereins, sagte noch am Gründungstag gegenüber der örtlichen Zeitung: "Seit 1902 bin ich Mitglied der Dreifaltigkeits-Jugend, seit 1906 spielen wir Fußball auf der 'Weißen Wiese'. Wir Fußballer werden seit 1906 systematisch von unserer Kirche bekämpft und diffamiert."
Der Blick fiel auf eine Bierwerbung
Hatten die Jünglinge also, verschworen und verbarrikadiert gegen den Gottesmann, an jenem Adventstag ihren neuen Verein mit dem so weltlichen Preußen schmücken wollen, vornehm lateinisch ausgedrückt als "Borussia"? Als Bekenntnis auch zu Disziplin und sportlich-körperlicher Zucht? Es wäre eine schöne Legende, doch es verhielt sich anders, im Falle Dortmunds eher profan.
Als die Vereinsgründer dem Kind einen Namen geben wollten, fiel ihr Blick ganz spontan auf ein altes Schild im Raum, eine Werbung auf Emaille für die Borussia-Brauerei gleich nebenan. Inzwischen firmierte sie zwar längst, seit 1902 schon, unter dem Namen "Hansa-Brauerei", aber das spielte nun keine Rolle. "Ballspielverein Borussia 1909 e.V.", so heißt deshalb seit dem 19. Dezember der Verein, in dessen Chronik diese Anekdote zu lesen ist, "der Überlieferung zufolge".
Jener Adventssonntag fiel in die hohe Zeit der Gründung von Vereinen mit dem Namen "Borussia" oder – in etwas geringerer Zahl – "Preußen". Im 19. Jahrhundert war dies insgesamt nur zweimal geschehen, nunmehr aber fast in jedem Jahr ein, zwei Mal. Viele Muster von Assoziationen ließen sich ausmalen für solche Borussomanie, Preußensucht.
Bekenntnis zum Bismarckreich?
War es etwa eine Hommage an das wichtigste Land im Reich, dessen überlegene Truppen vier Jahrzehnte zuvor die Einigungskriege siegreich führten? War es ein nachträgliches Bekenntnis zur kleindeutschen Lösung bei der Reichsgründung, ohne Österreich, im Gegensatz zur "Germania"? War es die Sehnsucht nach der Stärke Preußens in der aufziehenden Vorkriegszeit? Berief man sich auf die Allegorien, die Statuen und Bildnisse, die das gute alte Preußen als Frau oder als Engel darstellen, wie die Viktoria auf der Berliner Siegessäule, die aufgrund des preußischen Adlers auf ihrem Helm den Zweitnamen Borussia trägt? Handelte es sich bei den Vereinsgründungen gar um latinisierende Bildungshuberei?
Großflächiges Dunkel liegt über den Hintergründen der Namensgebung bei den Fußballvereinen. Bei der zweiten erfolgreichen Borussia, der aus Mönchengladbach, heißt es auf Anfrage, man verfüge über "keine Hinweise darüber, warum man sich so genannt hat". Aus Dortmund, das über das Vereinsmuseum "Borusseum" verfügt, ist lediglich der Blick auf die Bierreklame bekannt. Die eigene Geschichte, abgesehen von den großen sportlichen Erfolgen, gehört ganz offenbar nicht zu den vornehmlichen Interessensgebieten der Fußballklubs.
Immerhin: Bei Borussia Neunkirchen im Saarland, das damals zu Preußen gehörte, weiß man, dass die Vereinsgründer im Jahr 1905, darunter zahlreiche Internatsschüler aus Preußen, sich von den Bavaria-Vereinen in der bayrischen Pfalz gleich nebenan abgrenzen wollten.
Studentenverbindungen als Vorbild
Ein wenig Licht ins Dunkel der Beziehung zwischen dem deutschen Fußball und Borussia, so viel wohl eben möglich ist, bringt allein eine Examensarbeit: "Das Weiterleben Preußens als Fußballvereinsbezeichnung". Florian Wolff, angehender Geschichtslehrer, hat dafür aufwendig recherchiert, hat insgesamt 121 Vereine mit dem Namen Borussia, Preußen oder Prussia ausfindig machen können und an 111 einen ausführlichen Fragebogen verschickt.
"Die meisten Vereine antworteten auch nach fünfmaligem Anschreiben nicht", schreibt Wolff. "Überraschenderweise reagierten vor allem kleine Vereine aus unteren Amateurligen." Obwohl viele Antworten unscharf blieben, so kann der Autor auf seinen 82 Seiten – auch aufgrund weitergehender wissenschaftlicher Studien – doch ein fundiertes Resümee ziehen. So sei beim Namen Borussia der Ursprung der Namenswahl bei "Studenten und Schülern sowie Angehörigen höherer Bildung und Angestellten zu suchen. Die nicht latinisierte Form Preußen dürfte auch für Arbeiter und Personen ohne höhere Bildung attraktiv gewesen sein."
Insgesamt waren unter den Vereinsgründern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland überdurchschnittlich viele Jugendliche aus den höheren Schichten vertreten. Sie orientierten sich "zum Teil an studentischen Verbindungen und übernahmen teilweise deren formale Strukturen, zeremonielle Sitten und pflegten engen Kontakt mit Studentenverbindungen". Auch andere Vereinsnamen latinisierter Allegorien wie etwa Alemannia, Arminia, Bavaria oder Germania dürften so aus der Nähe zu burschenschaftlichen Verbindungen entstanden sein.
Vor allem im Rheinland und in Westfalen
Was die Gründe für die besonders häufig gewählte Namensgebung mit preußischem Bezug angeht, so fielen die Antworten der Vereine an den Examenskandidaten sehr unterschiedlich aus. Hier waren es vornehmlich Söhne preußischer Beamter, die den Verein gründeten, da handelte es sich um eine damalige preußische Garnisonsstadt, und dort war es bei den Fußballern die "enge emotionale Bindung" zum preußischen Kaiser des Deutschen Reiches.
Begründungszusammenhänge allesamt, die eher pragmatisch klingen, als dass sie von tiefschürfendem historischen Anspruch zeugten. "Der 1919 gegründete Verein Borussia Buir gab an, dass 'der Beiname Borussia seinerzeit modern gewesen sein könnte'", zitiert Wolff eine der eingegangenen Antworten. Das mag zutreffen, auch und mancherorts gerade nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und in Zeiten des "Schandfriedens". Im Ganzen gesehen dürfte die Einschätzung allerdings mehr noch für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gelten.
Interessanterweise fanden die meisten Gründungen von "Borussia"-Vereinen zu Kaisers Zeiten im Rheinland und in Westfalen statt, wo die Zugehörigkeit zu Preußen offenbar eine größere Herzensangelegenheit war als im Stammland und in der Mark Brandenburg. Dafür wurden nach 1990 in den neuen Bundesländern zehn neue Vereine mit dem Namen Borussia oder Preußen gegründet. Zehn weitere, die früher so hießen, in der DDR aber einen anderen Namen aufoktroyiert bekommen hatten, erhielten wieder ihren alten Namen.
Nur eine Borussia in Bayern
Im Gebiet des alten Westdeutschlands dagegen bekannten sich seit 1990 nur drei neue Vereine zu Preußen. In den Jahrzehnten zuvor allerdings waren auch dort mehrere Borussias entstanden. Im Fall von Borussia Segeberg gab der Verantwortliche im Fragebogen an, dass seine Frau Anhänger von Borussia Dortmund sei. Bei Borussia Salzgitter spielte bei einer eigens vorgenommenen Umbenennung "die Begeisterung für die Kicker von Borussia Mönchengladbach" eine Rolle, ein Grund sei aber auch gewesen, "dass der vorhergehende Name 'SV Bruchmachtersen/Fredenberg e.V.' den Kontakt gerade mit ortsfremden Sportklubs erschwert hätte".
Preußen als Instrument für einfache Sprache, auch das kann ein Grund sein. Sogar in Bayern gibt es eine "Borussia". In Lichtenfels in Franken, jener Region, in der man sich gern rebellisch gibt gegen die Hauptstadt München und die dortige Bavaria. Grund für die Namensgebung 1956 war indes die zweimalige Meisterschaft Dortmunds Mitte der 50er-Jahre, wie man freimütig einräumt.
21 Vereins-Verantwortliche beantworteten auch die Frage, ob sie den Namen Borussia beziehungsweise Preußen noch "zeitgemäß" fänden. 19 von ihnen bejahten dies. Auch wenn es 1947 von den Alliierten aufgelöst wurde: Preußen lebt also. Jedenfalls im Fußball.
Borussia Dortmund hat zum zweiten Mal nacheinander die Meisterschale erhalten. Um 17.34 Uhr übergab Liga-Präsident Reinhard Rauball die Trophäe an BVB-Kapitän Sebastian Kehl.
- 1. Energiewende Der Sonnenstrom-Weltrekord hat einen hohen Preis
- 2. Mutter des Sklavenmädchens "Sie bekam hier Essen und alles. Es ging ihr gut."
- 3. Wohn-Immobilien Niemand will mein Häuschen haben
- 4. Spanische Sparkassen Festgeld für Rentner – mit Laufzeit bis 2999
- 5. Terrorgefahr In Westafrika entsteht ein neuer Gottesstaat